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Muckibude war einmal: Was die Sachsen im Fitnessstudio suchen

Nach einem Dämpfer in den Corona-Jahren stürmen die Sachsen wieder in die Fitnessstudios. Ein Besuch in Pirna zwischen Marienkäfer und dem Beinstrecker der Hölle.

Von Henry Berndt
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Nach ihrer Hüft-OP will Karin Richter im Fitnessstudio so langsam wieder in die Gänge kommen. Zum Glück wohnt die 84-Jährige fast nebenan.
Nach ihrer Hüft-OP will Karin Richter im Fitnessstudio so langsam wieder in die Gänge kommen. Zum Glück wohnt die 84-Jährige fast nebenan. © SZ/Veit Hengst

Die Erkenntnis war hart, aber wichtig: „Du bist zu fett“, sagte sich Anica, als sie mal wieder mit Chipstüte durch die Wohnung lief und dabei an dem Spiegel im Flur vorbeikam, der immer die Wahrheit sagt. An diesem Tag vor zwei Jahren beschloss die damals 19-Jährige, dass es so nicht weitergehen kann. Sie wohnte damals in Leipzig, wog 118 Kilogramm und wusste kaum etwas mit sich anzufangen. Eine Ausbildung zur Fliesenlegerin war gerade gescheitert.

Zwei Jahre später hat sich Anica halbiert, 60 Kilogramm abgenommen. Statt Pizza isst sie jetzt Salat, fastet 20 Stunden am Tag. Und sie macht Sport. Viel Sport.

An diesem Dienstagmorgen begrüßt sie im Fitnessstudio Clever Fit in Pirna sieben Seniorinnen und Senioren zum Kurs „Bauch und Beine“. Die rüstigen Rentner wissen längst Bescheid, wie das hier läuft. Von den Haken an der Wand holt sich jeder eine rote Matte und sucht sich einen Platz. Zwei Teilnehmerinnen fehlen noch. „Leute!“, ruft Ingrid ungeduldig.

Trainerin Anica wog vor zwei Jahren noch doppelt so viel wie jetzt. So wie sich selbst, striezt sie auch ihre Kunden.
Trainerin Anica wog vor zwei Jahren noch doppelt so viel wie jetzt. So wie sich selbst, striezt sie auch ihre Kunden. © SZ/Veit Hengst

Mit ihren 81 Jahren ist sie die Älteste in der Runde, sieht aber locker 15 Jahre jünger aus. „Sie trainiert besser als viele 20-Jährige“, sagt Anica, schaut noch kurz auf ihren kleinen Spickzettel, und dann geht es auch schon los. „Kommst du runter?“, fragt eine Frau ihre Sitznachbarin. „Runter schon, aber nicht wieder hoch“, antwortet die. Beide müssen lachen.

Die erste Übung namens „doppelter Kreuz-Crunch“ hat es bereits in sich. In Rückenlage werden abwechselnd und entgegengesetzt ein Bein und ein Arm nach oben gereckt. Auf einer digitalen Anzeige über der Spiegelwand laufen währenddessen rote Zahlen im Countdown nach unten. Ein lauter Piepton signalisiert: kurze Pause.

Auch der „Marienkäfer“ im Anschluss zieht voll in den Bauch rein, die Sit-ups sowieso. „So wenig Schwung wie möglich“, fordert Anica. Erste Schnaufer und Stöhner sind zu hören. Die Runde wird mit einem zünftigen Unterarmstütz abgeschlossen, im Fachjargon auch Plank genannt. Es folgen eine zweite und eine dritte Runde. Auch wenn die Sit-ups irgendwann schwerer fallen, beschwert sich niemand. Sie alle wollen es ja so. Sie sind gekommen, um fit zu werden oder fit zu bleiben.

Das Fitnessstudio an der Longuyoner Straße in Pirna hat eine Vergangenheit als Supermarkt.
Das Fitnessstudio an der Longuyoner Straße in Pirna hat eine Vergangenheit als Supermarkt. © SZ/Veit Hengst

Längst haben Fitnessstudio ihr früheres Image als „Muckibuden“ verloren. Inzwischen trimmen sich hier alle Teile der Gesellschaft, vom Schüler bis zur Seniorin. Fast elf Millionen Deutsche sind einer Studie des Arbeitgeberverbands deutscher Fitness- und Gesundheits-Anlagen (DSSV) Mitglied in einem Fitnessstudio (Stand Juni 2023). Im Jahr 2019 waren es sogar schon mal einige mehr, aber dann kam Corona und versetzte dem Fitnessboom einen gehörigen Dämpfer. Die Zahlen brachen ein, steigen seit dem Ende der Pandemie jedoch wieder stark an.

Während kleine Studios verschwanden, gingen die großen Ketten wie McFit, FitX und Clever Fit als Gewinner aus der Krise hervor. Im Jahr 2022 erwirtschaftete die Fitnessbranche in Deutschland fast fünf Milliarden Euro Umsatz – eine Milliarde mehr als zehn Jahre zuvor.

Das wachsende Bewusstsein für Gesundheit und Fitness treibt die Menschen in Scharen in die Studios. Experten sprechen bereits von einem Bewusstseinswandel, einer Renaissance der Leibesübungen.

Im Clever-Fit-Studio in Pirna trainieren an diesem Morgen etwa zwei Dutzend Mitglieder. Der erste Schwung an guten Jahresvorsätzen aus dem Januar und Februar ist vorüber. Dennoch können es nachmittags und abends schnell mal über 50 Sportler gleichzeitig werden.

500 Filialen in Deutschland und halb Europa

Die Seniorengruppe dehnt gerade brav ihre Körper, um sich bei ihnen für die vorangegangenen Strapazen zu bedanken. Auch Anica sieht zufrieden aus. Die 21-Jährige arbeitet jetzt 30 Stunden in der Woche als Trainerin, hat in den vergangenen Monaten die nötigen Lizenzen gemacht. „Erst dachte ich, ich könnte nur mit einem Minijob einsteigen, aber Dennis hat mir von Anfang an vertraut“, sagt sie.

Dennis Conrad ist der Chef hier. Er hat das Fitnessstudio, das früher mal als Supermarkt zwischen Kuhweiden und Plattenbauten am Rande von Pirna errichtet wurde, 2018 übernommen. Damals war er gerade 22 und der jüngste Lizenznehmer von Clever Fit, einer Kette mit derzeit rund 500 Filialen in Deutschland und halb Europa. Nach dem Corona-Loch konnte er seine Mitgliederzahl in Pirna innerhalb kurzer Zeit mehr als verdoppeln.

Allerdings sie das kein Selbstläufer gewesen, wie er betont. „Jeden Euro, den ich verdiene, stecke ich hier rein“, sagt der inzwischen 29-Jährige ausgebildete Sport- und Fitnesskaufmann. Knapp 100 Fitnessgeräte stehen seinen Kunden auf rund 1.000 Quadratmetern Studiofläche zur Verfügung. Gerade erst sind 15 neue angeliefert worden. Genutzt werden können sie an sieben Tagen der Woche 24 Stunden lang. Preislich gehört Clever Fit nicht mehr zu den Discountern, eher zur Mittelklasse. Im Jahresabo kosten zwei Wochen bei Dennis 19,95 Euro. Es gibt auch Tageskarten für 12,50 Euro. Bei den Pauschalen ist dann alles dabei: Trainingsplan, 20 Minuten Solarium am Tag, Getränkeflatrate und seit neuestem auch die Duschen.

Im vergangenen Jahr hat Dennis die Fassade komplett erneuert lassen. Im Foyer liegen Paneele für eine Solaranlage bereit, die in diesem Jahr noch installiert werden soll, genauso wie die Klimaanlage. Im Sommer kann es hier drin sonst ganz schön warm werden.

Ein Scan des Armbands reicht, und die Geräte im E-Gym-Bereich passen sich automatisch dem Nutzer an.
Ein Scan des Armbands reicht, und die Geräte im E-Gym-Bereich passen sich automatisch dem Nutzer an. © SZ/Veit Hengst

Jetzt, Anfang März, herrscht dagegen ein prima Klima. Nicht nur in der Luft, auch zwischenmenschlich. Abgesehen vom Bauch-Kurs macht hier jeder sein Ding, und doch sind irgendwie alle in der Lust verbunden, sich zu bewegen und ihre Muskeln in Schwung zu bringen. Der stark tätowierte Brustpresser, die Damen auf den Ergometern und der Mann, der seit mindestens einer Dreiviertelstunde tapfer eine Treppe nach oben steigt. „Eine Stunde Stairmaster auf Stufe 5 verbrennt 1.108 Kalorien“, weiß Anica.

„Die Gesellschaft hat höhere Ansprüche an Fitnessangebote und wir passen uns der Nachfrage an“, sagt Dennis. Der Schüler wolle immer noch seinen Bizeps aufpumpen, daran habe sich nichts geändert. In der Männerumkleide hängt Arnold Schwarzenegger an der Wand. Gleichzeitig wollen aber auch Senioren ihre Rückenschmerzen loswerden und Handwerker ihre muskulären Disbalancen mit gezieltem Krafttraining in den Griff bekommen. „Dafür braucht es Flexibilität und mehr Bildung der Trainer“, sagt Dennis. „Reha, Abnehmen und Muskelaufbau, das geht heute alles an einer Maschine. Diese Möglichkeiten gab es vor 20 Jahren einfach noch nicht, und ich bin lieber Vorreiter und mache dabei vielleicht ein paar Fehler.“

Offensichtlich geht der Trend weg von Hantelstangen und klackernden Gewichten, hin zum „E-Gym“, einer Sammlung von Hightech-Fitnessgeräten, denen nur ein Armband präsentiert werden muss, damit sie wissen, wen sie vor sich haben. Mit einem leisen Surren passt sich das Gerät automatisch der Größe des Nutzers an und merkt sich, welche Belastung er meistern kann und wofür er überhaupt trainiert. Vor der ersten Einheit im E-Gym-Bereich sind lediglich einige Messungen nötig.

Fitnessstudio: „Ich liebe es, die Leute zu striezen"

Innerhalb weniger Sekunden stehen Größe, Gewicht, Körperfettanteil, Wasserhaushalt und Muskelstruktur fest. Daraus wird das biologische Alter ermittelt, ein gnadenloses Urteil, das allein schon als Motivationsspritze dienen kann. Er dürfte niemanden überraschen, wenn der Computer auch die Lieblingsmusik erraten und das Sterbedatum vorausberechnen könnte.

„Onboarding“ heißt dieser Anmeldeprozess heutzutage. Von jetzt an übernehmen die Geräte das Training von ganz allein, also mal abgesehen von der Anstrengung selbst. Im adaptiven Modus reagiert das Gerät sogar darauf, wenn dir die Kraft ausgeht und verringert für den Moment die Belastung, nur um sie wenig später wieder hochzufahren.

Wer beispielsweise den „Beinstrecker der Hölle“ nutzen möchte, wie Anica ihn liebevoll nennt, der sieht auf dem Bildschirm vor sich eine Reihe von gelben Punkten in unterschiedlicher Höhe. Wie bei einem Computerspiel müssen die Punkte durch Bewegungen im richtigen Rhythmus abgeräumt werden. Das macht erst Spaß, lässt dann aber auch rasch die Oberschenkel brennen. „Los, da geht noch was!“, ruft Anica. „Ich liebe es, die Leute zu striezen, damit sie das Maximum aus sich rausholen können.“

Thomas war mal aktiver Bodybuilder. Nach einer verlängerten Corona-Pause will er jetzt wieder angreifen.
Thomas war mal aktiver Bodybuilder. Nach einer verlängerten Corona-Pause will er jetzt wieder angreifen. © SZ/Veit Hengst

Unterdessen füllt sich Thomas gerade seine Zwei-Liter-Flasche an der Getränkebar auf. Als Geschmacksrichtung wählt er Multivitamin. Zur Auswahl hätten auch Apfel-Kirsch und Grapefruit gestanden. „Anfangs wurden dieses E-Gym ja noch belächelt“, sagt der Mann mit dem kahlen Kopf und den gestählten Oberarmen, „aber man muss sagen, das hat sich durchgesetzt.“

Thomas war früher mal in der Bodybuilding-Szene aktiv und fängt gerade erst wieder an. An seiner Seite hat der 41-Jährige seine 29-jährige Frau Jenny. Die Kinder sind im Kindergarten und in der Schule. Mindestens vier Stunden wollen die beiden heute bleiben, alles mal ausprobieren und sich gegenseitig pushen. Ganz nebenbei bleibt Jenny auch Zeit, um sich entspannt mit dem Handy in der Hand auf dem Laufband den angestrebten 10.000 Schritten zu nähern. „Unser Plan ist, dass die Frau dreimal in der Woche herkommt und ich fünfmal“, sagt Thomas. „Das Preis-Leistungs-Verhältnis ist hier einfach unschlagbar.“

Im Snackautomaten gibt es Marken mit Zusatzenergie.
Im Snackautomaten gibt es Marken mit Zusatzenergie. © SZ/Veit Hengst

Vielleicht überzeugt das ja auch Michael, den selbstständigen Metallbauer mit den Tunnelohrringen. Der 37-Jährige ist zwischen zwei Kundenterminen zum Probetraining vorbeigekommen. „Nachher werde ich online den Vertrag unterschreiben“, verspricht er Anica. Er habe jetzt fünf Jahre lang fast nichts gemacht, also bis auf die obligatorischen 100 Liegestütze am Tag. „Es wird Zeit, dass wieder mal was geht.“

Dasselbe denkt sich Karin, die gleich nebenan wohnt und etwas unrund läuft. Die 84-Jährige erholt sich noch von einer Hüft-OP. Ein Jahr lang ist sie an Krücken gegangen und jetzt mitten in der Reha. „Ich muss was machen und bin nicht zum Spaß hier“, sagt sie, während sie 33 Kilogramm Gewicht an der Beinpresse einstellt und damit gerade so zurechtkommt. „Ich will wenigstens das erhalten, was ich habe. Muckis brauche ich keine mehr.“