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Neuer AfD-Bürgermeister in Großschirma - die Blaupause für Sachsen?

Der neue Bürgermeister von Großschirma gehört zur AfD. Für die meisten Einwohner der Kleinstadt ist das okay. Und es könnte erst der Anfang sein.

Von Henry Berndt
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„Wir sind Bürgermeister“: AfD-Mann Rolf Weigand wurde am Sonntag mit großer Mehrheit zum neuen Stadtoberhaupt von Großschirma gewählt.
„Wir sind Bürgermeister“: AfD-Mann Rolf Weigand wurde am Sonntag mit großer Mehrheit zum neuen Stadtoberhaupt von Großschirma gewählt. © SZ/Henry Berndt

Ein Pfarrer im Kapuzenpulli und mit kurzer Sporthose ist ein ungewohnter Anblick. Justus Geilhufe ist an diesem Vormittag noch nicht mal zum Duschen und Umziehen gekommen, so oft ist seine Meinung in Interviews gefragt. Schon fährt das nächste Fernsehteam auf dem Pfarrhof vor, und wahrscheinlich wird er gleich wieder diese eine Frage beantworten müssen: „Wie schockiert sind Sie?“

Großschirma nahe Freiberg ist seit Sonntag der zweite Ort in Sachsen mit einem AfD-Bürgermeister. Im Unterschied zu Tim Lochner, der kürzlich sein Amt als neuer Oberbürgermeister von Pirna antrat, ist Rolf Weigand in Großschirma nicht nur für die AfD angetreten, sondern auch Mitglied und bislang Landtagsabgeordneter der Partei, die in Sachsen vom Verfassungsschutz als „gesichert rechtsextremistisch“ eingestuft wird.

Knapp fiel die Wahl am Sonntag nicht aus. Weigand erhielt bereits im ersten Wahlgang 60 Prozent der Stimmen – bei einer Wahlbeteiligung von fast 74 Prozent. Seine Kontrahenten André Erler von der unabhängigen Bürgerbewegung (22 Prozent) und Landwirt Gunther Zschommler (18 Prozent), der für die CDU antrat, konnten nur hinterherschauen.

Die Bürgermeisterkandidaten André Erler, Gunther Zschommler und Rolf Weigand (v.l.) bei einem von der Freien Presse organisierten Wahlforum in Großschirma.
Die Bürgermeisterkandidaten André Erler, Gunther Zschommler und Rolf Weigand (v.l.) bei einem von der Freien Presse organisierten Wahlforum in Großschirma. © Eckardt Mildner

Großschirma mit seinen reichlich 5.000 Einwohnern besteht aus zehn Ortsteilen, zu denen seit einer Fusion 2003 auch Siebenlehn samt Möbel-Mahler gehört. So etwas wie ein Zentrum gibt es nicht, nur etliche lange Straßenzüge. Nahe der Hauptstraße mit dem Rathaus stehen viele schick sanierte Häuschen mit grünen Vorgärten und Trampolins. Hähne krähen, und es riecht nach Gülle.

Wer meinte, dass die Wahl eines AfD-Bürgermeisters zu heller Aufregung im Ort führen müsste, der dürfte sich hier am Montag einigermaßen ungläubig umgeschaut haben. Die Straßen sind leer an diesem Vormittag. Die Gemeindeverwaltung hat montags geschlossen, genauso wie der Bäcker und der Fleischer. Warum sollte man da vor die Tür gehen?

Wähler: Auf dem Dorf spielt die Partei keine Rolle

Harald Gabriel hat es sich mit der Zeitung auf einem Stuhl vor seiner Haustür gemütlich gemacht und genießt die Sonne. Bis vergangenes Jahr war der 94-Jährige noch als Schneidermeister aktiv. Durchs Fenster sieht man noch seine Schneiderstube, die jetzt sein kleines privates Museum ist. Gabriel hat am Sonntag AfD gewählt. Er sagt: „Ich kenne den Weigand vom Stammtisch. Das ist ein guter Kerl.“ Was spiele es denn hier auf dem Dorf für eine Rolle, in welcher Partei jemand ist, fragt er. „Er hätte 80 Prozent bekommen, wenn die Medien nicht vorher so gegen die AfD gehetzt hätten. Uns geht’s gut hier im Ort. Wir sollten nicht immer so viel schimpfen.“

"Nicht so viel schimpfen": Der 94-jährige Harald Gabriel hat AfD-Mann Weigand seine Stimme gegeben.
"Nicht so viel schimpfen": Der 94-jährige Harald Gabriel hat AfD-Mann Weigand seine Stimme gegeben. © SZ/Henry Berndt

Geschimpft hat die AfD allerdings selbst reichlich, unter anderem auch über die Politik des langjährigen Großschirmaer Bürgermeisters Volkmar Schreiter. Wie die Freie Presse berichtete, wurden zwischen 2019 und 2023 acht Dienstaufsichtsbeschwerden gegen Schreiter eingereicht, sechs davon stammten von Weigand. Auf Facebook habe er Schreiter ein „bockiges Kleinkind“ genannt. Er sei als Bürgermeister überfordert und schade dem Amt.

19 Jahre stand Schreiter an der Spitze des Ortes, bevor er sich im vergangenen Herbst das Leben nahm. Er habe an schweren Depressionen gelitten, hieß es. Die vorgezogene Neuwahl gewann nun der Mann, dessen Sieg Schreiter mit seiner neuerlichen Kandidatur 2018 noch verhindern wollte – und konnte.

Der Ortspfarrer Justus Geilhufe fand nach Schreiters Tod in seiner Predigt die deutlichsten Worte. „Wie soll das Leben gehen, wenn der andere kein Streitpartner mehr ist, sondern einer, der am Ende weg muss, weil er der Macht des anderen im Weg steht? Es ist nicht dieser Tod, der unser Zusammenleben erschüttert. Dieser Tod ist das Ergebnis dessen, dass unser Zusammenleben lange schon erschüttert ist.“ Dabei bezog sich der Pfarrer auf das politische Klima im Ort, auf die immer neuen Versuche der AfD, den Bürgermeister in Misskredit zu bringen.

Der langjährige Bürgermeister Volkmar Schreiter nahm sich im Herbst 2023 das Leben.
Der langjährige Bürgermeister Volkmar Schreiter nahm sich im Herbst 2023 das Leben. © Eckardt Mildner

Nun, vier Monate nach Schreiters Tod und einen Tag nach Weigands Wahl, soll Geilhufe in Interviews sagen, warum er so schockiert ist. Doch das ist er gar nicht. „Wen sollte dieses Ergebnis überraschen?“, fragt der 33-Jährige stattdessen. „Es wäre doch wahnsinnig peinlich gewesen, wenn du als Landtagsvertreter der AfD keinen 5.000-Einwohner-Ort gewinnst.“

Dreiviertel der Wahlbeteiligten gaben ihre Stimme ab, davon weit über die Hälfte an Weigand. Der 39-Jährige ist seit der Gründung 2013 AfD-Mitglied, führte zeitweilig auch die Junge Alternative in Sachsen, die Jugendorganisation der AfD.

Weigand ist Hühnerstallverwalter für Zwerg-Sachsenhühner

Der promovierte Diplomingenieur für Keramik, Glas und Baustoffe ist verheiratet und hat drei Kinder. Er bezeichnet sich selbst als „Landei“ und führt unter Hobbys Obst- und Gemüseanbau sowie Hühnerzucht an. Ganz konkret sei er Hühnerstallverwalter für Thüringer Barthühner und Zwerg-Sachsenhühner.

Nach seiner Wahl jubilierte er auf Facebook: "Wir sind Bürgermeister." Auf seiner Internetseite posiert er mit hochgekrempelten Ärmeln vor dem Rathaus und verspricht, die Stadt moderner, familiärer, sicherer, heimatverbundener und dynamischer zu machen. Sogar Wunschzettel seiner Bürger will er entgegennehmen, allerdings nicht gerade jetzt. „Es gibt keine freien Terminzeiten“, ist dort zu lesen.

Im Rathaus von Großschirma ist Montag Ruhetag.
Im Rathaus von Großschirma ist Montag Ruhetag. © SZ/Henry Berndt

In einem offiziellen Statement nach dem Wahlerfolg ließ Weigand mitteilen: „Ich versichere auch denen, die mich nicht gewählt haben, dass ich mein Amt wie angekündigt überparteilich ausüben werde. Die Belange von Großschirma mit all seinen Stadtteilen haben für meine künftige Arbeit oberste Priorität.“

Fleißig zeigte er sich zuletzt auch im Sächsischen Landtag. 1.188 Kleine Anfragen hat Weigand in dieser Legislaturperiode bereits an die Regierung gestellt – die meisten aller Landtagsabgeordneten. Unter anderem forderte er eine Auflistung aller Frauen im gebärfähigen Alter nach Nationalitäten und Staatsangehörigkeit.

Vor der Bürgermeisterwahl öffnete Weigand sein Portemonnaie und gab die Diätenerhöhung in Form von Gutscheinen an Firmen und Vereine in Großschirma weiter. Die Menschen im Ort würden ihn als Heilsbringer ansehen, der alles zum Guten verändern werde, glaubt Geilhufe.

Der Großschirmaer Pfarrer Justus Geilhufe.
Der Großschirmaer Pfarrer Justus Geilhufe. © SZ/Veit Hengst

Dabei sei in Großschirma gar nicht so vieles schlecht. Es gibt einen Arzt, eine Apotheke, zwei Schulen, einen Kindergarten und ein Schwimmbad. „Aber das hat bei der Wahl gar keine Rolle gespielt“, sagt der Pfarrer. „Der Erfolg der AfD fußt auf einer politischen Großwetterlage.“

Deswegen brauche man sich auch gar keine Mühe zu geben, die Gründe für den Wahlsieg hier vor Ort zu suchen. „Die Stärke der AfD ist die Schwäche von allem anderen“, sagt der Pfarrer. Dort, wo es links davon keine gefestigten politischen Strukturen mehr gibt, geschehe genau das, was am Sonntag geschehen sei. „Der Ort Großschirma ist völlig austauschbar und die Blaupause dafür, was noch kommen wird.“

Auf dem Edeka-Parkplatz im Ortsteil Großvoigtsberg sagen einige Kunden bereitwillig ihre Meinung, während andere beim Stichwort „Wahlergebnis“ wortlos weitergehen. „Das ist ein freundlicher Mann. Ich freue mich, dass er gewonnen hat“, frohlockt eine ältere Frau mit lila-grauer Kurzhaarfrisur. Wodurch er im Vergleich zu den anderen Kandidaten überzeugt hat? „Die anderen sind mir ehrlich gesagt unbekannt.“ Drinnen an der Fleischtheke meint die Bedienung, die Wahl sei schon ein großes Thema an diesem Montag. „Wir haben das Ergebnis aber so erwartet. Also erhofft.“

Anmerkung der Redaktion: Aufgrund der hohen Nachahmerquote berichten wir in der Regel nicht über das Thema Suizid, außer es erfährt durch die Umstände besondere Aufmerksamkeit. Wenn Sie selbst unter Stimmungsschwankungen, Depressionen oder Selbstmordgedanken leiden oder Sie jemanden kennen, der daran leidet, können Sie sich bei der Telefonseelsorge helfen lassen. Sie erreichen sie telefonisch unter 0800 1110111 und 0800 1110222 oder im Internet auf www.telefonseelsorge.de. Die Beratung ist anonym und kostenfrei, Anrufe werden nicht auf der Telefonrechnung vermerkt.

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