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Erstmals Pina Bausch an einem Ost-Theater

Jubel für ein 45 Jahre altes Stück in der Semperoper. Die alte „Iphigenie auf Tauris“ ist aufregend neu.

Von Bernd Klempnow
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Die größte Suggestion erzeugte die Bausch-stilsichere Darstellung der Iphigenie durch die große, extrem schlanke Sangeun Lee.
Die größte Suggestion erzeugte die Bausch-stilsichere Darstellung der Iphigenie durch die große, extrem schlanke Sangeun Lee. © Ian Whalen

Langsam gehen die Superlative aus. Das Ballett der Semperoper hat in der jüngsten Zeit so viele absolut überzeugende Produktionen herausgebracht, dass der Jubel kaum noch steigerbar ist. Auch an diesem Donnerstag gab es eine solche Aufführung, deren außerordentlicher Rang schon mit dem ersten Akkord, dem ersten Ton, der ersten Tanzfigur deutlich wurde. Dabei stand ein 45 Jahre altes Stück zur Premiere, noch dazu von einer Choreografin, deren Kunst dem Dresdner Ensemble so völlig fremd ist und das auf einer eher behäbigen Oper von Christoph Willibald Gluck fußt: „Iphigenie auf Tauris“.

Das Publikum in der Semperoper folgte dem Geschehen um die griechische Prinzessin Iphigenie, die auf der Insel Tauris als Priesterin ihren verloren geglaubten Bruder opfern soll, von Anfang an gebannt. Auf Zwischenapplaus verzichtete es, sodass die Spannung hielt, um am Ende die Tänzer und Sänger, den Staatsopernchor und die Staatskapelle mit Ovationen zu feiern. Und tatsächlich ist diese Produktion eine der eindrucksvollsten der vergangenen Spielzeiten. Das war erhofft, aber nicht unbedingt zu erwarten gewesen.

Denn die Inszenierung stammt von der heute legendären Wuppertaler Choreografin Pina Bausch (1940 – 2009). Die hatte 1974 als junge, kaum bekannte Künstlerin Glucks „Iphigenie“ als Gesamtkunstwerk von Tänzern, Sängern, Chor und Orchester inszeniert. Sie begründete damit das Genre der Tanzoper, in der Wort, Tanz und Musik live dargeboten nicht nur gleichberechtigt sind, sondern einander bedingen. Ihr gelang ein Werk aus einem Guss, voller Kraft und Archaik, so dynamisch wie dramatisch, ein zeitloser Klassiker der Moderne. Erstaunlich geriet ihr Gespür für musikalische Farben, Bögen und Zusammenhänge.

Und immer wieder formierte sich das Corps de Ballet  zu Bewegungschören, die die Weichheit und Eleganz der genialen weißen Bilder à la „Schwanensee“ modern weiterentwickelten.
Und immer wieder formierte sich das Corps de Ballet  zu Bewegungschören, die die Weichheit und Eleganz der genialen weißen Bilder à la „Schwanensee“ modern weiterentwickelten. © Ian Whalen

Eher uninteressant war die antike Vorlage. Klug reduzierte Bausch die Musik und den Gesang auf knapp zwei Stunden. Sie konzentrierte sich auf das Seelenleben der Protagonisten. Und das ist nicht ausgeglichen, ließ schon die phänomenale Sturmmusik zu Beginn erhören. Zu der tanzte Iphigenie ihre Traumata und Todessehnsüchte. Dirigent Jonathan Darlington am Pult der Staatskapelle musizierte den sonst oft schleppend interpretierten Gluck mit Leidenschaft und Tempo. So ließ er gewollt exotische Klangreize der Partitur aufleuchten. Das Werk bekam von Anfang an jenen Drive, um mit den Tänzern in ihren expressiven Szenen mitzuatmen.

Schnörkellos-berührende Szenen erfand die Bausch, markante Bewegungen speziell der weit gestreckten, zum Körperzentrum geführten Arme prägten ihre Kunst. Und immer wieder ließ sie das Corps de Ballet sich zu Bewegungschören formieren, die die Weichheit und Eleganz der genialen weißen Bilder à la „Schwanensee“ modern weiterentwickelten.

Anders als in späteren Arbeiten, choreografierte sie nicht nur für die Frauen schöne Momente, sondern entwarf eindringliche Szenen für die Männer. Selten wurde eine platonische Freundesliebe so existenziell ausgetanzt wie die der beiden sich gegenseitig opfernden Helden. Fast stücktragend agierten Francesco Pio Ricci als gehetzter Orest und Julian Amir Lacey als der ihn stützender Pylades. Sie mieden das effektsichere Schaustellen und gingen konzentriert bis an athletische Grenzen.

Doch die größte Suggestion erzeugte die Bausch-stilsichere Darstellung der Iphigenie durch die große, extrem schlanke Sangeun Lee. War sie anfangs vor allem Priesterin, geriet sie zunehmend in Bedrängnis wegen des Jobs. Eindrücklich ihre Symbolik: etwa im vierten Bild das Gesicht auf dem Boden, die Arme ausgestreckt wie ein ans Kreuz geschlagener Mensch. Oder wenn sie in der Opferwanne kauerte und zum blinkenden Messer griff, um es dem noch unerkannten Bruder Orest in den Hals zu stoßen – und doch zuvor in Ohmacht fiel. „Gott, all mein Blut, es stocket, und mein Herz...“, sang dazu die Sopranistin Gabriela Scherer.

Francesco Pio Ricci als gehetzter Orest und Julian Amir Lacey als der ihn stützender Pylades mieden das effektsichere Schaustellen und gingen konzentriert bis an athletische Grenzen.
Francesco Pio Ricci als gehetzter Orest und Julian Amir Lacey als der ihn stützender Pylades mieden das effektsichere Schaustellen und gingen konzentriert bis an athletische Grenzen. © Ian Whalen

Genau das war das Geniale dieser Inszenierung. Die sechs Sängersolisten trugen von den Seitenbalkonen des 1. Ranges ihre Parts vor, verstärkten so die Bühnenaussagen der Tänzer. Vor allem der Dresdner Sebastian Wartig setzte mit seinem gereiften Bariton aufhörenswerte Akzente als Orest. Der Staatsopernchor aus dem Graben heraus, war eine Güte für sich – wie auch die Kapelle. Gut ein Dutzend Berater für die einzelnen Partien, für Musik, Bühne und Licht halfen bei der Einstudierung. Seit Jahrzehnten gab es hier wieder einmal so eine spartenübergreifende Produktion.

Deshalb ist es schade, dass „Iphigenie“ nur ein paar Mal angesetzt ist. Zumal die Semperoper das erste Haus ist, das dieses Werk außerhalb Wuppertals zeigen darf. Sie ist zugleich das erste Ost-Haus, das von der Pina Bausch Foundation eine Arbeit der Prinzipalin überantwortet bekam.

Wieder am 8., 10., 12. und 15. Dezember; Kartentel. 0351 4911705