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Die Schwachstellen von Dynamos Vollgas-Taktik

90 Minuten sprinten und den Gegner stressen - damit hat Dynamo nicht nur den HSV geärgert. Doch das attraktive System hat auch erhebliche Nebenwirkungen.

Von Daniel Klein
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Und plötzlich geht es ganz. Nach einem Freistoß kontert der HSV, und Robert Glatzel trifft zum 0:1, Dynamos Torwart Kevin Broll und Verteidiger Kevin Ehlers können das nicht verhindern.
Und plötzlich geht es ganz. Nach einem Freistoß kontert der HSV, und Robert Glatzel trifft zum 0:1, Dynamos Torwart Kevin Broll und Verteidiger Kevin Ehlers können das nicht verhindern. © dpa/Robert Michael

Dresden. Das Tempo in den ersten Minuten war furios. Die 1.000 Zuschauer im Rudolf-Harbig-Stadion kamen ebenso kaum zum Luftholen wie die Spieler des Hamburger SV, die keine Sekunde Zeit hatten, eine Anspielstation zu finden, weil sofort nach der Ballannahme ein Dresdner auf sie zugestürmt kam. Selbst der technisch so versierte HSV-Schlussmann Daniel Heuer Fernandes, auf diesem Gebiet vielleicht der Beste in der 2. Liga, bekam da Schwierigkeiten und musste sich mit - eigentlich auf dem Index stehenden - weiten Schlägen aus der Umklammerung befreien.

Diese Überfalltaktik, im Fachjargon hohes Pressing genannt, war genau so geplant. "Der Trainer hatte uns vorgegeben, von der ersten Minute voll da zu sein", verrät Dynamo-Stürmer Christoph Daferner. "Wenn wir uns hinten reingestellt hätten, hätten wir keine Chance gehabt." Nach den 90 Minuten und dem 1:1 sind sich beide Trainer einig, dass der Spielausgang ein gerechter war. Dabei hatte man als neutraler Zuschauer in weiten Teilen der Partie das Gefühl, es dürfte nur einen Sieger geben: Dynamo.

Das Unentschieden gegen eines der Top-Teams der Liga zeigte exemplarisch, wie attraktiv die von Trainer Alexander Schmidt eingeführte Taktik ist - aber auch wie riskant und anfällig. In Führung ging am Freitagabend nicht die Mannschaft, die deutlich mehr investiert hatte, mehr Aufwand betrieb und mehr Zweikämpfe gewann, sondern die, die es verstand, die Schwachstellen und Problemzonen des Gegners auszunutzen. Durch das frühe Stören und Anlaufen steht Dynamo meist sehr tief in der Hälfte des Kontrahenten, wodurch sich zwangsweise Konterräume ergeben. Genau das nutzte der HSV bei der Führung aus.

"Wenn wir unsere Konter besser ausspielen, machen wir auch noch das 2:0", grummelte Hamburgs Trainer Tim Walter hinterher. Die Chancen gab es. Diese Anfälligkeit räumt auch Daferner ein. "Ein gewisses Risiko in der letzten Linie müssen wir gehen, wenn wir unser Spiel durchziehen wollen", findet er, aber auch, dass wir da "richtig schnelle Jungs haben" und meint damit Michael Sollbauer, Kevin Ehlers, Chris Löwe und Michael Akoto, die gegen den HSV die Vierer-Abwehrkette bildeten. "Denen läuft so schnell keiner davon."

Dass Daferner seine Kollegen derart lobt, bestätigt den Eindruck, dass der 24-Jährige ein höflicher Mann ist. Denn mit Ausnahme von Akoto ist die Einschätzung nicht ganz so zutreffend. Zwar ist das restliche Trio keinesfalls langsam, doch mit extrem sprintstarken Stürmern hat es so seine Probleme.

Gegen den HSV wurde das meist mit gutem und vor allem vorausschauendem Stellungsspiel ausgeglichen - bis auf eine Ausnahme. "Beim 0:1 sieht es natürlich blöd aus, aber das passiert mal", sagt Daferner. Sein Trainer sieht das nicht ganz so entspannt. "Beim Gegentor war es eine Fehlerkette, das müssen wir besser machen, schneller umschalten, energischer verteidigen, weiter trainieren."

Konditionelle Probleme - nicht nur bei Drchal

Aber noch schneller, noch energischer - geht das überhaupt? "Mit der Zeit haben wir den Verschleiß schon gemerkt, das war brutal anstrengend", pustete Daferner selbst nach dem Schlusspfiff noch ins Mikro. Das ist eine weiterer heikler Punkt im System. Bei Neuzugang Vaclav Drchal, der in der Winterpause von Sparta Prag kam, waren die konditionellen Probleme bereits in der ersten Halbzeit offensichtlich. Auch der Rest der Mannschaft baute ab, hatte der Schlussoffensive der Hamburger nur wenig entgegenzusetzen. Der Trainer macht sich da weniger Sorgen. "Wir haben ja genügend gutes Personal draußen. Bei uns gilt die Maxime: Jeder powert sich aus, bis er nicht mehr kann, dann kommt der Wechsel", erklärt er. Zehn Feldspieler zu tauschen, erlaubt aber selbst die seit Corona-Zeiten erweiterte Wechsel-Regel nicht, maximal fünf sind möglich.

Und mittendrin Dynamos Torschütze vom Dienst: Christoph Daferner (Nr. 33) jubelt mit den Kollegen nach seinem Treffer zum 1:1 gegen den HSV.
Und mittendrin Dynamos Torschütze vom Dienst: Christoph Daferner (Nr. 33) jubelt mit den Kollegen nach seinem Treffer zum 1:1 gegen den HSV. © dpa/Robert Michael

Die Dauersprints übers halbe Feld haben noch eine Nebenwirkung - in der Offensive. Es fehle vielleicht die letzte Konzentration, hat Schmidt beobachtet und kennt schon das Gegenmittel: "Da müssen wir noch ein bisschen fitter, noch ein bisschen athletischer werden." Aber ob sich so automatisch die Trefferquote erhöhen lässt? Dass den Ausgleich mal wieder Daferner erzielte, zeigt, wie abhängig Dynamo derzeit vom Ex-Freiburger ist. Es gab bisher nur zwei Zweitligaspiele, bei denen die Schwarz-Gelben punkten konnten, obwohl der Angreifer an keinem Treffer beteiligt war - das 1:1 gegen den HSV in der Hinrunde sowie der 1:0-Sieg gegen Erzgebirge Aue.

"Er ist mit dem Kopf eine Macht, mit beiden Füßen schussstark", lobt ihn sein Trainer. "Seine Entwicklung ist noch nicht abgeschlossen, da können wir noch viel rausholen und werden noch viel Freude mit ihm haben." Trifft Daferner aber weiter wie bisher, stellt sich die Frage: Wie lange noch? Sein Vertrag läuft bis Juni 2023, Interessenten dürfte es einige geben. Einen möglichen Nachfolger hat Dynamo mit Drchal bereits geholt, der Leihvertrag mit Sparta Prag soll eine Kaufklausel enthalten.

Gegen Hannover 96, dem nächsten Gegner, wird Schmidts Mannschaft wohl wieder sprinten und stressen. Und das mit Vollgas. Eine andere Option gibt es bei dieser Taktik nicht. Wie es aussieht, wenn das Pressing nur halbherzig umgesetzt wird, war bei der 0:3-Niederlage gegen Schlusslicht Ingolstadt kurz vor Weihnachten zu beobachten. "Wenn wir ein bisschen weniger machen, reicht es nicht, dann haben wir keine Chance. Das hat man in Ingolstadt gesehen", meint Daferner. Es könnte eine anstrengende Rückrunde werden.