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Stumme Zeugen eines Haftlagers

Reichsbahn und Stahlwerk betrieben zehn Jahre lang ein Gefängnis in Gröba. Dabei hatte die Stadt dort andere Pläne.

Von Antje Steglich
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Der Eingang zur ehemaligen Strafvollzugseinrichtung an der Strehlaer Straße in Riesa: Das Wachhäuschen ist verschwunden, auch das Tor war in den 1960ern und 70ern ein anderes. Die Mauer aber ist noch original – die Innenseite war früher mit Karbidschlamm
Der Eingang zur ehemaligen Strafvollzugseinrichtung an der Strehlaer Straße in Riesa: Das Wachhäuschen ist verschwunden, auch das Tor war in den 1960ern und 70ern ein anderes. Die Mauer aber ist noch original – die Innenseite war früher mit Karbidschlamm © Sebastian Schultz

Riesa. Der Wachturm steht nicht mehr, auch nicht die Baracken. Die Mauer der ehemaligen Strafvollzugseinrichtung zieht sich aber noch immer rings um das Gelände an der Strehlaer Straße. Von 1967 bis 1977 sind bis zu 750 Häftlinge in dem ehemaligen Wohnlager für Bauarbeiter untergebracht. Eine Mitarbeiterin erinnert sich.

„Sie sind in Bussen bis an die Schleuse herangefahren und mussten hier aussteigen“, erzählt sie von den Gefangenen. Mit 19 Jahren tritt sie ihren Dienst als Zivilangestellte in der Einrichtung an. Das große Tor ist damals noch aus massivem Stahl, der keinen Blick ins Innere zulässt. 

Die Mauer wird durch eine 380-Volt-Starkstromleitung verstärkt, zudem läuft ein zweiter Zaun aus Holz rings um das Gelände. Die junge Frau, als Tochter eines Wachmannes groß geworden, ist für die Abrechnung, die Arbeitseinsätze und die Verwaltung des Gefangenengeldes verantwortlich. Sie ist 1975 eine der wenigen Frauen in der Einrichtung. „Das war für mich aber ein ganz normales Arbeiten. Wenn ich dort mit Angst rangegangen wäre, wäre ich fehl am Platz gewesen.“

Ihr Arbeitsplatz ist eine massive Baracke jenseits der Mauer. Dort sind die Verwaltung und die Angehörigen des Strafvollzuges untergebracht. Zu Spitzenzeiten arbeiten neben ihr knapp 90 Genossen in dem Haftlager. Sie gehören zur Abteilung Strafvollzug Dresden, also zur Volkspolizei. Viele haben zunächst überhaupt keine Erfahrung.

 Und immer wieder werden Ordnung und Sicherheit in dem Haftlager bemängelt. Fluchtversuche sind zwar keine dokumentiert, allerdings gibt es häufig Schlägereien unter den Gefangenen. „Nach ein bis zwei Monaten hat ein Gefangener versucht, mir einen Brief zuzuschieben, um den raus zu schmuggeln. Das habe ich aber nicht gemacht – und das war auch das einzige Mal“, erinnert sich die ehemalige Mitarbeiterin. „Es gab auch mal unschöne Bemerkungen, aber das ignorierte ich.“

Sowieso gibt es wenig direkten Kontakt. Alle Häftlinge sind zur Arbeit verpflichtet und nur wenige Stunden am Tag im Lager. Die Bezirksbehörde der Volkspolizei Dresden ist zwar für Betrieb und Bewachung zuständig, die Deutsche Reichsbahn und der VEB Rohrkombinat Stahl- und Walzwerk Riesa aber finanzieren das Haftlager. Im Gegenzug bekommen die Betriebe billige Arbeitskräfte. 

– Der Tag im Lager ist deshalb straff durchorganisiert. Wecken. Zählappell. Frühstück. Ausrücken. Arbeiten. Mittagessen gibt es im Betrieb – 140 Gramm Fleisch täglich sind aufgrund der körperlich schweren Arbeit vorgeschrieben. Die restlichen Mahlzeiten werden von der Stahlwerksküche, von der Konsum-Großbäckerei oder der VEB Fleischverarbeitung, kurz Fleiwa, geliefert. Ab 1968 gibt es auch eine kleine Verkaufsstelle im Lager: „Bisschen Kaffee und Zigaretten – das war das A und O“, erinnert sich die Mitarbeiterin. 

Eine Stunde Hofgang am Tag ist Pflicht. Die Gefangenen marschieren im Gleichschritt. Immer im Kreis. „Das ging alles sehr militärisch zu und war für mich schon beeindruckend.“ In der spärlichen Freizeit können die Häftlinge Tischtennis oder Schach spielen, sich ein Buch aus der kleinen Bücherei leihen. Geschlafen wird in zwei- und dreistöckigen Betten, die Schlafräume sind nach Arbeitsbrigaden aufgeteilt.

Der Großteil der Gefangenen ist noch recht jung. Mehr als die Hälfte der Männer ist laut einer Statistik von 1974 zwischen 18 und 25 Jahre alt. Sie haben meist Haftstrafen zwischen sechs und 24 Monaten abzusitzen – oft, weil sie gegen die staatliche Ordnung verstoßen haben. „Rowdytum“ oder der „ungesetzliche Grenzübertritt“, wie es im Paragrafen 213 im DDR-Strafgesetzbuch heißt, wird ihnen vorgeworfen. Besonderen Wert legt der DDR-Strafvollzug deshalb auf die Erziehung.

Während nur wenige Gefangene von der Volkshochschule in den Hauptfächern unterrichtet werden, ist nicht nur der staatsbürgerliche Unterricht für alle Pflicht. Die Häftlinge sind auch angehalten, im DDR-Fernsehen die Aktuelle Kamera oder Den Schwarzen Kanal zu verfolgen.

In der Stadt sorgt das Haftlager, das ab 1975 Strafvollzugseinrichtung (StVE) heißt – indes von Anfang an für Kontroversen. Reichsbahn und Stahlwerk streiten permanent um Kosten und Arbeitskräfte. Zudem gibt es Beschwerden von Bürgern, die ein Gefängnis in Wohnnähe nicht gutheißen.

Im März 1967 wird das Lager von der Deutschen Reichsbahn eingerichtet und ab September 1967 vom Rohrkombinat erweitert. Eine Genehmigung der Stadt Riesa gibt es nicht. Die hat nämlich andere Pläne: 1966 beschließt die Stadtverordnetenversammlung, auf dem Areal ein Versorgungszentrum zu errichten – mit Milchhof, Getränkebetrieb, Wasseraufbereitungswerk und Großschälküche. Der damalige Bürgermeister Rudolf Schröder ist deshalb sauer über das eigenmächtige Vorgehen der Betriebe. Er verhängt 1968 ein Bauverbot für das Areal und fordert die Räumung bis 1970. Tatsächlich dauert es aber noch Jahre bis zur Schließung. Dabei sind die Zustände zu dieser Zeit kaum noch tragbar: Die Baracken sind baufällig, das Ungeziefer steckt in jeder Ritze. Doch erst 1977 ziehen die Häftlinge nach Zeithain um.

Kurz darauf werden die Holzbaracken abgerissen, die massiven Bauten aber zunächst weiter von der Kampfgruppe – einer Art Freiwilligen-Armee der volkseigenen Betriebe – genutzt. Die letzten Baracken fallen erst lange nach der Wende. Zurzeit ist das Areal eine Brachfläche, demnächst soll darauf ein Solarpark entstehen.

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