Wer auf die Festung Königstein will, muss eine gute Puste haben. Der Fußweg hinauf auf den beliebten Tafelberg in der Sächsischen Schweiz ist steinig und streckenweise ziemlich steil. Wer es bequemer will, steigt in den Fahrstuhl, der zwischen dem Festungsvorplatz und dem Felsplateau pendelt.
Weder Lift noch Fußweg nahm am Sonntag Festungschef André Thieme. Der promovierte Historiker, der im Sommer 2022 die Geschäftsführung der Festung Königstein übernahm, schlug einen ganz anderen - nicht ungefährlichen - Weg ein: Er kletterte an der knapp 40 Meter hohen Außenmauer der Festung empor. Eine Aktion, mit der Thieme an einen tollkühnen Abenteurer erinnert: Sebastian Abratzky. Dem Schornsteinfegergesellen gelang es vor genau 175 Jahren, am 19. März 1848, die schwer bewachte und als uneinnehmbar geltende Festung zu erobern: kletternd, ohne jede Sicherung und ganz allein. "Bis heute gilt das als die einzige ,Eroberung' der Bastion", sagt André Thieme.
Nach 15 Minuten in 30 Metern Höhe angekommen
Zum Jahrestag wollte er es Abratzky nachmachen. Und zwar an genau der gleichen Stelle, die der damals 18-Jährige für sein Abenteuer ausgewählt hatte. An einem kaminähnlichen Spalt. "Hier muss man reinkriechen und sich richtig hochziehen", beschreibt Kletterexperte Bernd Großer vom Kletterwald Königstein die Herausforderung. Er und sein Team machten die Abratzky-Besteigung am Sonntag möglich. Mit klassischem Wandklettern hätte das hier wenig zu tun. An einigen Stellen fehlen Griffe, "da muss der ganze Körper ran", sagt Großer.
Was das bedeutet, merkt Festungschef André Thieme beim Selbstversuch recht schnell. Er braucht ein paar Meter, bis er sich am Felsen sicher fühlt. "Ich bin tatsächlich noch nie geklettert", gesteht Thieme, Jahrgang 1969. Auf das Abenteuer hätte er sich dennoch gern eingelassen, wenn auch "etwas leichtsinnig", wie er unumwunden zugibt.
In dem Kamin kommt er dennoch gut voran. Schon nach 15 Minuten hat er das Ende der öffentlichen und nach Abratzky benannten Kletterroute erreicht. Thieme sitz nun in etwa 30 Metern Höhe in der Festungsmauer fest. Über ihm ein gemauerter Überhang. "Der wurde später aus Sicherheitsgründen angebracht, damit niemand so einfach auf die Festung klettern kann", erklärt Bergsteiger Bernd Großer. Für normale Bergsteiger ist hier Schluss - normalerweise. Zum Jahrestag dürfen einige Auserwählte wie André Thieme auch den Rest überwinden.
Der Rest, das sind gut fünf Meter fast senkrechter Fels. Darüber verläuft die Brüstung - das Ziel. Dutzende Schaulustige haben sich an der Festungsmauer über André Thieme versammelt. Handys werden gezückt, als er den letzten Abschnitt in Angriff nimmt. Die Füße suchen und finden Halt, mit den Armen zieht sich Thieme nach oben. Ein Griff, dann hat er die obere Kante erreicht. Geschafft.
Und wie bei Abratzky klicken in dem Moment auch für André Thieme die Handschellen. Doch anders als der Kletterpionier muss der Festungschef nicht wirklich in Arrest. Maximal in Arbeitshaft, schließlich ist der Königstein sein Arbeitsplatz. "Es war eine ganz tolle Erfahrung", sagt Thieme oben angekommen.
Öffentliches Klettern im Juni und September
Die gönnt er an diesem Tag noch einem anderen. Denn nicht nur der Festungschef stieg ins Sicherungsseil, auch Königsteins Stadtchef Tobias Kummer versuchte sich als Bergsteiger. Der 46-Jährige erreicht das Plateau nur wenige Minuten später. "Das schwerste war der Mittelteil", sagt Kummer, der vor seiner politischen Laufbahn als Gebirgsjäger bei der Bundeswehr war. Doch das ist 20 Jahre her. "Es ist nicht ohne, aber für Ungeübte zu schaffen", lautet das Urteil des Bürgermeisters.
Diese Möglichkeit gibt es im Jubiläumsjahr übrigens noch zweimal. Am 18. Juni und 17. September wird die historische Route im Abratzky-Kamin mit Übersteigen der Festungsmauer für jedermann geöffnet. Interessenten können sich im Internet ein Zeitfenster sichern. Die Kosten betragen pro Person 20 Euro, im Preis enthalten ist der Festungseintritt.