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"Mein Thema ist das Leben, nicht der Tod"

Wolfgang Klee begleitet für den Ambulanten Kinder-Hospizdienst Dresden schwerkranke Kinder in ihren letzten Monaten. Keine Beziehung ging ihm dabei bisher so nahe wie die zum herzkranken Max.

Von Dominique Bielmeier
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Bitte keinen Heiligenschein: Wolfgang Klee engagiert sich beim Ambulanten Kinder-Hospizdienst Dresden für schwerkranke Kinder und Jugendliche wie Max. Er ist überzeugt, dass das viele Menschen könnten - und sollten.
Bitte keinen Heiligenschein: Wolfgang Klee engagiert sich beim Ambulanten Kinder-Hospizdienst Dresden für schwerkranke Kinder und Jugendliche wie Max. Er ist überzeugt, dass das viele Menschen könnten - und sollten. © Jürgen Lösel; Marion Doering

Triggerwarnung: Dieser Beitrag behandelt die schwere Krankheit und den Tod von Kindern und Jugendlichen. Einige Passagen könnten bei manchen Menschen negative Reaktionen auslösen. Bitte seien Sie achtsam, wenn das bei Ihnen der Fall ist.

Dresden. Vor Kurzem kam ein Kollege beim Mitarbeiterfest auf Wolfgang Klee zu. Er hatte ihn auf einem Foto in der Sächsischen Zeitung erkannt, neben dem 16-jährigen Max. Im dazugehörigen Artikel ging es am Rande auch um Klees Engagement. Fast verschwörerisch flüsterte der Kollege ihm deshalb zu: "Wolfgang - Respekt. Hochachtung." Dann dieser Satz, den der 55-Jährige schon so oft gehört hat: "Ich könnte das nicht."

"Aber das stimmt so ja nicht", sagt Klee ein paar Wochen später in einem Café in der Dresdner Neustadt, als er von diesem Moment erzählt. Er ist überzeugt, dass viele tun könnten, was er tut. Die Menschen müssten sich nur mit dem Thema beschäftigen. "Aber sie wollen nichts damit zu tun haben, weil sie nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen."

"Es gibt niemanden, mit dem ich so viel über Whatsapp geschrieben habe, wie mit Max"

Sterben. Tod. Und dann auch noch von Kindern. Das geht doch zu nah, das muss doch wehtun, selbst, wenn es nicht die eigenen sind. Oder? Doch Wolfgang Klee wirkt nicht mitgenommen, nicht zerrüttet von dem, was er in den vergangenen Jahren erlebt hat. Im Gegenteil. Er strahlt über das ganze Gesicht, als er erzählt. Von Julius, von Felix, von Dominik und immer wieder: von Max.

"Es gibt niemanden, mit dem ich so viel über Whatsapp geschrieben habe wie mit Max", sagt er lachend. An Champions-League-Spieltagen ist der Chatverlauf zwischen den beiden schier unendlich. Gerade schwärmt der 16-Jährige für Union Berlin, nicht nur, weil das Team ihm ein Trikot geschenkt hat. Eines von rund 20, die er zu seinem jüngsten Geburtstag bekommen hat. Max' Mutter Jeannette ist umtriebig, wenn es darum geht, ihrem Sohn seine letzten Wünsche zu erfüllen. Denn Max wird sterben. Aber Wolfgang Klee sieht das anders: Max lebt.

Klee schreibt ihm, dass er demnächst wohl mal eines der Trikots zum Laufen anziehen wird. Welches denn?, fragt Max zurück. "Das ist so das Niveau, auf dem wir uns unterhalten", erzählt der 55-Jährige. "Rumflachsen, ein wenig Blödsinn machen." Das Schwere kommt von alleine ins Leben.

Rund 55 Ehrenamtler betreuen etwa 30 Familien

Seit zehn Jahren engagiert Klee sich für den Ambulanten Kinder-Hospizdienst Dresden (AKHD), nur wenige sind länger dabei als er. Dabei geht es nicht um pflegerische Tätigkeiten, sondern vor allem darum, Zeit zu spenden - für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene, die unter einer lebensbedrohlichen oder -verkürzenden Krankheit leiden. "Ambulant" bedeutet, dass die Kinder noch in ihren Familien leben und dort besucht werden, nicht etwa in einem Hospiz.

Zwei Ehrenamtler unternehmen im Wechsel einmal die Woche etwas mit dem erkrankten Kind, schaffen Alltag und Normalität und entlasten so die Familien. Manchmal steht dabei auch das Geschwisterkind im Mittelpunkt, das neben dem kranken Bruder oder der kranken Schwester oft zu kurz kommt.

Rund 55 Ehrenamtler, die meisten davon Frauen, betreuen derzeit etwa 30 Familien. Drei hauptamtliche Koordinatorinnen sorgen dafür, dass die richtigen "Zeitspender" mit den passenden Familien zusammengebracht werden. Dabei geht es um Interessen und Vorlieben, aber auch um banale Dinge wie Entfernungen. Begleitet werden nämlich nicht nur Familien aus Dresden, sondern aus einem Umkreis von rund 50 Kilometern.

"Viele, die eine Begleitung mit Tod hatten, haben dann erst einmal pausiert oder ganz aufgehört"

Vor dem Namen "Hospiz" schreckten die meisten erst einmal zurück, weiß Koordinatorin Doreen Zschocke. Die Reaktion von Eltern, die zum ersten Mal vom Verein hören, sei oft: Um Gottes Willen - "Hospiz" heißt Sterben. Es sei noch viel Aufklärungsarbeit nötig, ergänzt Annette Lindackers, die sich um die Öffentlichkeitsarbeit für den AKHD kümmert. Hospizarbeit für Kinder bedeute etwas anderes als für Erwachsene. "Es ist mitunter eine sehr lange Begleitung."

Die wenigsten Fälle seien zum Beispiel akut verlaufende Krebsleiden, deutlich häufiger seien genetische oder Stoffwechselerkrankungen, mit denen die Betroffenen Jahre oder sogar Jahrzehnte leben können. So lange kann dann auch eine Betreuung durch einen Ehrenamtler dauern.

Wolfgang Klee erzählt von einem Bekannten, der einen jungen Mann mit Stoffwechselerkrankung seit zehn Jahren begleitet, von Anfang seines Ehrenamts an. "Er ist wirklich Teil der Familie geworden, im engsten Familienkreis drin", sagt er. "Der wird wahrscheinlich trauern. Er wird leiden." Und vielleicht wird er das Ehrenamt sogar aufgeben.

"Viele, die eine Begleitung mit Tod hatten, haben dann erst einmal pausiert oder sogar ganz aufgehört", erzählt Klee. Manche schafften diese Trennung zwischen "Dienst" und persönlichem Schutz nicht, brächten sich emotional zu intensiv ein. Auch er hat schon Kinder verloren - Plural. Seine längste Begleitung bisher war ein Jahr, ein Geschwisterkind. Wie gelingt ihm selbst das Weitermachen?

"Ich habe eine natürliche Distanz", sagt Klee. "Ich schaffe diesen Spagat, dass ich ganz empathisch da bin, ganz persönlich und unmittelbar, aber dann auch nach Hause gehen kann." Wie eng die Verbindung zwischen Ehrenamtler und betreutem Kind sein kann - und wie schwierig dieser Spagat sein muss - versteht man, wenn man den Dresdner über "seine" Kinder sprechen hört.

"Kommt der Wolfgang noch mal wieder?"

Der elfjährige Dominik leidet unter einem Hirntumor und plant seine eigene Trauerfeier, mit Luftballons und fröhlich bunter Kleidung für die Gäste. Die Musik, die er sich ausgesucht hat, besorgt Klee für ihn. Immer, wenn der 55-Jährige heute das Lied aus dem Kinofilm "Fluch der Karibik" hört, denkt er an Dominik. "Das ist für mich eine sehr positive Erinnerung." Klee lächelt.

Es ist nicht die einzige Trauerfeier eines Kindes, die er besucht. Auch Julius leidet an Krebs, ein Tumor wächst aus seinem Hals. Als Klee ihn das erste Mal trifft, springt er noch auf dem Trampolin herum, aber sein Zustand verschlechtert sich so schnell, dass er nach wenigen Wochen stirbt. Wie Dominik ist er erst elf.

Danach kümmert sich der Ehrenamtler ein Jahr lang um Julius' Bruder Felix, macht mit ihm Ausflüge, zum Beispiel zum Schwimmen. Ist da, wenn die Familie jemanden zum Reden braucht. "Kommt der Wolfgang noch mal wieder?", hatte der kranke Junge gefragt, obwohl die beiden sich nur zweimal sehen konnten. Das berührt Wolfgang Klee. Auch, als ein Gitarrist bei der Trauerfeier "Tears in Heaven" von Eric Clapton spielt, geht ihm das kurz sehr nah. "Aber ich finde das nicht schlimm, wenn ich dann dasitze und mich das ergreift. Wenn ich auch leide."

Dass ausgerechnet er immer wieder krebskranke Kinder begleitet, liegt daran, dass Wolfgang Klee meist dort einspringt, wo dringend jemand gebraucht wird. Sein Beruf in der Logistik bei der Radeberger-Brauerei erlaubt ihm keine regelmäßige Begleitung, wenn die meisten Familien Unterstützung brauchen: tagsüber unter der Woche. Also hilft er, wo er kann, ob als Fahrdienst oder auch mal über Wochen und Monate als Begleiter eines akut kranken Kindes. "Helfen, wo ich gebraucht werde", so war das bisher. Und dann kam Max.

"Ich bin bei Max nicht mit dem Thema Tod"

Der 16-jährige Max Maniera wird ohne linke Herzkammer geboren, die in einem gesunden Körper für den kompletten Blutkreislauf zuständig ist. Hypoplastisches Linksherzsyndrom heißt das in der Fachsprache. Nach unzähligen Operationen im Verlauf seines Lebens geben die Ärzte im November 2022 schließlich auf. Für eine Transplantation wäre der Dresdner zu schwach, wenn sein Herz aufgibt, will er keine lebenserhaltenden Maßnahmen. Seit einem knappen Jahr weiß Max: Er wird sterben.

Die Familie wendet sich an den AKHD, um eine Begleitung für den Jungen zu bekommen. Der hat genaue Vorstellungen: Ein Mann soll es sein und der soll sich bitteschön mit Fußball auskennen, denn Max ist riesiger Fan und hat Ahnung. Die Koordinatorinnen wissen genau, wen sie ansprechen müssen.

Wolfgang Klee mit Max in den Räumen des Ambulanten Kinder-Hospizdienstes Dresden. Den Ehrenamtler und den 16-Jährigen eint die Liebe zum Fußball.
Wolfgang Klee mit Max in den Räumen des Ambulanten Kinder-Hospizdienstes Dresden. Den Ehrenamtler und den 16-Jährigen eint die Liebe zum Fußball. © Marion Doering

Wenn Wolfgang Klee den Jungen besucht, meist an Sonnabenden, sitzen sie im Großen Garten und reden über Transferlisten, gehen zusammen im Supermarkt einkaufen oder schauen sich den neuen Sternenzerstörer von Lego im Laden an. Einmal fahren sie zu dritt - Klees 19-jähriger Sohn Hans ist noch dabei - einen Tesla Probe, denn Max interessiert sich auch für Autos. Aber solche besonderen Aktionen sind eher die Ausnahme. Es geht ums Zusammensein. Und nicht für alles reichen Max' Kräfte.

Seine Beerdigung hat der Junge bereits geplant - im Chinesischen Pavillon in Pillnitz, die Gäste sollen in Fußballtrikots kommen. Aber er spricht mit Klee nicht über das Sterben. "Ich bin bei Max nicht mit dem Thema Tod", sagt der Ehrenamtler. "Ich bin mit dem Thema Leben dort. Ich will mit ihm raus, was unternehmen." Er wedelt mit den Händen herum, als er das sagt, ein breites Grinsen auf dem Gesicht. Man kann sich gut vorstellen, dass diese Euphorie auch für Max ansteckend sein muss.

"Es ist traurig und es ist schwer, aber es ist auch fröhlich und es ist leicht"

Wolfgang Klee sagt ihn immer wieder, diesen Satz, den man nicht unbedingt aus dem Mund eines Menschen erwartet, der Kinder bis zu ihrem Tod und ihre Familien darüber hinaus begleitet: "Es macht einfach Spaß." Die Begegnungen bewahrt er sein Leben lang in sich. "Wenn ich in 20 Jahren zurückdenke, sage ich: der Max, der Julius, .... Es war doch schön." Er sei einfach glücklich, diese besonderen Menschen kennengelernt zu haben. Ihre Geburts- und Todesdaten stehen in seinem Kalender.

"Die Leute denken oftmals, es ist immer alles nur traurig", sagt Doreen Zschocke vom AKHD. "Aber wir begleiten ja einen ganz großen Teil auch im Leben." Und wie im Leben sei es auch beim ambulanten Hospizdienst: "Es ist traurig und es ist schwer, aber es ist auch fröhlich und es ist leicht."

Auch wenn es wie ein Klischee klingt: Manchmal kann Klee nicht glauben, was er von den Familien zurückbekommt. "Was mache ich denn? Ich schenke drei, vier Stunden alle paar Wochen. Mehr mache ich nicht", sagt er. "Und mir wird so viel Wertschätzung und Sympathie entgegengebracht." Das verstehe niemand, der es nicht selbst erlebt habe.

Max Maniera mit seiner Familie: links Mutter Jeannette, rechts Schwester Annemarie mit Sohn Louis.
Max Maniera mit seiner Familie: links Mutter Jeannette, rechts Schwester Annemarie mit Sohn Louis. © Sven Ellger

Bald steht dank Wolfgang Klee ein kleines Highlight für Max an, das für viele Fußballfans fast alltäglich sein dürfte: Champions League in einer Sportsbar schauen, mit anderen live mitfiebern. Bayern gegen Galatasaray Istanbul. "Ich hoffe, dass er da Lust hat und kann", sagt Klee und klingt selbst ein wenig wie ein aufgeregter 16-Jähriger.

Früher habe er mal gesagt, er wolle gar keine langen Begleitungen haben, erzählt Klee. "Kurz helfen, da sein, wenn ich gebraucht werde, und dann wieder weg." Und jetzt? "Jetzt kenne ich Max." (mit SZ/juj)

Zur Finanzierung ist der AKHD vor allem auf Spenden angewiesen. Bankverbindung:

Empfänger: Deutscher Kinderhospizverein eV
Ostsächsische Sparkasse Dresden
IBAN: DE02 8505 0300 3200 0291 95
SWIFT-BIC: OSDDDE81XXX

Nächste Info-Veranstaltungen für Interessierte finden am 25. Oktober und 2. November ab 18.30 Uhr in den Räumen des AKHD, Nicolaistraße 28, 01307 Dresden, statt. Weitere Informationen gibt es unter www.akhd-dresden.de.