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Tschechien: Wenn der Rubel in Karlsbad nicht mehr rollt

Das tschechische Karlsbad muss seit Corona und dem Ukraine-Krieg ohne die reichen Russen auskommen. Jetzt will sich der Kurort Karlovy Vary neu erfinden.

Von Olaf Kittel
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Viele Kolonnaden laden in Karlsbad zum Flanieren ein, es gibt Heilwasser aus zwölf verschiedenen Brunnen. Nur: Seit Monaten bleiben die Gäste aus. Der Kurort muss eine neue Klientel erschließen.
Viele Kolonnaden laden in Karlsbad zum Flanieren ein, es gibt Heilwasser aus zwölf verschiedenen Brunnen. Nur: Seit Monaten bleiben die Gäste aus. Der Kurort muss eine neue Klientel erschließen. © Matthias Schumann

Karlsbad. Als Kurgast spaziert man in Karlsbad gewöhnlich mit dem typischen Trinkbecher in der Hand, nimmt einen Schluck vom warmen Mineralwasser, spaziert ein paar Schritte weiter, nimmt den nächsten Schluck. Ganz entspannt, das gehört zur Kurphilosophie – stressfrei wertvolle Mineralien aufnehmen und so gesunden. Auch ist es angenehm, etwa durch die eben erst topsanierte Mühlbrunnkolonnade zu flanieren und dabei die glänzenden Fassaden der Hotels und Bürgerhäuser gegenüber zu bewundern.

Aber da haben wir das Problem: Auch an diesem Januartag flanieren nur wenige Gäste. Sehr wenige. Die reichen Russen, die einst 80 Prozent der Kurgäste stellten, sind weg und kommen sicher auch nicht gleich wieder. Für das nordböhmische Karlovy Vary, das schöne alte Karlsbad, ist das eine Katastrophe.

Oberbürgermeisterin Andrea Pfeffer-Ferklová sieht man die Sorgen nicht gleich an. Mit strahlendem Lächeln kommt sie zum Fototermin unter die Kolonnade, erzählt in bestem Deutsch von ihren Wochenendausflügen nach Dresden. Später in ihrem Büro im Rathaus gibt sie aber freimütig zu, dass sie sich ihr Amt schon ein wenig anders vorgestellt hatte.

Zuvor war die 48-Jährige 13 Jahre lang Generaldirektorin im Grandhotel Pupp, dem bekanntesten und nobelsten Hotel der Stadt, in dem sich Hollywoodgrößen und der europäische Hochadel gleichermaßen wohlfühlen. Hier wurde der James-Bond-Film „Casino Royal“ gedreht.

Andrea Pfeffer-Ferklová war es, die diesen „Palast des Luxus“ verwaltete, wie es in der Eigenwerbung heißt. Weil es auch den anderen Hotel- und Geschäftsinhabern gut ging, hatte sie sich vor vier Jahren gefreut auf ihr neues Amt, das ihr der Ex-Premier und jetzige Präsidentschaftsbewerber Babiš persönlich antrug. Die weltgewandte Frau, die vier Sprachen fließend spricht, war das ideale Aushängeschild für den feinen Kurort.

Oberbürgermeisterin Andrea Pfeffer-Ferklová an der Mühlbrunn-Promenade in Karlsbad. Sie hat selbst noch nie eine Heilwassertrinkkur unternommen. Das soll sich in diesem Jahr ändern.
Oberbürgermeisterin Andrea Pfeffer-Ferklová an der Mühlbrunn-Promenade in Karlsbad. Sie hat selbst noch nie eine Heilwassertrinkkur unternommen. Das soll sich in diesem Jahr ändern. © Matthias Schumann

Aber sie war noch gar nicht lange gewählt, als die Corona-Pandemie ausbrach, Lockdowns folgten, die Ausländer wegblieben. Zeitweise sogar die Tagestouristen, weil die Grenzen geschlossen waren. Plötzlich standen sie alle auf ihrer Matte: Hotelbesitzer, Ladeninhaber, Kurverwaltungen, Mitarbeitervertretungen. Sie wollten Hilfe. Alle. Sofort. Erst recht, als vor einem Jahr Russland die Ukraine überfiel und Russen keine Visa mehr für Tschechien bekamen. 70 Prozent der Arbeitsplätze in der 50.000-Einwohner-Stadt hängen direkt oder indirekt vom Kurbetrieb und Tourismus ab. „Es war eine schwere Zeit“, fasst die Oberbürgermeisterin knapp zusammen.

An dieser Stelle muss erklärt werden, warum so viele russische Gäste ausgerechnet nach Karlsbad kamen. Keine kann das besser als Stadtführerin Jitka Hradliková. Die 73-Jährige war lange Zeit Chefin der Kurinformation und gilt als wandelndes Stadtlexikon. Zar Peter der Große war einer der ersten russischen Prominenten, berichtet sie, er kam zwölf Mal. Heute ist sein Denkmal am Stadtrand mit roter Farbe beschmiert, als Protest gegen den Krieg. Seinem Vorbild folgten Adel, Dichter und Denker.

Das Kuren am Südhang des Erzgebirges wurde Tradition im Zarenreich, die sich in sozialistischen Zeiten hielt. „Frau Breschnewa kam jedes Jahr, sie litt an Diabetes“, berichtet Frau Hradliková von der Gattin des damaligen Staatsoberhaupts der Sowjetunion. Sie erzählt von Juri Gagarin, von Schauspielern und Regisseuren, die das Filmfestival Karlovy Vary besuchten.

Nach der Wende wurde der russische Einfluss noch größer. Als Tschechien in den 90er-Jahren Hotels, Unternehmen und Wohnhäuser privatisierte, waren russische Investoren oft die schnellsten. Jitka Hradliková zeigt beim Spaziergang durch die Stadt einige Beispiele. „Das Hotel Kolonnade kam in russischen Besitz, es kaufte ein Filmregisseur. Auch die traditionsreichen Hotels ,Bristol‘ und ,Bristol Palace‘ gingen an russische Käufer. Der Moskauer Langzeit-Bürgermeister Juri Luschkow, bis 2010 im Amt, kaufte den ,Moskauer Hof‘ – und viele aus der Stadtverwaltung kamen als Gäste in sein Haus.“

Zunächst profitierte Karlsbad von den schnellen Investoren. Sie trugen wesentlich zum Bauboom bei. Die vielen dunkelgrauen Gebäude im Kur- und im Geschäftszentrum legten beinahe von jetzt auf gleich ein glanzvolles, farbenfrohes Gewand an. Wer Karlsbad lange nicht besucht hat, wird es kaum wiedererkennen. Nicht nur entlang des Flüsschens Tepla, wo die meisten Hotels, Geschäfte und viele Kureinrichtungen stehen. Auch oberhalb im Stadtteil Westend, wo sich eine prachtvolle Jugendstilvilla an die andere reiht.

Im Zentrum von Karlovy Vary warten die Kutscher oft lange auf Kundschaft. Manche Hotels haben geschlossen, Läden stehen leer. Große Hoffnung setzt die Stadt jetzt auf Besucher aus Deutschland.
Im Zentrum von Karlovy Vary warten die Kutscher oft lange auf Kundschaft. Manche Hotels haben geschlossen, Läden stehen leer. Große Hoffnung setzt die Stadt jetzt auf Besucher aus Deutschland. © Matthias Schumann

Die Tradition und der Besitz machten Karlsbad nach und nach zu einer Wohlfühloase für einkommensstarke Russen sowie viele Bürger aus Staaten der ehemaligen Sowjetunion. Auch der kasachische Autokrat Nasarbajew und sein aserbaidschanischer Kollege Alijew kamen hierher. Jeden Tag landete ein Flugzeug aus Russland auf dem kleinen Karlsbader Airport, viele reisten auch über den Dresdner Flughafen an. Die Geschäftswelt in der Elbestadt profitierte ganz nebenbei vom Karlsbad-Boom.

Nach der Besetzung der Krim 2014 kamen schon weniger Russen, seit Corona beschleunigte sich der Abwärtstrend. Während der Lockdowns und seit Kriegsbeginn im Februar 2022 ging fast nichts mehr. Die Fluglinien stellten den Betrieb ein, viele Hotels schlossen, Restaurants und Geschäfte gaben auf oder entließen mindestens einen Teil ihrer Mitarbeiter. Viele Fachkräfte zogen aus der Stadt weg. Im ersten Halbjahr 2022 gab es fast keine Gäste mehr.

Wer in dieser Zeit nicht aufgab, brauchte enormen Mut. Die Ärztin Milada Sarová gehörte zu ihnen. Sie war zehn Jahre lang Chefin der zum Grandhotel Pupp gehörenden Kurklinik, behandelte Prominente wie Michail Gorbatschow und Sharon Stone. Als ihre Rentenzeit nahte, wagte sie – noch in der Boomzeit – gemeinsam mit ihren Kindern den Kauf des Hotels „Prezident“. Die Kinder führen heute das Hotel, sie leitet das „Luxury Spa & Medical Wellness“. Die 73-Jährige führt begeistert durch ihr Reich, zeigt Massageräume und Behandlungszimmer. „Das alles haben wir während des Stillstandes modernisiert und dafür hohe Kredite aufgenommen.“

Wer in Karlsbad diesen Mut aufbrachte, der hat jetzt, wo der Betrieb seit Sommer letzten Jahres wieder anläuft, beste Chancen. Das Hotel „Prezident“ ist auch im Januar gut gefüllt. Schwer hat es die Familie trotzdem. Die Gäste heute erwarten eher niedrigere Zimmerpreise als die Russen. Die Energiekosten aber sind explodiert, nicht gut für energieintensive Wellnessbereiche. Die Inflation in Tschechien liegt bei 17 Prozent. „Und wir werden wohl ewig Kredite abzahlen müssen“, meint Sarová.

Geschlossene Hotels, Geschäfte ohne Kunden

Vom Hotel „Prezident“ aus sind es nur wenige Schritte zum „Sprudel“, einer modernen Kolonnade, in der die mit 73,4 Grad heißeste der zwölf Karlsbader Quellen zwölf Meter in die Höhe schießt. Hier ist das Zentrum der Kurstadt, es gibt einige Hotels, die geschlossen sind. In vielen Markengeschäften sind keine Kunden zu sehen, in einigen hängt das „For Sale“-Schild, andere haben das Sortiment getauscht und geben sich jetzt als Outlet-Stores.

Wir fragen in einem der zahllosen Juweliergeschäfte nach, wie sich denn der Umsatz entwickelt hat. Eine Mitarbeiterin von „Art de Suisse“ in bester Lage berichtet von deutlich gesunkenen Umsätzen und trister Stimmung. „Die Russen sind weg, die Gäste aus den GUS-Staaten kommen noch, aber sie haben seit dem Krieg keine Lust mehr aufs Geldausgeben. Und die vielen asiatischen Tagestouristen auf Europa-Rundreise sind auch nicht mehr da.“

Und was wird aus den russischen Immobilien? Wir besuchen Jakub Žikeš, Inhaber der Immobiliengesellschaft „Recom“ im Geschäftszentrum von Karlsbad. Sein Büro hat er in der ehemaligen Zentrale der Becherovka-Fabrik, die scherzhaft die „13. Quelle“ genannt wird. Hier gibt’s heute das Museum der Likörfabrik, Café und Restaurant, ein vielbesuchter Ort. Jakub Zikes mag nicht bestätigen, dass etwa 20 Prozent des Kur- und Geschäftszentrums in russischer Hand sind, so genau wisse das niemand.

Aber bekannt ist, dass Russen 80 Prozent der Immobilien in ausländischer Hand halten. Noch. Denn seit vergangenem Jahr versuchen fast alle, ihr Eigentum loszuwerden. Möglichst sofort und über tschechische Mittelsmänner, denn sie dürfen ja selbst nicht einreisen. Gerade auch Apartments, die sich gut verdienende Russen als Ferienimmobilien zugelegt hatten. „Nur, ich finde kaum Käufer“, meint Jakub Žikeš. „Und die Russen können nur schwer akzeptieren, dass sich der Wert ihrer Immobilien halbiert hat.“

Nicht weit von seinem Büro entfernt steht eine große Sberbank-Filiale leer, die Schaufenster sind blind. Die meisten russischen Immobilienkäufe liefen einst über das größte russische Finanzinstitut. Als alle, Russen genauso wie tschechische Geschäftspartner, gleichzeitig an ihr Geld wollten, wurde die Filiale dichtgemacht.

Zar Peter der Große war einer der ersten russischen Prominenten, die nach Karlsbad kamen. Sein Denkmal am Stadtrand ist heute beschmiert, als Protest gegen den Krieg in der Ukraine.
Zar Peter der Große war einer der ersten russischen Prominenten, die nach Karlsbad kamen. Sein Denkmal am Stadtrand ist heute beschmiert, als Protest gegen den Krieg in der Ukraine. © Matthias Schumann

Was nun, Frau Oberbürgermeisterin? Wie sollen denn die russischen Gäste ersetzt werden? „Als die Pandemie und die Lockdowns begannen, haben wir als Sofortmaßnahme Voucher ausgegeben, um unsere Einrichtungen zu stützen“, berichtet Andrea Pfeffer-Ferklová.

Finanziert aus der Stadtkasse erhielten Gäste Gutscheine im Wert von 4.000 Kronen (166 Euro), die sie für Kuranwendungen ausgeben konnten. „Wir wollten vor allem Tschechen anlocken, die Karlovy Vary bisher mieden, weil wir als russische Stadt galten. Meine Landsleute mögen weder die Gewohnheiten der reichen Russen noch konnten sie den Einmarsch 1968 vergessen.“ Das Angebot sei gut angenommen worden, übrigens auch von Ostdeutschen.

Danach legte die Stadt einen Kultursommer auf, um jüngere Leute und Familien in die Stadt zu bekommen. Auch das hat geklappt. „Die Tschechen haben Karlsbad wiedergefunden“, meint die Oberbürgermeisterin. Zudem wird die Stadt nun als Touristikzentrum ausgebaut. Wander- und Radwege sind bereits angelegt, ein Weihnachtsmarkt entwickelt, jetzt sollen auch Wintersportler angelockt werden. Die schneesichersten Pisten im Erzgebirge sind nur 20 Kilometer entfernt.

Hoffen auf deutsche Touristen

Dies ist aber noch lange kein Ersatz für die russischen Kurgäste. Große Hoffnungen setzt die Oberbürgermeisterin in den Unesco-Welterbetitel, den Karlsbad gemeinsam mit elf weiteren Kurorten Europas 2021 erhalten hat. „Das hilft uns sehr.“ Gemeinsam mit dem Tourismusamt sucht sie Gäste von der arabischen Halbinsel bis nach Brasilien. Vor allem Gäste, die wie die Russen zwei, drei Wochen kommen statt nur einige Tage. Auf Deutsche setzt sie große Hoffnungen. „Sie kennen Karlsbad genauso gut wie die Russen und können leicht mit dem Auto kommen. Wir hoffen auf Ostdeutsche und Westdeutsche gleichermaßen. Die einen kommen halt mit dem Opel, die anderen mit dem BMW.“

Karlsbader Werbeleute erinnern jetzt gern daran, dass August der Starke sechs Mal zur Kur kam, Goethe hier seine letzte Liebe fand, Beethoven Konzerte gab. Und dass sich viel später ost- und westdeutsche Familien in Karlsbad trafen. Immer mal wieder hatten DDRler das Glück, hier eine Kur verschrieben zu bekommen. Heute zahlen Krankenversicherungen höchstens noch die Anwendungen, die Hotels sind aus eigener Tasche zu zahlen.

Die neueste Idee der Bürgermeisterin: Weil Karlsbader selbst zwar alles Mögliche trinken, aber kein Karlsbader Mineralwasser, werden jetzt 500 Einwohner gesucht, die im Frühjahr eine Trinkkur beginnen. Die Stadt zahlt ihnen den Arztbesuch, bei dem festgestellt wird, welches Heilwasser das richtige ist. Zu den Gesichtern der Aktion gehören Frau Pfeffer-Ferklová selbst („Bisher habe ich auch nicht aus den Quellen getrunken“) und Stadtführerin Jitka Hradliková, die seit 40 Jahren auf die Heilkraft des Wassers schwört. Die Stadt hofft auf 500 neue Werbeträger.

Aber sind denn die Russen nun wirklich alle weg? Überall in Karlsbad hört man noch die russische Sprache, Speisekarten sind weiter auch in Russisch, auf der Straße werden Pelmeni in kyrillischer Schrift angepriesen. Hotelmanager Petr Sestak vom Astoria-Hotel hat eine Erklärung: Noch immer kommen Gäste aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion, Georgier oder Balten. Auch Russen, die in Europa oder in Israel leben. „Leider kann ich nicht sagen, wie groß der Anteil heute ist. Viele von ihnen kommen doch mit deutschem Pass.“