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Diese Vögel gibt es noch in Sachsen: Ein Überblick.

Über 190 Arten brüten in Sachsen. Hunderte Vogelkundler erfassen, wie sie trotz Klimawandels entwickeln. Ein Streifzug mit Sachsens führendem Ornithologen.

Von Susanne Plecher
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Dr. Winfried Nachtigall muss noch nicht mal hinschauen, um die Vögel im Neschwitzer Barockpark zu erkennen. Der Ornithologe leitet den Verein Sächsische Vogelschutzwarte, der im Park seinen Sitz hat.
Dr. Winfried Nachtigall muss noch nicht mal hinschauen, um die Vögel im Neschwitzer Barockpark zu erkennen. Der Ornithologe leitet den Verein Sächsische Vogelschutzwarte, der im Park seinen Sitz hat. © www.loesel-photographie.de

Mit Winfried Nachtigall durch den kleinen Barockpark Neschwitz zu spazieren, ist ein Erlebnis. Es kann passieren, dass er unvermittelt seine rechte Hand zum Sprachrohr formt, ein „Klüklüklüklü“ schmettert und sich umblickt. Was tut er da? „Ich rufe den Grünspecht. Sie werden sehen, er antwortet gleich.“

Nachtigall ist Biologe. Er ist Ornithologe durch und durch, einer der führenden Sachsens. Der richtige Mann also, um zu erfragen, wie es den Singvögeln im Freistaat geht, wenn Wälder brennen, Bäche versiegen, Insekten sterben und immer mehr Flächen versiegelt werden.

Keinen anderen Vogel gibt es in Sachsen so häufig wie den Buchfink. Seine 250.000 bis 500.000 Brutpaare machen 11,3 Prozent der gesamten Bestände aus.
Keinen anderen Vogel gibt es in Sachsen so häufig wie den Buchfink. Seine 250.000 bis 500.000 Brutpaare machen 11,3 Prozent der gesamten Bestände aus. © dpa

Es gibt bis zu 4,4 Millionen Brutpaare

In Sachsen gibt es weit mehr als Amsel, Drossel, Fink und Star. Etwa 190 Brutvogelarten tummeln sich auf den Wiesen, in den Wäldern, in Städten, Dörfern, Mooren, auf Seen, an Flüssen. Zwischen 2,2 und 4,4 Millionen Brutpaare gibt es schätzungsweise insgesamt. Etwa einem Viertel der Arten geht es seit Jahren so gut, dass sie stetig mehr werden. Dem Drosselrohrsänger zum Beispiel, der in den Röhrichten an Seen und Tümpeln lebt oder dem winzigen Zaunkönig, den man besonders oft in Auwäldern findet. Andere Populationen bleiben stabil wie Goldammer oder Neuntöter.

Einige sind immer seltener, wie etwa die Dorngrasmücke, die Feldraine und Gräben mit Brennnesseln, Brombeergestrüpp und Rainfarn liebt. Oder der Gelbspötter, der oft auf Friedhöfen oder in Parks, sehr wahrscheinlich aber in jungen Pappelanpflanzungen mit Holunder zu finden ist. Generell ist die Artendichte im gewässerreichen Tiefland am höchsten. In fichtendominierten Hochlagen ist weniger los.

Der sächsische Bestand der Mönchsgrasmücke wird auf bis zu 240.000 Brutpaare geschätzt und hat stark zugenommen.
Der sächsische Bestand der Mönchsgrasmücke wird auf bis zu 240.000 Brutpaare geschätzt und hat stark zugenommen. © dpa

Dass man als Nichtornithologe nur einen Bruchteil der Vögel kennt, liegt auch daran, dass die zehn häufigsten Arten mehr als die Hälfte des gesamten Brutvogelbestandes ausmachen. Allein die Buchfinken, Amseln, Haussperlinge und Kohlmeisen summieren sich auf etwa 1,35 Millionen Paare. Die anderen sieht man einfach nicht so oft.

Auf dem Weg zum Neschwitzer Schloss steht eine alte Platane, eine Skulptur von Baum. Auf ihren Ästen sitzen Stare –Platz fünf der Rangliste– in der Frühlingssonne und tirilieren. Sie sind Fremdsprachenprofis und geben sich gern als jemand aus, der sie nicht sind. „Der hier zum Beispiel macht den Rotmilan nach“, sagt Nachtigall mit Fingerzeig nach oben. Fehlt nur noch, dass er übersetzt, was der Star pfeift. Ganz aus der Luft gegriffen ist das nicht: Er hat seine Diplom- und Doktorarbeit über die prächtigen Rotmilane geschrieben.

Das sind die zehn häufigsten Brutvogelarten in Sachsen

  • Platz 1: Buchfink mit 0,25 bis 0,5 Millionen Brutpaaren
  • Platz 2: Amsel mit 0,15 bis 0,3 Millionen Brutpaaren
  • Platz 3: Haussperling mit 0,15 bis 0,3 Millionen Brutpaaren
  • Platz 4: Kohlmeise mit 0,12 bis 0,25 Millionen Brutpaaren
  • Platz 5: Star mit 0,1 bis 0,2 Millionen Brutpaaren

  • Platz 6: Rotkehlchen mit 0,09 bis 0,18 Millionen Brutpaaren
  • Platz 7: Feldlerche mit 0,08 bis 0,16 Millionen Brutpaaren
  • Platz 7: Mönchsgrasmücke mit 0,08 bis 0,16 Millionen Brutpaaren
  • Platz 7: Blaumeise mit 0,08 bis 0,16 Millionen Brutpaaren
  • Platz 10: Zilpzalp mit 0,07 bis 0,14 Millionen Brutpaaren (Quelle: Nachtigall/ letzte Brutvogelkartierung 2004-2007)

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Sachsen hat die umfangreichsten Vogel-Daten

Dass sich relativ genau sagen lässt, wie es den einzelnen Arten geht, liegt an den landesweiten Brutvogelkartierungen. Die Erste war zwischen 1978 und 1982, die Vierte hat im vergangenen Jahr begonnen und endet 2025. In keinem anderen Bundesland ist über so lange Zeit so genau und immer wieder der Bestand an Vögeln beobachtet und erfasst worden.

Dafür wird die Landesfläche in 659 Raster aufgeteilt. Jeder Quadrant ist 32 Quadratkilometer groß. 340 ehrenamtliche Vogelkundler erfassen akribisch, welche Arten darin wie häufig vorkommen, ob sie nur rasten oder sogar brüten. Manche Kartierer bearbeiten acht dieser Flächen, die meisten eine oder zwei.

Der Aufwand ist erheblich. Bis zu 150 Stunden jährlich brauche man, um einen Quadranten wiederholt und standardisiert zu erfassen, schreibt der Naturschutzbund in den Mitteilungen für sächsische Ornithologen. Noch ist nicht das ganze Land abgedeckt: Etwa 25 Prozent fehlen. Das sind Gebiete in Döbeln, südlich von Torgau, im mittleren Erzgebirge und im Zittauer Gebirge. Freiwillige vor.

Der Stieglitz gehört zu den stabilen Arten in Sachsen: Er fühlt sich hier einfach wohl. Die Ornithologen gehen von 12.000 bis 24.000 Brutpaaren aus, die in Alleen, Obstgärten und Ortschaften mit höheren Obstbäumen brüten.
Der Stieglitz gehört zu den stabilen Arten in Sachsen: Er fühlt sich hier einfach wohl. Die Ornithologen gehen von 12.000 bis 24.000 Brutpaaren aus, die in Alleen, Obstgärten und Ortschaften mit höheren Obstbäumen brüten. © dpa

Anhand der bisherigen Monitorings lassen sich langfristige Entwicklungen ablesen. Die sagen zum Beispiel: Der Amsel geht es richtig gut. Das Amselsterben, das vor wenigen Jahren landauf, landab besprochen wurde, findet sich nicht in den Daten wieder. 2016 schätzten die Experten, dass bis zu 390.000 Brutpaare in Sachsen leben. 20 Jahre zuvor erfasste man etwa 150.000 weniger.

Von den Gelbspöttern hingegen gab es in der ersten Kartierungswelle 1978 noch bis zu 50.000 Brutpaare in Sachsen. 2016 taxierten Ornithologen ihre Zahl auf maximal 8.000.Im Pavillon rechts hinter der Star-Platane ist die Sächsische Vogelschutzwarte Neschwitz untergebracht. Sie ist gleichzeitig die Kartierzentrale. Nachtigall leitet sie. Bei ihm laufen alle Daten zusammen.

Den meisten Arten geht es besser als befürchtet

Im Schlosspark ringsum zwitschert, schnalzt, trommelt, krakelt, säuselt und klopft es aus vielen Kehlen. „Anfang April brüllt es hier, dann sind die Rufe kaum noch zu unterscheiden“, sagt Nachtigall und ruft noch ein „Klüklüklüklü“ durch die hohle Hand. 39 verschiedene Arten hat er allein im Schlosspark gezählt. Der Grünspecht gehört wohl zu den unhöflicheren Exemplaren. „Ich wundere mich, warum er nicht antwortet.“ Dafür landet ein Mittelspecht im Tiefflug auf einer alten Eiche. „Von denen gibt es immer mehr.“

Überhaupt geht es den meisten Brutvogelarten besser, als man vermuten würde, sagt der Biologe. Die Bodenbrüter ausgenommen. Die Bestände vieler Vogelarten der sächsischen Agrarlandschaft, darunter ehemals weit verbreitete wie Rebhuhn, Feldlerche, Schafsstelze oder Kiebitz, sind drastisch zurückgegangen. Wer vermutet, dass das nur mit dem Insektensterben zusammenhängt, irrt, wie sich am Beispiel des Braunkehlchens zeigen lässt.

Seit Mitte der 1990er Jahre untersucht der Vogelberinger Uwe Leipert deren Vorkommen im südwestlichen Teil des Landkreises Bautzen. Von anfangs mehr als 100 Brutpaaren konnte er 2022 kein einziges mehr finden. Das Problem: Die Wiesen sind durch intensive Nutzung artenarm geworden, sie bieten zu wenig Versteck- und Brutmöglichkeiten. Die Küken werden von Raubtieren gefressen, sterben bei der Mahd oder werden von ihren Eltern verlassen, weil die Menschen sie durch Lärm und Bautätigkeiten stören. Deutschlandweit, europaweit ist es das gleiche Trauerspiel.

Das Braunkehlchen ist ein Sommervogel und Durchzügler. Es ist Vogel des Jahres 2023. Ihm geht es in Sachsen nicht mehr gut, weil seine Lebensräume schwinden. Von 5.000 Brutpaaren 1978 wurden 2016 noch 800 gezählt. Inzwischen dürften es noch weniger sein.
Das Braunkehlchen ist ein Sommervogel und Durchzügler. Es ist Vogel des Jahres 2023. Ihm geht es in Sachsen nicht mehr gut, weil seine Lebensräume schwinden. Von 5.000 Brutpaaren 1978 wurden 2016 noch 800 gezählt. Inzwischen dürften es noch weniger sein. © 123rf

Dörfer und Städte sind Archen für die Vögel

Ein Gegenbeispiel sind die Siedlungsräume, sie seien fast schon Rückzugsorte für viele Vogelarten. In den Kleingartensparten und Parks der Städte und den Streuobstwiesen der Dörfer gibt es keine Monokulturen. Sie bieten Verstecke, Nahrung, Nistmöglichkeiten. „Das Bewusstsein der Leute für Natur und Landschaft hat zugenommen. Das ist eine gute Sache“, sagt der Ornithologe.

Dass immer mehr Menschen den Aufforderungen des Nabus nachkommen und winters und sommers eine Stunde lang die Vögel vor ihrer Haustür zählen, freut ihn. Wirklich belastbar sind die dabei gemachten Beobachtungen aber nicht. „Es sind Eindrücke, keine standardisierten Erfassungen“, sagt Nachtigall.

Im 19. Jahrhundert waren sie in den großen Flussauen verbreitet, aber seit den 1960er Jahren gab es in Sachsen keine Blaukehlchen mehr. Erst 1991 wurde am Otterbach in der Königsbrücker Heide wieder ein Vogel gesichtet. 2016 waren es schon 100 Paare.
Im 19. Jahrhundert waren sie in den großen Flussauen verbreitet, aber seit den 1960er Jahren gab es in Sachsen keine Blaukehlchen mehr. Erst 1991 wurde am Otterbach in der Königsbrücker Heide wieder ein Vogel gesichtet. 2016 waren es schon 100 Paare. © 123rf

Was bräuchten die Vögel, damit es ihnen dauerhaft gut gehen kann? „Mosaike von Lebensräumen, Zuständen und Nutzungsintensitäten. Wenn wir all das haben, brauchen wir über die Rote Liste nicht zu reden. Dann regelt das die Natur.“

Seine Augen leuchten. Ihn erfüllt, was er tut. Schon mit sieben ist er auf Bäume geklettert und hat in jedes Nest geschaut. „Die Vielfalt der Vögel fasziniert mich und das Ungebundene. Immer kann etwas anders sein, nichts ist vorhersehbar.“

Auf dem Schlossteich hinter ihm landet schnatternd ein Paar außergewöhnlich gezeichneter Gänse. „Nilgänse, Zuwanderer, die Art hat deutlich zugenommen.“ Winfried Nachtigall hat noch nicht einmal hingeschaut.