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So komplex ist die Erneuerung von Sachsens wohl schönster Brücke

Im Vogtland stehen seit 1851 die angeblich größten Ziegelsteinbrücken der Welt. Eine davon wird derzeit generalsaniert: die Elstertalbrücke. Es ist eine der komplexesten Baustellen im ganzen sächsischen Schienennetz.

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Ein Koloss, eingebettet im satten Grün des Sommers: die Elstertalbrücke führt in 68 Metern Höhe 270 Meter lang über das Tal der Weißen Elster.
Ein Koloss, eingebettet im satten Grün des Sommers: die Elstertalbrücke führt in 68 Metern Höhe 270 Meter lang über das Tal der Weißen Elster. © kairospress

Von Thomas Schade

An der Barthmühle ist Schluss. Der Talweg endet an Schildern. „Wanderweg gesperrt“ steht darauf. Am Tor zur Rettungsstraße an der Bahnlinie Gera-Weischlitz ist zu lesen: „Betreten der Baustelle verboten“. Wer hier im Tal der Weißen Elster weitergeht, macht sich strafbar.

In der Ferne rattern Bohrhämmer. Zwei Turmdrehkrane ragen an beiden Flussufern aus dem Tal, ab und zu schwenken sie ihre Arme. Läuft man ein paar Meter weiter, taucht der Koloss auf, eingebettet im satten Grün des Sommers: die Elstertalbrücke. 68 Meter hoch, 270 Meter lang. Seit 1851 erhebt sie sich im Vogtland zwischen den Orten Jocketa und Röttis über dem Tal der Weißen Elster.

Von den 12 Millionen Ziegeln, die hier verbaut sind, ist momentan kaum einer zu sehen. Mehr als 30.000 Quadratmeter Gerüst verhüllen den gigantischen Viadukt. „Wie sich die Bilder gleichen“, sagt Falk Kertscher und zeigt eine Lithografie aus dem Jahr 1850. Vor über 170 Jahren sah es hier genauso aus wie heute.

Vor über 170 Jahren sah es hier genauso aus wie heute, wie diese Lithografie von der Elstertalbrücke aus dem Jahr 1850 zeigt.
Vor über 170 Jahren sah es hier genauso aus wie heute, wie diese Lithografie von der Elstertalbrücke aus dem Jahr 1850 zeigt. © kairospress

Es ist eine der komplexesten, in jedem Fall aber eine der schwierigsten Baumaßnahmen, die im sächsischen Schienennetz derzeit zu bewältigen ist. Hier werden bald die neuen Gleise der Strecke von Leipzig nach Hof liegen. Dieser Tage werden Dehnungsfugen vergossen und die olivgrünen Masten für die elektrische Oberleitung gesetzt. Etwa aller 20 Minuten tutet es von einer Seite. Wenig später rollt ein Zug mit Tempo 50 über das alte, noch vorhandene zweite Gleis (Hof–Leipzig).

Kertscher, Jahrgang 1953, ist Eisenbahner in dritter Generation. Kaum einer kennt das vogtländische Bahnstreckennetz besser als er. Sein Vater und später er haben es viele Jahre betreut. Wenn man von der Elstertalbrücke spricht, sagt er, dürfe man die Göltzschtalbrücke nicht vergessen: „Es sind Schwestern.“ Und er fügt hinzu: „Ungleiche Schwestern“. Die größere Brücke über die Göltzsch sei weltbekannt, die kleine über die Weiße Elster existiere immer etwas im Schatten. „Sie ist aber die Schönere.“

Schwieriger Baustart

Angefangen habe alles, als sich die Könige von Sachsen und Bayern einen schnellen Verkehrsweg zwischen Leipzig und München wünschten. „Die Täler der Göltzsch bei Netschkau und 15 Kilometer südlich der Weißen Elster bei Jocketa erwiesen sich als Hürden, die damals nicht zu überwinden waren, erzählt Kertscher. Zwei Riesenbrücken mussten her, wie sie noch nie gebaut worden waren. Es gab viele Zweifler.

Am 9. Januar 1846, kurz nach der Grundsteinlegung an der Göltzsch, brach in Nordfrankreich, nahe der Stadt Barentin eine über 400 Meter lange Steinbogenbrücke kurz vor der Fertigstellung zusammen. Sie gehörte zur Eisenbahnstrecke Paris–Le Havre, hatte 27 Bögen und war 33 Meter hoch. „Im Vergleich dazu war es tollkühn, was die Sachsen vorhatten“, sagt Kertscher. Im Vogtland mussten gleichzeitig zwei Viadukte von 78 und 68 Meter Höhe und fast 800 beziehungsweise 300 Meter Länge gebaut werden. Allein im Göltzschtal sollten die Gleise auf 98 Bögen liegen.

Kertscher erzählt vom schwierigen Baustart. An der Göltzsch fanden die Ingenieure für den höchsten Pfeiler keinen festen Baugrund und mussten umplanen. An der Elster fiel die Grundsteinlegung ins Wasser. Am Südhang wollte der Betreiber der Eisenerzhütte Morgenroth seine Bergrechte nicht abtreten. Der Streit musste in Freiberg vor Gericht geklärt werden, so Kertscher. „Aber an der Elster nutzte man die Erfahrungen von der Göltzsch, reduzierte die Anzahl der Etagen und vergrößerte die Brückenbögen.“ Das habe Material, Geld und Zeit gespart.

Elke Hering leitet seit 2019 die Baumaßnahme, die sich bis 2025 hinziehen wird. Die Diplom-Ingenieurin ist Expertin für Brückenbau.
Elke Hering leitet seit 2019 die Baumaßnahme, die sich bis 2025 hinziehen wird. Die Diplom-Ingenieurin ist Expertin für Brückenbau. © kairospress

Der Reichenbacher Apotheker Heinrich Carl entwickelte sogar einen speziellen Mörtel. Er reicherte das Kalk-Sand-Wasser-Gemisch mit Alaunschieferschlacke an. Damit konnten an einem 13-Stunden-Arbeitstag bis zu 150.000 Ziegel vermauert werden. So wurde der Bauverzug aufgeholt. Bis zu 900 Arbeiter rackerten im Akkord, schlugen Bäume für das Baugerüst, bearbeiteten Granit- und Sandsteinquader. Unweit der Baustelle stand ein Lazarett. 1.300 Unfälle habe es gegeben, 13 Arbeiter seien dabei gestorben, weiß Kertscher.

Trotz aller Schwierigkeiten und des Bankrotts der Baugesellschaft zog nach fünfeinhalb Jahren Bauzeit die Lokomotive „Göltzschtal“ aus den Chemnitzer Hartmann-Werken den ersten Sonderzug mit 28 Wagen über beide Brücken. Tausend Ehrengäste waren anwesend. Prinz Albert verteilte Orden. „Nur einer wurde nicht bedacht“, erzählt Falk Kertscher: Johann Andreas Schubert, der eigentliche Schöpfer der Viadukte.

1930 erstmals gründlich instand gesetzt

Im vogtländischen Wernesgrün geboren, hatte es der Sohn eines Tagelöhners zu einem der bedeutendsten Ingenieure und Baumeister seiner Zeit gebracht. Schubert stellte die erste Dampflok, die Saxonia, auf die Gleise. Den ersten Raddampfer auf der Elbe hatte er konstruiert. Und er war einer der Gründerväter der Technischen Universität Dresden.

Nachdem eine Prüfungskommission 81 Brückenentwürfe als unrealisierbar verworfen hatte, entwickelte Schubert aus vier Vorschlägen einen Bogenviadukt. Während des Brückenbaus erhoben sich beim Maiaufstand 1849 in Dresden die Bürger. Schubert sympathisierte wie Gottfried Semper und Richard Wagner mit den Aufständigen, fiel bei Hofe in Ungnade und wurde zur Einweihung nicht eingeladen.

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Seit mehr als 170 Jahren verrichten die Brücken nun ihren Dienst, sagt Kertscher. „Keine Konstruktionsmängel, die den Bahnverkehr einschränkten. Nie musste wegen des Zustandes der Brücken das Tempo der Züge gedrosselt werden. Tempo 100 und Gegenverkehr sind möglich“, sagt er. Aber die Lasten, die beide Brücken tragen mussten, stiegen erheblich. Fuhren zunächst Züge, die 300 Tonnen wogen, so sind es heute Züge mit 1.600 Tonnen und mehr. „Es sind auch nach so langer Zeit Meisterwerke der Brückenbaukunst“, sagt Kertscher.

Aber alles hat seine Zeit. Im Brückenbau ist das die technische Nutzungsdauer. „Sie liegt bei 80 Jahren“, so der Bauingenieur. Deshalb sei die Elstertalbrücke 1930 erstmals gründlich instand gesetzt worden. Dabei wurde der Gleisabstand um einen halben Meter auf vier Meter vergrößert.

Nach 80 Jahren: Zeit für eine Generalinstandsetzung

Am meisten hat der Elster-Viadukt 1945 gelitten. „Während mutige Frauen an der Göltzschtalbrücke die Zündkabel der Sprengsätze durchtrennen konnten, war am 16. April an der Elster alles zu spät“, erzählt Kertscher. Obwohl amerikanische Truppen schon an der Barthmühle waren, sprengen Wehrmachtssoldaten einen der großen Mittelpfeiler. Der Bogen darüber stürzte ein. Die Amerikaner fanden das Sprengkommando in der Nähe der Talsperre Pöhl und erschossen die Soldaten standrechtlich, so ist es überliefert.

Nach zehn Monaten war der Viadukt wieder befahrbar. Im Oktober 1950 hatten die Vogtländer die Brücke in ihrer ursprünglichen Form wiederhergestellt. Zehn Jahre später mussten die Fahrbahnwanne und die Gewölbebögen wieder erneuert werden, auch weil das Material nach dem Krieg nicht das beste gewesen war. Falk Kertschers Vater war damals einer der Bauleiter und beantragte, die untere Brückenetage begehbar zu machen. Seither können Wanderer auf dem Viadukt das Elstertal überqueren. 1978 baute die Bahn die Fahrbahnwanne noch einmal um, damit das zweite Gleis wieder seinen Platz finden konnte. „Nun sind nach 1930 wieder fast 80 Jahre um. Zeit für eine Generalinstandsetzung“, sagt Falk Kertscher.

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Inzwischen hat eine Frau auf der Brücke das Sagen. Elke Hering leitet seit 2019 die Baustelle. Nach 2015, so erklärt die Diplom-Ingenieurin, wurde bei den laufenden Inspektionen an der Brücke festgestellt, dass zunehmend Wasser aus der Fahrbahnwanne in das Bauwerk eindringt. „Es bildeten sich Hohlräume, Risse entstanden.“ Das habe die Standsicherheit des Viaduktes zwar nie gefährdet, der Bahnbetrieb musste nie eingeschränkt werden. „Aber es war an der Zeit, die Fahrbahnwannen zu erneuern und den 170 Jahre alten Viadukt zu sanieren“, sagt die Fachfrau für Bahnbau, die ihr Büro in Zwickau hat. Zusammen mit der TU Dresden sei die Aufgabe zu einem Pilotprojekt entwickelt worden. So wie hier an der Elster will die Bahn künftig Steinbogenbrücken durch Generalinstandsetzung erhalten.

Nicht immer werde das so kompliziert wie an der Elster sein, sagt Elke Hering. Das Tal sei außerordentlich eng, die Hänge besonders steil, Anfahrtswege kaum vorhanden. Um einen der beiden riesigen Kräne zu stellen, musste ein privates Gartengrundstück genutzt werden.

Damit der Bahnverkehr eingleisig rollen kann, wurden im Norden und im Süden vor der Brücke ein System von Weichen eingefügt, Überleitstellen genannt, und ein elektronisches Stellwerk musste gebaut werden, das von Leipzig aus bedient wird. „Beides sind Einzelprojekte der gesamten Brückeninstandsetzung. Die Weichen im Süden bleiben erhalten und helfen künftig, den Bahnverkehr flexibler zu gestalten“, so die Projektleiterin.

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Während auf dem Viadukt eine neue Fahranlage gebaut wird, sind Maurer auf den Etagen des gigantischen Gerüstes unterwegs. Sie tauschen 36.000 Ziegel aus. Die Männer stemmen die schadhaften Steine aus dem Mauerwerk und setzen neue Steine ein. Schaut man in die Öffnungen, so ist der Beton zu sehen, mit dem das Bauwerk verfüllt ist. Die hart gebrannten Backsteine kommen aus einer Ziegelei in Graupzig bei Nossen. Alle haben die historischen Maße wie vor 170 Jahren. Aber jeder ist anders, denn sie werden von Hand geformt.

Wie genau es der Denkmalschutz nimmt, zeigen die Gewölbebögen, die beim Wiederaufbau nach dem Krieg aus Stahlbeton gefertigt wurden und heute die schwersten Schäden aufweisen. Projektleiterin Hering deutet vom Gerüst aus auf die Stellen, wo Wasser den Beton ausgespült und die Armierung sichtbar gemacht hat. Das werde alles verschlossen, sagt sie. „Aber zum Denkmalschutz gehört auch, dass die typische Struktur der Schalbretter wieder hergestellt wird, die vor 70 Jahren hinterlassen wurden.“

Bis Ende 2025 habe man noch zu tun, dann werden sechs Jahre seit Planungsbeginn bis zur Fertigstellung vergangen sein. Viel Zeit, möchte man meinen, doch allein der Gerüstbau hat ein Jahr gedauert. Hier sei eben alles etwas speziell, heißt es. „Aber so eine Baustelle bekommt man nur einmal im Arbeitsleben“, sagt Elke Hering. Und sie fügt hinzu, denn das ist ihr wichtig, dass alle so denken würden, die hier arbeiten.