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Warum Lina E. jetzt auf freiem Fuß ist

Trotz Gefängnisstrafe hat das Gericht den Haftbefehl gegen die Linksextremistin Lina E. aufgehoben. Was wird nun aus den Protesten? Leipzig hat die Demo zum "Tag X" verboten - und die Anmelder wehren sich.

Von Alexander Schneider
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Eine Demonstrantin aus dem linken Spektrum steht vor Beginn der Urteilsverkündung gegen Lina E. und drei Männer vor dem Oberlandesgericht (OLG).
Eine Demonstrantin aus dem linken Spektrum steht vor Beginn der Urteilsverkündung gegen Lina E. und drei Männer vor dem Oberlandesgericht (OLG). © Robert Michael/dpa

Dresden. Noch während am Mittwochabend die Urteilsbegründung vor dem Oberlandesgericht Dresden (OLG) andauerte, demonstrierten Hunderte Sympathisanten in Dresden und mehreren weiteren Städten für die vier schuldig gesprochenen Linksextremisten um die Leipziger Studentin Lina E. Etwas heftiger zur Sache ging es etwa in Leipzig, Berlin und Bremen. Am Wochenende herrscht in Leipzig aufgrund angekündigter Proteste der linksextremen Szene der Ausnahmezustand.

Am Donnerstag hat die Stadt Leipzig eine für Samstag um 17 Uhr als „Tag X“ angekündigte Demonstration mit Blick auf zu erwartenden Ausschreitungen verboten. „Auf Grundlage der vorliegenden Erkenntnisse kann alleinig ein Versammlungsverbot als geeignete Maßnahme zur Verhinderung eines unfriedlichen Versammlungsverlaufs gesehen werden“, hieß es in einer Mitteilung.

Die Organisatoren der "Tag X"-Demonstration wehren sich allerdings juristisch gegen das Verbot. Es sei ein Eilantrag gegen das Verbot eingegangen, sagte der Sprecher des Verwaltungsgerichts Leipzig, Dirk Tolkmitt, am Freitag. Der zuständige Senat werde im Laufe des Tages darüber entscheiden. Kläger sei eine Privatperson, der Anmelder der Demo.

Laut Polizei wurden mehr als 1.500 potenziell gewaltbereite Linksextremisten und 4.000 Sympathisanten erwartet. Schon vor Monaten hatte die Szene mehrere Millionen Euro Sachschaden angekündigt.

Auf linken Internetportalen wurde auch wegen des Verbots dazu aufgerufen, jetzt erst recht nach Leipzig zu reisen. Demnach willen autonome Gruppen jetzt auch dezentral in der Stadt aktiv werden. „Wenn die Stadt unseren Protest verunmöglicht, wird das Konsequenzen haben, die dort treffen, wo es der Stadt wehtut“, heißt es in einem Aufruf. Könnte die überraschende Freilassung von Lina E. die Lage trotzdem deeskalieren?

Urteil gegen Lina E.: Ausweis abgeben, Wohnort mitteilen

Einen ganzen Tag lang begründete der Vorsitzende Richter Hans Schlüter-Staats, welche Gewalttaten die vier Linksextremisten begangen und dass sie nach Überzeugung des Gerichts zweifellos eine kriminelle Vereinigung gebildet haben. Die Leipziger Studentin wurde als Hauptangeklagte zu fünf Jahren und drei Monaten Haft verurteilt. Sie sei zwar keine Rädelsführerin, hatte jedoch bei den Überfällen auf tatsächliche und vermeintliche Rechtsextremisten in Leipzig, Wurzen und Eisenach eine „hervorgehobene Position“ inne.

Als „Überblicksperson“ hat sie laut Urteil bei den Attacken das Kommando zum Rückzug gegeben und Reizgas gesprüht – und sie verwaltete auch das Waffendepot und die Tathandys. Für zwei der ihr vorgeworfenen sechs gewalttätigen Überfälle sprach der Senat die 28-Jährige frei, weil sich ihre Beteiligung nicht habe nachweisen lassen.

Erst ganz am Ende der fast zehnstündigen, von wiederholten Unmutsäußerungen zahlreicher Sympathisanten im Gerichtssaal begleiteten, Urteilsbegründung ließ der Vorsitzende die eigentliche Überraschung platzen: Er setzte den Haftbefehl gegen die bislang nicht vorbestrafte Studentin außer Vollzug. Lina E. muss jedoch ihre Ausweise abgeben, ihren Wohnort mitteilen und sich zweimal die Woche persönlich auf einem Polizeirevier melden.

Wohl nur ein Jahr Reststrafe für Lina E.

Schlüter-Staats begründete die Entscheidung als strafrechtlich geboten. Lina E. habe die Hälfte ihrer Freiheitsstrafe in Untersuchungshaft abgesessen, rund zwei Jahre und sieben Monate. Ihr offener Strafrest werde nach Rechtskraft des Urteils vollstreckt. Das könnte dauern. E.s Verteidiger kündigten gleich nach dem Prozess an, das „eklatante Fehlurteil“ anzufechten.

Bleibt es bei fünf Jahren und drei Monaten, wird die Linksextremistin wohl nur noch etwa ein Jahr absitzen müssen. Auch Lina E., die sich in der Chemnitzer Haftanstalt für Frauen tadellos geführt haben soll, könnte von der Zwei-Drittel-Regelung profitieren, also vorzeitig auf Bewährung entlassen werden. Schon daher sei die weitere U-Haft laut OLG unverhältnismäßig, weil sie vor der Rechtskraft die Strafe schon abgesessen haben könnte.

Größte Hypothek: Heldenstatus

Mehr als zweieinhalb Jahre U-Haft während der Corona-Pandemie seien eine lange Zeit, so der Richter. Hinzu komme, dass Lina E. auch aus gesundheitlichen Gründen, sie leidet offenbar schon seit Jahren an einer Rheuma-Erkrankung, besonders haftempfindlich sei. Dass die 28-Jährige, die sich nicht zu den Vorwürfen geäußert hatte, in der Szene einen Heldenstatus habe, so wohl ihre „größte Hypothek“, so Schlüter-Staats.

In dem Urteil, dass sie für „heftige, gravierende Taten“ erhalten habe, berücksichtigte das Gericht strafmildernd, dass die 28-jährige Studentin der Erziehungswissenschaften einer massiv vorverurteilenden Berichterstattung ausgesetzt gewesen sei, wie er sagte. Mehrfach nannte Schlüter-Staats in diesem Zusammenhang das rechte Compact Magazin aus Leipzig und „den Boulevard“ und prangerte an, dass Informationen aus Ermittlungsakten veröffentlicht worden seien. Damit teilte der Senat die schon zum Prozessauftakt im September 2021 Kritik der Verteidiger.

Sachsens Polizei will das Urteil nicht bewerten

Auch zahlreiche Anhänger Lina E.s hatten bis zur Verkündung ihrer Entlassung kurz vor 20 Uhr ausgeharrt. Es dürfte die erste Entscheidung des Gerichts gewesen sein, die von den Sympathisanten beklatscht wurde. Sie applaudierten bereits seit dem Prozessauftakt stets im Stehen, immer wenn die ursprünglich aus Kassel stammende Gefangene in den Sitzungssaal geführt worden war.

Bereits kurz nach 20 Uhr wurde die Freilassung von Lina E. auch auf der Dresdner Demo beklatscht. Dort riefen Redner sinngemäß dazu auf: Heute demonstrieren wir friedlich, aber kommt am Sonnabend alle zum Tag X nach Leipzig. Auch das dürfte die Entscheidung der Stadt Leipzig beeinflusst haben, die Demonstration abzusagen. Lina E. hätte – zumindest theoretisch – die Demo „ihrer Sympathisanten“ besuchen können. Ihre am Mittwochabend erteilten Auflagen ließen es zu. Erkan Zünbül aus Leipzig, einer von Lina E.s Verteidigern, sagte, seine Mandantin sei erst einmal froh, zu Hause zu sein, weiter werde er sich nicht zur Privatsphäre äußern.

In Sachsens Landeskriminalamt bewertet man das Urteil nicht, sondern verweist auf die bundesweite Mobilisierung nach Leipzig und die Einsatzleitung der dortigen Polizeidirektion: „Allein durch den Verfahrensausgang findet keine Änderung der bereits erstellten komplexen Gefährdungsbewertung dar.“ (mit ce)