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Was will Sachsen plötzlich mit Streuobstwiesen?

Lange Zeit wollte kaum noch jemand Obstwiesen haben. Jetzt werden die Wiesen mit ihren vereinzelten Bäumen wiederentdeckt. Wem das nützt.

Von Christina Wittig-Tausch
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Holger Stein hat einen Streuobstwiesen-Hof in Gittersee.
Holger Stein hat einen Streuobstwiesen-Hof in Gittersee. © Jürgen Lösel

Wie im Bilderbuch sieht es aus auf Holger Steins Streuobstwiese in Freital. Zwischen den wie hingestreut wirkenden Obstbäumen, denen Wiesen wie diese ihren Namen verdanken, ziehen Schafe über leuchtend grünes Gras. Bienen umschwirren die Blüten. Holger Stein erzählt, wie früher die Verwandtschaft aus der Stadt zum Hof pilgerte, extra zur Baumblüte, diesem Rausch aus Düften und Farben. Jedes Frühjahr bestaunte Tante Hannel die rosa angehauchten Flämmchen der Apfelblüten über knorrigem, bemoostem, wundersam gedrechseltem Holz.

Das Schauspiel lässt sich heute noch erleben. In Sachsen gibt es mehr als 13.000 Streuobstwiesen. In Deutschland und Europa kommen sie zu neuen Ehren. Kürzlich erklärte die Unesco diese traditionsreiche Art des Obstanbaus zum immateriellen Kulturerbe, zu dem auch Bier, Brot oder Skat zählen. Seit diesem Jahr gibt es einen Tag der Streuobstwiese, der auf ihren selten gewürdigten Wert und ihre Besonderheiten aufmerksam machen will.

Schafe, Obstbäume, Wiese, Sonne: Holger Steins Hof in Freital sieht aus wie aus einem kitschigen Bilderbuch.
Schafe, Obstbäume, Wiese, Sonne: Holger Steins Hof in Freital sieht aus wie aus einem kitschigen Bilderbuch. © Jürgen Lösel

Als Streuobstwiese gelten in Sachsen Wiesen mit mehr als zehn hochstämmigen Bäumen oder mehr als 500 Quadratmeter Fläche. Sie stehen unter Schutz und können gefördert werden, denn sie sind Hotspots der biologischen Vielfalt. In den Bäumen und ihren typischen Höhlen, aber auch im Totholz finden Insekten, Vögel und Säugetiere Nahrung und Unterschlupf.

Ebenso auf den Grünflächen drumherum, die nicht gedüngt und nur selten gemäht werden. Dadurch bieten sie eine enorme Vielfalt an Kräutern und Blumen. Zudem stellen die Obstwiesen durch den in Jahrhunderten entwickelten Sortenreichtum des Obstes ein genetisches Gedächtnis dar, das gefährdet ist. Die dauerglänzenden Superfrüchte aus dem Großhandel beschränken sich auf nur wenige Sorten.

Schnäpse aus eigenem Obst

Holger Stein holt aus seinem Keller ein paar seiner Schätze vom vergangenen Herbst: schön gerundete Äpfel mit roten Backen und einer erstaunlich faltenlosen Haut, ganz ohne Chemie. Stein schneidet einen der Brettacher Gewürzäpfel in mehrere Stücke, guckt prüfend. „Manchmal entwickelt diese Sorte ein bisschen Schimmel im Kernhaus, da muss man darauf achten.

Aber der Geschmack – ist er nicht wunderbar, trotzdem er nun seit Monaten bei uns im Keller lagert? Da finden sich Noten von Banane. Und sogar Ananas.“ Nicht nur das Aroma bringt den 57-Jährigen zum Schwärmen. Der Brettacher Gewürzapfel schmecke fantastisch auf Kuchen, bleibt weiß beim Backen.

„Er ist außerdem ein hervorragender Brennapfel“, sagt Holger Stein. Im Hauptberuf ist er Fotograf, im Nebenerwerb Landwirt. Vor drei Jahren eröffnete er die „Erste Sächsische Abfindungsbrennerei“. Dort stellt er edle Schnäpse vorwiegend aus eigenem Streuobst und aus Wildsammlung her.

Selbstgebrannter Obstler von Holger Stein.
Selbstgebrannter Obstler von Holger Stein. © Jürgen Lösel

Holger Stein und seine Familie bilden die fünfte Generation, die den Hof führt. Die Großeltern waren es, die den Gewürzapfel auf ihre große Obstwiese brachten: Bei ihrer Hochzeit 1930 pflanzten sie ihn. Zu fast jedem seiner 250 Obstbäume kann Holger Stein eine Geschichte erzählen. Die Bäume haben viel erlebt: Krieg und Leid, aber auch Freude und Neubeginn.

Schon als Kind war Stein dabei, wenn Großeltern und Eltern ihren Obstgarten pflegten. Manchmal greift Holger Stein selber zur Handsense in der Morgendämmerung eines Sommertags, „das macht den Kopf frei, und ich fühle mich meinen Großeltern auf gewisse Weise nah“. Aber meist überlässt er das Mähen seinen Schafen oder nutzt Mähtechnik. Das Leben mit einer Streuobstwiese ist nicht so romantisch und landlustig, wie es zunächst klingt. „So eine Wiese erfordert viele Kenntnisse und macht viel Arbeit, ebenso das Ernten und Verarbeiten des Obstes. Aber ich liebe das, was ich hier tue. Mir ist es wichtig, den Hof mit seinen Wiesen zu erhalten für die nachfolgenden Generationen.“

Das "Höher, Schneller, Weiter" ist weg

Überdies fasziniert ihn, wie man die Vielfalt der Obstsorten in Hochprozentiges übersetzt, verschiedene Sorten komponiert, den Geschmack und den Duft konserviert. Holger Stein befasst sich mit dem Brennen, seit er als junger Handwerker auf der Walz den Selbstgebrannten in Osteuropa verkostete. „Ich lege Wert auf Qualität und Genuss, nicht auf Quantität, und habe keine Mühe, meine Produkte zu verkaufen, auch ohne viel Werbung. Aber das hier ist ein Mikrokosmos. Das Höher, Schneller und Weiter ist weit weg. Ich muss davon nicht leben.“

Die Frage der Wirtschaftlichkeit stellt sich jedem, der eine Streuobstwiese erbt, übernimmt oder selber anlegen will. „Man kann eine Streuobstwiese nicht ohne die Nutzung denken und planen“, sagt Andreas Wegener von der Grünen Liga in Dresden. Der gelernte Gärtner und Biologe pflegt seit vielen Jahren die gut 15 Hektar umfassenden Streuobstwiesen des Naturschutzvereins, vielfach im Auftrag der Eigentümer.

Andreas Wegener von der sächsischen Grünen Liga auf einer steilen Steuobstwiese in Sobrigau.
Andreas Wegener von der sächsischen Grünen Liga auf einer steilen Steuobstwiese in Sobrigau. © Jürgen Lösel

Andreas Wegener blickt auf eine Wiese im Kreischaer Ortsteil Sobrigau, die für ihn das schwierige Nischendasein und die gesamte Problematik der Streuobstwiesen im 21. Jahrhundert spiegelt: Sie erstreckt sich auf einem steilen Hang mit einem Höhenunterschied von 70 Metern. In der Ferne rauscht leise die Prager Autobahn. Rotmilane kreisen über der Wiese.

Beim Mähen kommt spezielle Technik aus dem Alpenraum zum Einsatz. „Hier kann niemand effektiv Landwirtschaft nach heutigen Maßstäben betreiben. Nur deshalb hat die Wiese die Veränderungen der vergangenen Jahrzehnte überlebt“, meint Wegener.

Was ist eine "Streuobstwiese" überhaupt?

Von „Streuobstwiesen“ sprach bis kurz nach dem Zweiten Weltkrieg niemand, nur von „Obstgärten“ oder „Obstwiesen“. Sie waren über viele Jahrhunderte wichtiger Bestandteil der Ernährung und wurden mehrfach genutzt: Auf den mit größerem Abstand gepflanzten Hochstämmen gedieh das Obst.

Darunter wurden Feldfrüchte angebaut. Später ging man dazu über, dort das Vieh weiden zu lassen oder Heu herzustellen. Die Baumäcker oder Baumwiesen umgaben wie Gürtel die Dörfer und Höfe. Obstbäume säumten in großer Zahl Wegränder und bildeten Alleen.

Blüten über Blüten - vor allem im Frühjahr sind Obstbäume eine Augenweide.
Blüten über Blüten - vor allem im Frühjahr sind Obstbäume eine Augenweide. © Jürgen Lösel

Dass sich Obstsorten seit Jahrhunderten fast unverändert erhalten haben, ist dem Veredeln zu verdanken. Dabei wird ein Trieb der Wunschsorte, der sogenannte Edelreiser, in einen neuen Baum eingesetzt. Die Veredelungstechniken kamen aus der antiken Welt über die Römer nach Mitteleuropa. Die Klöster pflegten sie im Mittelalter weiter. Nach der Reformation wurden in den protestantischen Gebieten die Klöster aufgelöst.

Kein Wunder, dass sich Sachsens Kurfürst August im 16. Jahrhundert besonders intensiv um Obstzucht bemühte. Er schrieb ein Buch darüber und tauschte Edelreiser mit anderen Kurfürstentümern. Verpflichtete Bauern zur Obstbaumpflanzung und erließ 1577 ein Gesetz, wonach jedes Ehepaar mit Landbesitz im Hochzeitsjahr zwei Obstbäume zu pflanzen und zu pflegen habe.