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Staatsbetriebe hinken bei der Tarifbindung hinterher

Sachsens Landesregierung verspricht Besserung. Andere Bundesländer sind bei dem Thema verbindlicher – und deutlich weiter.

Von Michael Rothe
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Seit 1972 wirbt das Doppel-M auf dem Wintergartenhochhaus am Hauptbahnhof für die Leipziger Messe. In Sachen Tarifvertrag ist das hälftig der Stadt und dem Land gehörende Unternehmen kein Musterschüler.
Seit 1972 wirbt das Doppel-M auf dem Wintergartenhochhaus am Hauptbahnhof für die Leipziger Messe. In Sachen Tarifvertrag ist das hälftig der Stadt und dem Land gehörende Unternehmen kein Musterschüler. © Waltraud Grubitzsch/dpa

Sachsen will ein Land „guter Arbeit“ werden. Das war im Dezember die klare Ansage im Regierungsprogramm. CDU, SPD und Bündnisgrüne wollen weg vom lange gepflegten Image des Billiglohnlandes, das Investoren locken sollte. Der Koalitionsvertrag verspricht neben einem Vergabegesetz mit Mindestlöhnen für öffentliche Aufträge und einer Bundesratsinitiative zum Schutz von Betriebsratsgründungen auch, die Tarifpartnerschaft zu stärken.

In Sachsen sind nur 15 Prozent der Firmen tarifgebunden. Damit ist der Freistaat nach einer Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung in Deutschland Schlusslicht. Nur 39 Prozent der Beschäftigten profitieren von Tarifverträgen – Tendenz fallend. Die Mehrheit verdiente im Schnitt 15 Prozent weniger, arbeitete pro Woche aber 28 Minuten länger als die Belegschaft von Tarifbetrieben. Auch seien die Löhne im Freistaat um fünf Prozent niedriger als sonst im Osten.

Das Phänomen der Tarifflucht gibt es bundesweit. Mittlerweile fordert der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB), die Vergabe öffentlicher Aufträge an eine Tarifbindung zu koppeln und plädiert für ein Bundestariftreuegesetz. Immerhin gehe es um 400 bis 450 Milliarden Euro, die Bund, Länder und Kommunen jährlich für Waren und Dienstleistungen ausgeben. „Der Staat, der Aufträge an nicht tariftreue Betriebe vergibt, macht sich zum Komplizen beim Lohndumping“, sagt DGB-Vorstand Stefan Körzell. „Wer sonntags von der Notwendigkeit gleichwertiger Lebensverhältnisse predigt, sollte sich auch anderentags dafür einsetzen“, argumentiert der Gewerkschafter.

Neun von 14 Unternehmen tariflos

„Der Freistaat muss mit gutem Beispiel vorangehen“, heißt es im Koalitionsvertrag der sächsischen Regierungt und: „Bei Unternehmen mit einer mindestens 50-prozentigen Beteiligung des Landes wird eine Tarifbindung vorgeschrieben.“ Das wäre laut Beteiligungsbericht die Vorgabe für 18 der 29 unmittelbaren Landesbeteiligungen – darunter Flug- und Binnenhäfen, Landesbühnen, Aufbaubank und Wirtschaftsförderung. Tatsächlich sind selbst neun der 14 Unternehmen, wo der Freistaat alleiniger Gesellschafter ist, tariflos. Und bei den 46 mittelbaren Beteiligungen über Landestöchter sieht es nicht viel besser aus.

„Die Beteiligungsaktivitäten des Freistaates Sachsen dienen der Förderung des Gemeinwohls“, steht im Beteiligungsbericht 2019. Sachsens Flug- und Binnenhäfen stärkten die Leistungsfähigkeit der Verkehrsinfrastruktur, die Berater der sächsischen Wirtschaftsförderung würden Unternehmen helfen, Märkte zu erschließen, ebenso die Messe in Leipzig. Andere Gesellschaften widmeten sich dem Erhalt und der Vermittlung des kulturellen Erbes.

In Firmen mit unmittelbarer Landesbeteiligung arbeiten rund 11.400 Menschen. Zu den namhaften Adressen mit Handlungsbedarf bei der Tarifbindung gehören die Sächsischen Staatsbäder und die Leipziger Messe mit vier ihrer fünf Unternehmen. Beim Messekonzern mit fast 100 Millionen Euro Jahresumsatz gilt nur für die Cateringtocher Fairgourmet ein entsprechender Vertrag.

Dulig relativiert seinen Einfluss

Der Konzern habe „gute und faire Bedingungen“ für seine 427 Beschäftigten, argumentiert Messechef Markus Geisenberger. „Dies zeigt sich aktuell daran, wie wir die Kurzarbeit oder das mobile Arbeiten gemeinsam mit dem Betriebsrat ausgestaltet haben.“ Gleichwohl gebe es Gespräche, die sich durch Corona verzögert hätten.

„Unser Ziel ,Gute Arbeit für Sachsen‘ ist im Koalitionsvertrag verankert, und dort, wo wir direkten Einfluss nehmen können, tun wir das“, erklärt Sachsens Wirtschaftsminister Martin Dulig (SPD) auf SZ-Anfrage. Dafür werde er sich „auch weiterhin im Kabinett einsetzen und versuchen, den Koalitionspartner von der Notwendigkeit von Tarifverträgen auch und gerade bei Staatsbetrieben zu überzeugen“.

Der das verspricht, ist im Aufsichtsrat der tariflosen Sächsischen Energieagentur Saena stellvertretender Vorsitzender und bei der Leipziger Messe – im Wechsel mit Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung (SPD) – sogar Chef des Kontrollgremiums. Doch Dulig relativiert seinen Einfluss: „Allerdings ist nicht das Wirtschafts-, sondern das Finanzministerium für die Beteiligungsunternehmen des Freistaates und deren finanzielle Ausstattung zuständig“, sagt er. Auch jene Adresse delegiert weiter: „Der Abschluss von Tarifverträgen bei den Unternehmen des privaten Rechts, an denen der Freistaat Sachsen beteiligt ist, fällt in den Verantwortungsbereich der Unternehmensleitungen und der Mitarbeiter des jeweiligen Unternehmens und ist Teil der Tarifautonomie“, sagt Sprecherin Sandra Jäschke. Die Staatsregierung werde die Aufträge aus dem Koalitionsvertrag in der laufenden Legislatur umsetzen – bis 2024. Konkrete Angaben zur Umsetzung „können derzeit noch nicht gemacht werden“.

Tarifbindung hat höheren Stellenwert in anderen Ländern

Andere Bundesländer haben nicht nur eine höhere Tarifbindung als der Freistaat, wie eine SZ-Umfrage unter den 16 Finanzministerien belegt. Dort genießt das Thema generell einen höheren Stellenwert. So sind von 14 Mehrheitsbeteiligungen Hessens zwölf tarifgebunden oder wenden den Landestarif an. Von acht Mehrheitsbeteiligungen Brandenburgs ist nur eine mit wenigen Mitarbeitern tariflos. Ähnliches – acht von neun – gilt für Firmen, die komplett in Besitz von Rheinland-Pfalz sind. Elf von 17 sind es in Niedersachsen.

„Die landesbeteiligten Unternehmen sind im Wesentlichen entweder an einen Flächentarifvertrag gebunden oder vergüten in Anlehnung“, antwortet Sachsen-Anhalt mit fünf Abweichlern von 22. Bremen stellt sicher, dass seine Beteiligungen „mindestens den Mindestlohn“ von derzeit 11,13 Euro je Zeitstunde zahlen. Im Saarland mit 42 Beteiligungen, fünf davon zu 100 Prozent, „besteht eine grundsätzliche Tarifbindunng durch Haus- und Verbandstarifverträge“. In Hamburg sind nur sechs von 54 Unternehmen mit direkter Landesbeteiligung tarifvertraglich blank.

„Selbstverständlich steht die Landesregierung fest zur tariflich entlohnten Arbeit und zur Tariftreue“, bekundet das Finanzministerium von Baden-Württemberg. „Der Freistaat Bayern setzt sich stets für eine faire Vergütung der Mitarbeiter seiner Beteiligungsunternehmen ein“, heißt es aus München. Die allermeisten 100-Prozent-Beteiligungen seien tarifgebunden, und von den übrigen hätten viele nur einen Chef und keine Mitarbeiter. „Es gibt Einzelfälle von größeren Tochtergesellschaften ohne Tarifvergütung“, räumt Berlin ein. Aber: „Hierzu erteilt die Senatsverwaltung für Finanzen gegenwärtig den Unternehmen die Vorgabe, im Laufe des Jahres 2020 Tarifverträge zu schließen bzw. einem Tarifvertrag beizutreten.“

Und Sachsen? Der dortige DGB-Chef Markus Schlimbach erinnert die Kenia-Koalition an ihr Versprechen und erwartet, „dass die neue Regierung dies zügig umsetzt und nicht auf die lange Bank schiebt“

Derweil hat der Freistaat vor einer Woche einen ersten Schritt zur Aufbesserung seiner Bilanz unternommen - und das Problem bei der Sächsischen Dampfschiffahrt gelöst: Nicht etwa durch einen Tarifvertrag, sondern durch Verkauf an die schweizerische United Rivers AG.

Tarifbindung in Unternehmen mit Landesbeteiligung

  • Baden-Württemberg: 87 direkte Beteiligungen, Land „steht fest zur Tariftreue“, keine Angaben;
  • Bayern: 66 Beteiligungen, „die allermeisten tarifgebunden“;
  • Berlin: 54 Beteiligungen (34 zu 100 %), einzelne ohne Tarifvertrag, Anweisung zur Änderung 2020;
  • Brandenburg: 22 Beteiligungen, von acht Mehrheitsbeteiligungen nur eine mit wenigen Leuten ohne Tarifvertrag;
  • Bremen: 33 Beteiligungen, meist mit Tarifvertrag, „zahlen mindestens 11,13 Euro Mindestlohn“;
  • Hamburg: von 54 Direktbeteiligungen 48 mit Tarifvertrag oder angelehnt;
  • Hessen: von 14 Mehrheitsbeteiligungen zwölf tarifgebunden, der Rest hat kaum Mitarbeiter;
  • Meckl.-Vorpommern: von 34 unmittelbaren Beteiligungen 29 mit Tarifvertrag oder angelehnt;
  • Niedersachsen: von 17 Beteiligungen zu 100 Prozent elf mit Tarifvertrag bzw. Orientierung, der Rest hat kaum Mitarbeiter;
  • Nordrhein-Westfalen: dezentrale Verwaltung der 57 unmittelbaren Beteiligungen, keine Angaben;
  • Rheinland-Pfalz: von neun 100-Prozent-Beteiligungen acht mit Tarifvertrag oder Orientierung;
  • Saarland: 42 Beteiligungen, davon fünf zu 100 Prozent, „grundsätzliche Tarifbindung“;
  • Sachsen: 76 Beteiligungen, neun von 14 mit 100 Prozent Beteiligung ohne Tarifvertrag;
  • Sachsen-Anhalt: fünf (zwei ohne Personal) von 22 Beteiligungen ohne Tarifvertrag bzw. Anlehnung;
  • Schleswig-Holstein: 34 Beteiligungen, „befürwortet grundsätzlich Tarifbindung“, keine Angaben;
  • Thüringen: 20 Beteiligungen (sieben zu 100 Prozent), die Hälfte verfügt über Tarifverträge.

Quelle: Fachministerien der Bundesländer auf Anfrage der Sächsischen Zeitung 2020