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Handball-Ikone Kretzschmar: "Mannschaft kann Außergewöhnliches erreichen"

Stefan Kretzschmar, Handball- Ikone und Sportvorstand beim -Bundesligisten Füchse Berlin, über die Heim-EM und die Chancen des deutschen Teams.

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Stefan Kretzschmar, 50, holte mit der DHB-Auswahl, für die er in
218 Länderspielen 821 Tore warf,
bei der EM 2002, der WM 2003 und den Olympischen Spielen 2004
jeweils Silber.
Stefan Kretzschmar, 50, holte mit der DHB-Auswahl, für die er in 218 Länderspielen 821 Tore warf, bei der EM 2002, der WM 2003 und den Olympischen Spielen 2004 jeweils Silber. © dpa/Ronny Hartmann

Herr Kretzschmar, die Heim-EM steht an. Was bedeutet ein solches Turnierim eigenen Land für eine Mannschaft?

Für einen Sportler ist es das Größte. Ich habe das als Spieler leider nicht erleben dürfen, bei der WM 2007 war ich als Experte dabei. Das war großartig, welche Euphorie die Nationalmannschaft da entfacht hat. Uns im eigenen Land vor so vielen Zuschauern mit so einer Euphorie präsentieren zu dürfen, ist eminent wichtig. Für unseren Status und für unsere Popularität kann diese EM extrem viel bewirken. Stimmungsmäßig ist die WM 2007, aber auch die WM 2019, die ich ebenfalls als Turnierbotschafter begleiten durfte, auf jeden Fall das große Vorbild. Es geht darum, dass wir ein großes Handballfest feiern, dass wir uns weltoffen präsentieren und ein gutes Turnier veranstalten.

Das Eröffnungsspiel gegen die Schweiz in Düsseldorf findet vor über 50.000 Zuschauern statt. Last oder Antrieb?

Ich gehe davon aus, dass das Eröffnungsspiel mit der Rekordkulisse unsere Mannschaft eher pusht und die Atmosphäre sie beflügeln wird. In einem kleinen Hexenkessel zu spielen, kann schwieriger sein, dort kann mehr Druck auf eine Mannschaft ausgeübt werden als in so einem großen Stadion. Klar, man ist sich der Dimension noch gar nicht bewusst und das wird sicherlich auch beeindruckend sein. Aber ich glaube, dass dort eine hitzige Atmosphäre erst einmal nicht aufkommt. Das wird uns entgegenkommen.

Sie kennen den Bundestrainer gut. Was ist Alfred Gislason für ein Typ?

Alfred ist ein sehr autoritärer Trainer, der in seinem Leben alles schon gesehen und jedes Spiel schon gespielt hat. Er hat ein unheimliches Handballfachwissen und einen großen Erfahrungsschatz. Ein Experte des Smalltalks ist er nicht. Aber er bereitet sich haargenau auf jeden Gegner vor und kann auf jeden Fall eine Mannschaft hinter sich und einer Idee vereinen.

Wie macht er eine Mannschaft heiß?

Es ist seine große Stärke, zu motivieren. Manchmal holt er isländische Helden-Sagas raus, um die Jungs irgendwie zu kriegen. Er kann ihnen natürlich auch viel mitgeben und weiß, mit welcher Aggressivität und welchem Fokus man in Länderspiele gehen muss. Er ist jemand, zu dem man einfach aufschaut.

Was trauen Sie der Mannschaft zu?

Es ist nach wie vor eine sehr junge Mannschaft. Vielleicht nicht unbedingt mit den ganz großen Weltstars, aber internationalen Stars. Andi Wolff, Johannes Golla, Juri Knorr, Julian Köster – das ist das Gerüst der Mannschaft mit Spielern, die internationale Klasse haben. Ich glaube daran, dass unsere Mannschaft bei einem Turnier im eigenen Land Außergewöhnliches erreichen kann. Den Auftakt gegen die Schweiz musst du gewinnen, auch gegen Nordmazedonien musst du gewinnen. Dann kommt das Endspiel der Vorrunde gegen Frankreich, das wird hart. Aber wenn du gut ins Turnier gekommen bist, ein gutes Gefühl hast und die Euphorie dich trägt, dann können wir durchaus vom Ziel Halbfinale sprechen.

Wer wird der deutsche EM-Star?

Auf der Hand liegt, dass Juri Knorr bereits ein Star ist und noch weiter wachsen wird. Aber natürlich sind auch Andi Wolff, Julian Köster und Johannes Golla die tragenden Säulen dieser Mannschaft. Ich bin auch auf die jungen Spieler gespannt. Nils Lichtlein, David Späth, Martin Hanne, Renars Uscins und Justus Fischer. Das sind Spieler, die noch keine große Turniererfahrung haben. Ich bin gespannt, wer sich hervortun kann.

Was zeichnet Juri Knorr aus?

Juri ist ein Vollbluthandballer, ein Instinkthandballer. Er ist ein klassischer Spielmacher, der gute Entscheidungen in Kooperation mit den Kreisläufern trifft und selbst sehr wurfgefährlich ist. Er hat das Spiel verstanden und ist ein Vollprofi. Wie er bei der WM gespielt hat, war schon atemberaubend. So einen dominanten Spielmacher haben wir uns lange gewünscht und ich bin sehr froh, dass wir ihn haben.

2016 hat die deutsche Mannschaft auch ohne große Namen den Titel gewonnen. Sehen Sie Parallelen?

Die Europameister von 2016 sind natürlich immer die Blaupause, wie man sich das ohne Superstars im Idealfall vorstellt. Man hat schon einmal bewiesen, dass es als Underdog möglich ist, mit einer Geschlossenheit, einer tollen Abwehr und einem super Torwart etwas Unmögliches zu erreichen. Wir würden natürlich immer gern Parallelen zu dieser Mannschaft ziehen, weil es eine erfolgreiche EM bedeuten würde. Man kann sich daran auf jeden Fall orientieren. Allerdings muss man auch sagen, dass Dagur Sigurdsson damals diese Idee der Bad Boys kreiert hatte. Für mich ist das das eigentliche Wunder, dass diese Mannschaft tatsächlich von sich selber glaubte, sie wären die Bad Boys. So etwas Übergeordnetes wird es wohl nicht geben. Trotzdem glaube ich, dass diese Mannschaft als Einheit erfolgreich spielen kann.

Wer ist der Favorit auf den Titel?

An Dänemark kommt man bei dieser Frage nicht vorbei. Da würde selbst die zweite Mannschaft um den Titel spielen, sie haben eine unfassbare Qualität in der Breite. Das ist die Eins mit weitem Abstand. Die planen auch schon alle das Finale. Wenn ich die Dänen bei den Füchsen Berlin sehe, für die kommt nichts anderes infrage. Die beschäftigen sich überhaupt nicht damit, einen Tag vorher nach Hause zu fahren. Für sie ist klar, dass die das Finale erreichen und es dann auch gewinnen. Für die gibt es daran keinen Zweifel.

Und sonst?

Die Franzosen und die Schweden schätze ich auch stark ein. Dahinter kommt ein Feld von fünf, sechs Mannschaften auf demselben Niveau, zu denen ich auch uns zähle. Wenn uns die Euphorie trägt, dann können wir diese Mannschaften schlagen. Klar, wir sollten so weit wie möglich Dänemark aus dem Weg gehen. Wenn man mal träumen dürfte, wäre diese Mannschaft als Gegner im Finale schon interessant. Wenn du ein Finale im eigenen Land gegen den vermeintlichen Favoriten spielst, ist tatsächlich alles möglich.

Interview: Franziska Breininger und Florian Krebel (sid)