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Deutschlands Toleranz-Botschaft in Katar war hilflos, aber richtig

Hat die deutsche Mannschaft sich bei der WM lächerlich gemacht? Wurde zu viel über Binde & Co. berichtet? Nein, sagt Medienexperte Michael Schaffrath.

Von Oliver Reinhard
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Weil sie nicht mit Toleranz-Binde auflaufen durften, protestierte die deutsche Mannschaft mit der Maulkorb-Geste. Später wurde bekannt: Nur zwei Spieler standen auch hinter dieser Geste. Was die Frage aufwirft: Sollten Teamführung, Management oder wer auc
Weil sie nicht mit Toleranz-Binde auflaufen durften, protestierte die deutsche Mannschaft mit der Maulkorb-Geste. Später wurde bekannt: Nur zwei Spieler standen auch hinter dieser Geste. Was die Frage aufwirft: Sollten Teamführung, Management oder wer auc © Christian Charisius/dpa

Es gehört zu den Bildern des Jahres: Die Nationalmannschaft hält sich den Mund zu aus Protest dagegen, dass ihr Kapitän keine Toleranz-Binde tragen durfte. Professor Michael Schaffrath (56) leitet den Arbeitsbereich für Medien und Kommunikation der Technischen Universität München und hat die WM in Katar sehr genau beobachtet. Wir sprachen mit dem Experten für Sport-Publizistik über Politik im Fußball und über die deutsche Berichterstattung von dem umstrittenen Fußball-Großereignis am Golf.

Herr Schaffrath, im Rückblick auf die Fußball-WM in Katar erinnern wir uns vor allem an ein Thema …

Klar: die Binde, mit der auch die deutsche Mannschaft ein Zeichen für Toleranz setzen wollte.

Haben die Medien es mit der Berichterstattung darüber übertrieben?

Nein. Die WM fand in einem Land statt, wo die Menschenrechte sehr eigenartig interpretiert werden. Und die Möglichkeiten, in Katar Zeichen zu setzen etwa gegen Frauen-Diskriminierung und Homophobie, sind sehr limitiert. Ich habe mich eher darüber gewundert, dass in den zwölf Jahren seit Vergabe der Spiele bis auf wenige Ausnahmen relativ wenig über die Situation in dem Emirat berichtet wurde.

Die Binde als Zeichen für Toleranz und gegen Diskriminierung – war das angesichts der Umstände eine gute Idee oder eher inkonsequent und verlogen, weil doppelmoralisch?

Für mich war es ein hilfloser Versuch, aber nicht verlogen. Problematisch war eher, dass die Mannschaften von Deutschland und sieben anderen Nationen schon eingeknickt sind, als die Fifa mit Sanktionen nur gedroht hat. Hätte sie tatsächlich die Top-Nationalteams acht europäischer Staaten mit gelben Karten oder Punktabzug belegt? Das halte ich für sehr unwahrscheinlich.

Acht europäische Mannschaften wollten die spezielle Kapitänsbinde als Zeichen gegen Diskriminierung und für Vielfalt in Katar tragen, wo Menschenrechte weniger gelten, erst recht für Nicht-Staatsbürger. Das wurde vom Fußball-Weltverband Fifa untersagt.
Acht europäische Mannschaften wollten die spezielle Kapitänsbinde als Zeichen gegen Diskriminierung und für Vielfalt in Katar tragen, wo Menschenrechte weniger gelten, erst recht für Nicht-Staatsbürger. Das wurde vom Fußball-Weltverband Fifa untersagt. © Sebastian Gollnow/dpa

Wie sehen Sie das grundsätzlich: Sollte „der Westen“ in schwierigen Ländern für Menschenrechte und gegen Diskriminierung Zeichen setzen? Oder ist das post-kolonialistisches Belehrertum?

Wenn man in anderen Ländern zu Gast ist, muss man deren Sitten und Kulturen respektieren. Das ist der eine Punkt. Und man wusste seit zwölf Jahren, in was für ein Land man die WM gibt. Genauso wie das IOC wusste, was es tat, als es die Olympischen Spiele nach China gab: In ein Land, in dem Minderheiten diskriminiert und verfolgt werden. Trotzdem darf man das durchaus thematisieren.

Nun wird bei der Vergabe von sportlichen Großereignissen immer wieder gern behauptet, man könne durch solche Events in solchen Ländern Veränderungen zum Besseren erreichen.

Das halte ich nun wirklich für verlogen. Denn ich kenne kein wirklich historisches Beispiel, bei dem dieser Gedanke nicht mehr als Wunschdenken blieb. Glaubt jemand ernsthaft, nach dieser Fußball-WM wird sich in Katar in Sachen Menschenrechte irgendetwas zum Besseren wandeln? Hat die Vergabe der WM an Russland 2018 mehr Weltfrieden gebracht? Wie wir alle wissen, ist das Gegenteil eingetreten. Es geht auch im Fußball nur um eine einzige Sache: um Geld, Kommerzialisierung, um Profitmaximierung. Das Kulturgut Spitzensport ist fast nur noch eine Wirtschaftsware. Das halte ich für falsch und gesellschaftspolitisch sogar für gefährlich.

Ist es da nicht konsequent, wenn die Fifa Politik vom Rasen fernhalten will?

Schon die Vergabe einer WM an ein Land ist Politik, nämlich Finanzpolitik. Und sie ist außenpolitische PR, denn eine Nation macht immer auch Werbung für sich mit den Spielen und den Bildern davon. Und wie das weltweite Presse-Echo zeigt, ist diese Rechnung auch ziemlich gut aufgegangen, zumindest im arabischen Raum und im südamerikanischen. Auch in Europa gab es positive Presse, etwa weil die WM gut organisiert und sicher war. Ausschreitungen oder gar Hooliganismus gab es gar nicht. Aber das darf doch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Menschenrechte in Katar ignoriert werden. Und wenn die zu unseren Werten gehören, dann wären diese doch wenig wert, wenn wir nicht dafür eintreten würden.

Beim Länderspiel in Oman vor der Fußball-WM in Katar trug Kapitän Manuel Neuer die Kapitänsbinde mit der Aufschrift "One Love" noch.
Beim Länderspiel in Oman vor der Fußball-WM in Katar trug Kapitän Manuel Neuer die Kapitänsbinde mit der Aufschrift "One Love" noch. © Christian Charisius/dpa (Archiv)

Heute wissen wir: Nur zwei Spieler standen hinter der Hand-vorm-Mund-Geste, der Rest des Kaders nicht. Wie verlogen dürfen solche Aktionen sein?

Können wir von teils sehr jungen Fußballern erwarten, dass sie mit Binde oder Hand-vorm-Mund stellvertretend für Werte eintreten, die unsere Politiker auch oftmals nur zur Schau stellen? Wenige Wochen vorher hat Wirtschaftsminister Habeck fast in einem Kniefall den Emir von Katar um Gas angebettelt – da haben Sie die Doppelmoral. Wenn es um Moneten geht, bleibt Moral oft auf der Strecke. Egal, wer die Geste beschlossen hat, ob Mannschaftsrat, DFB, Präsidium oder Oliver Bierhoff – man darf eine Mannschaft nicht zu einer Aktion bringen, hinter der sie nicht wirklich vollumfänglich steht.

Was halten Sie von dem Contra-Binde-Argument: Der iranische Fußballverband wirbt ja auch nicht für das Mullah-System und die Mannschaft von Brasilien nicht für ihren Premier Bolsonaro?

Man kann Statements für Menschenrechte wohl kaum mit Werbung für politische Regimes oder Führer vergleichen. Aber die grundsätzliche Frage bleibt relevant: Inwieweit dürfen sich Sportler instrumentalisieren lassen für Systeme, Machthaber, Parteien oder Weltanschauungen? Bei Mannschaften ist das immer ganz dünnes Eis, denn das ist ja keine homogene Truppe, die weltanschaulich, parteipolitisch oder religiös in ein und dieselbe Richtung denkt. Fußballer sind als Mannschaft eine Sport-Interessensgemeinschaft auf Zeit und kein politisches Aktivisten-Kollektiv.

Argentiniens Fußball-Altstar Jorge Valdano hat unlängst gesagt: „Dass wir uns zur kulturellen Weltpolizei aufgeschwungen haben, hat uns zu einigen Übertreibungen verleitet.“ Also zur Schwarzmalerei, was die Situation in Katar betrifft. Stimmen Sie zu?

Ich glaube nicht, dass wir die Situation in Katar schwärzer malen, als sie ist. Valdano sieht das sicher vor einem speziellen Hintergrund. Er ist Argentinier, und als die Fußball-WM 1978 an sein Land vergeben wurde, herrschte da ein brutales Militärregime. Wie gesagt, ich bin dafür, die Sitten in anderen Ländern zu respektieren. Aber man muss in menschenrechtskritischen Ländern kein Groß-Ereignis veranstalten.

Viele Kataris haben die deutsche Mannschaft wegen deren Geste verhöhnt. Was diese beiden ansonsten über die Sklavenhaltung ihres Landes denken, ist nicht bekannt.
Viele Kataris haben die deutsche Mannschaft wegen deren Geste verhöhnt. Was diese beiden ansonsten über die Sklavenhaltung ihres Landes denken, ist nicht bekannt. © Twitter Affairs

Als unsere Mannschaft ausgeschieden ist, hörte man es vielerorts: Haben wir Deutschen bekommen, was wir mit unserem Sendungsbewusstsein auch verdient haben, nämlich Hohn und Spott?

Ach wissen Sie, Fußball ist ein unglaublich dynamisches Geschäft. Wenn Deutschland ins Finale gekommen wäre oder sogar den WM-Titel gewonnen hätte, wäre passiert, was immer passiert: Dann hätte es nach Hohn und Spott ganz schnell wieder Heroisierung und Bewunderung gegeben.

Neigen deutsche Sportjournalisten dazu, so lange irgendetwas Kritikwürdiges zu suchen, bis sie es gefunden haben, und sei es noch so banal?

Ich finde im Gegenteil, dass in unserer Sportberichterstattung vor allem im Fernsehen die Themen Kritik und Kontrolle, normative Funktionen des Journalismus, immer mehr einer stärkeren Unterhaltungsorientierung geopfert werden, was klar an ökonomischen Zwängen liegt. Vor vielen Jahren hat Ihr ZDF-Kollege Michael Palme sinngemäß gesagt: „Wir können die Ware, für die wir viel Geld bezahlt haben, nicht kaputtreden.“ Man steht vor dem Dilemma, extrem teure Übertragungsrechte kaufen zu müssen, und sich dann zu scheuen, das teure Produkt auch mal zu kritisieren. Dabei sind ARD und ZDF beitragsfinanziert, die sind nicht einmal komplett auf Werbe-Einnahmen angewiesen wie RTL oder Sat1-ProSieben.

Kurios fand ich: Als ARD-Moderatorin Esther Sedlacek den Team-Geschäftsführer Oliver Bierhoff eine völlig normale Nachfrage gestellt hat, was die Pflicht eines jeden Interviewers ist, wurde sie von der Öffentlichkeit …

... dafür in den Olymp des Journalismus gehoben – ja, das ist mir auch aufgefallen. Es stimmt: In der TV-Berichterstattung waren solche Standards wie wirklich kritisches Nachfragen lange Zeit eher selten. Hans Leyendecker von der Süddeutschen Zeitung hat vor Jahren mal von einer „klebrigen Nähe“ zwischen Sportjournalisten und Spitzensportlern gesprochen, die es so in keinem anderen journalistischen Genre gibt. Stellen Sie sich mal vor, wie es wäre, wenn Politik-Journalisten Minister öffentlich duzen würden, was im Sportjournalismus zwar auch abnimmt, aber immer noch vorkommt.

Hat durch den langjährigen Anwanz- und Duz-Journalismus von Leuten wie Waldemar Hartmann auch der Respekt der Sportler für Journalisten gelitten?

Ganz sicher sogar. Als Ihr Kollege Nils Kaben nach dem Finale der Champions-League Toni Kroos interviewte und dem die – übrigens völlig berechtigten – Fragen nicht passten, brach Kroos das Interview ab und ging einfach weg. Diese totale Respektlosigkeit zeigt, wie klebrig die Nähe oftmals immer noch ist. Sportjournalisten sind keine Fans mit Mikrofon. Und wenn sie zum Fan mit Mikrofon mutieren, erfüllen sie nicht mal ansatzweise ihre normativen Funktionen und werden irgendwann von Sportlern dann auch nicht mehr in ihrer journalistischen Rolle ernst genommen. Warum auch?

Ist unser TV-Sportjournalismus am Ende sogar kritikloser als anderswo?

Umgekehrt: Man muss da die Relationen betrachten, und gerade im Vergleich zu südlichen Ländern ist er sogar recht kritisch. Toni Kroos hat zu Kaben in etwa gesagt: Du stellst erst drei negative Fragen, da weiß man schon, dass du aus Deutschland kommst. Das zeigt: Kroos ist von Real Madrid her die ziemlich kritiklose spanische Sport-Berichterstattung gewohnt.

Warum nahm niemand vom Management Kroos beiseite und hat gesagt: So geht das aber nicht, mein Junge?

Weil der Einfluss der Verbände, der Medien, der Direktoren und Manager auf die Ich-AGs der Fußballprofis immer begrenzter wird. Durch die völlig absurden Gehälter, die Spieler kassieren, ist bei etlichen die Bodenhaftung gesunken und die Beratungsresistenz gestiegen.