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Vom Musterknaben zum Sorgenkind? Reden wir über Sachsen!

Proteste, Ausschreitungen, "Diktatur"-Rufe: Sachsens Ruf ist angeschlagen. Das sagen Ministerin Köpping, Gunther Emmerlich und Politologe Hans Vorländer dazu.

Von Oliver Reinhard
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Zu Gast im Podcast "Debatte in Sachsen": Sänger Gunther Emmerlich, Sachsens Sozialministerin Petra Köpping und Politikwissenschaftler Hans Vorländer.
Zu Gast im Podcast "Debatte in Sachsen": Sänger Gunther Emmerlich, Sachsens Sozialministerin Petra Köpping und Politikwissenschaftler Hans Vorländer. © [M] Jürgen Loesel/Matthias Rietschel/Robert Michae

Dresden. Sachsen gilt in Teilen der öffentlichen Meinung als Problemfall. Warum ist die gesellschaftliche Stimmung gerade im Freistaat seit Jahren so angespannt? Die Ursachen für die zunehmende Radikalisierung vieler Menschen liegen in Verwerfungen der Nachwendezeit, sozialer Ungleichheit und dem Gefühl der Fremdbestimmung. Aber es gibt auch "typisch sächsische" Gründe. Zu diesem Schluss kommen Ministerin Petra Köpping, Sänger Gunther Emmerlich und der Politologe Hans Vorländer im Podcast "Debatte in Sachsen" bei Sächsische.de

Je stolzer der Mensch, desto schneller ist er gekränkt

Sachsen sei schon immer in der Selbstwahrnehmung etwas ganz Besonderes gewesen, glaubt Vorländer. "Typisch sächsisch" sei zum Beispiel der gekränkte Stolz vieler Menschen zwischen Hoyerswerda und Zwickau. Das Gefühl des Stolzes habe "historisch wegen der Kultur, der Kunst, aber auch wegen der Ingenieursleistungen natürlich seine Berechtigung", so der Politologe der TU Dresden. "Auf der einen Seite anderen Seite will man das der ganzen Welt zeigen. Auf der anderen Seite beklagen viele Menschen aber auch, dass dies von außen nicht richtig gewürdigt werde." Da verfielen einige schnell in eine "Opfer-Mentalität". Und wenn es Probleme gebe, seien "immer andere Schuld", glaubt Vorländer.

DDR-Vergleiche sind "unanständig"

Dass manche Menschen in ihrer Unzufriedenheit zu DDR-Vergleichen greifen und den Ministerpräsidenten als Despoten bezeichnen, findet Gunther Emmerlich "unanständig". "Wenn ich zu DDR-Zeiten der Meinung war, dass die da oben an allem schuld sind, dann hatte man in einer echten Diktatur natürlich recht". Aber wer das eins zu eins übernehme und auf die Demokratie übertrage, "macht einen grundsätzlichen Fehler", so der Dresdner Sänger. "Ich habe dafür absolut kein Verständnis."

Dass die Unzufriedenheit mancher Menschen im Freistaat über Jahre hinweg zu solchen politischen Radikalisierungen geführt habe, liege auch daran, dass es immer noch keine gleichwertigen Lebensverhältnisse gebe, glaubt Petra Köpping. Aber es sei ebenso das Ergebnis vieler Versäumnisse und Ausblendungen durch die Landespolitik seit 1990. "Das Thema Rechtsextremismus und extremistische Parteien ist zu lange nicht ernst genommen worden", so die Ministerin.

Wenn Bürgermeister Gesetze nicht mehr umsetzen wollen

Ein Problem sieht Köpping zugleich auf der kommunalpolitischen Ebene. Es gebe "immer mehr Bürgermeister und Bürgermeister, die parteilos sind und sich nicht mehr als Politiker fühlen, sondern eher als Verwaltungschef". Man freue sich darüber, dass Schulen gebaut, die Kitas ausgestattet, die Gehwege gemacht, die Straßen in Ordnung seien. "Aber es wird eben nicht gesprochen darüber, warum die Leute im Dorf nicht mehr miteinander reden", glaubt die Ministerin. Köpping teilt die Meinung von Hans Vorländer, dass angesichts der Weigerungen einiger Bürgermeister und eines Vize-Landrats, einzelne Beschlüsse der von der Landesregierung verabschiedeten Corona-Maßnahmen nicht umzusetzen, gewisse Regionen von Sachsen faktisch "unregierbar" seien.

"Wenn ein staatlicher Bediensteter sagt, er wird Gesetze nicht vollziehen, dann ist das eine Handlung, die nicht mehr auf unseren demokratischen Grundlagen basiert", stellt die Ministerin klar. "Wir haben tolle Bürgermeister. Ich will das nicht verallgemeinern, das ist mir ganz wichtig." Aber es gebe auch solche, "die es jedem recht machen möchten und deswegen auf extremistische Auswüchse nicht reagieren".

Mehrheit der Sächsinnen und Sachsen ist nicht radikal

Köpping war vor einigen Wochen von einem Fackelzug radikaler Bürger vor ihrem Privathaus terrorisiert worden. Ein weiterer Aufmarsch, zu dem ein Landtagsabgeordneter dorthin aufgerufen hatte, konnte von der Polizei verhindert werden. "Aber ich habe danach enormen Beistand bekommen von vielen Sächsinnen und Sachsen", sagt die Ministerin. "Das hat mit wieder einmal gezeigt, dass die Radikalen bei uns eine Minderheit sind." Überhaupt seien jene Sächsinnen und Sachsen, die zu der demokratischen Zivilgesellschaft stehen, bei weitem in der Mehrheit.

Falsche Darstellung der Wirklichkeit in Medien

Dass die sächsische Mehrheit in der Öffentlichkeit nicht genug dargestellt werde, läge auch an der medialen Berichterstattung, glaubt Gunther Emmerlich. Das sei schon 2016 bei den Feierlichkeiten am Tag der Deutschen Einheit vor der Frauenkirche so gewesen. "Da standen vielleicht 250 Leute herum, die ,Volksverräter' gerufen haben. Medial wurde aber von diesen 250 Leuten mehr berichtet als über all die anderen, die diesen Tag in Dresden mitgefeiert haben. Das ist unangemessen. Das ist die falsche Darstellung von Wirklichkeit."

Außer mit Extremisten, darin sind sich Ministerin Köpping, Gunther Emmerlich und Hans Vorländer einig, müsse man mit allen Menschen im Dialog bleiben und auf die starken zivilen Kräfte der Gesellschaft aufbauen. "Wir müssen es immer wieder klar sagen: Es gibt nicht nur Schwarz und Weiß, weder in der Politik noch in der Bürgerschaft", sagt Petra Köpping. "Und wir müssen weiter miteinander reden, einander zuhören und auch andere Meinungen aushalten, anstatt Menschen sofort in irgendwelche Ecken zu stellen."

Außerdem Schwerpunkte der Diskussion:

  • Warum Sachsen "anders" ist als der Rest von Ostdeutschland
  • Warum es auch in wohlhabenden Regionen Frust und Radikalität gibt
  • Warum die Begründung "Der Westen ist schuld" nicht mehr zieht

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