Wenn im Ukraine-Krieg aus Nachbarn Helfer werden

Milan ist genervt. Treffen weitere Geflüchtete ein, reicht er ihnen eine OP-Maske, einen Zettel mit Informationen, nimmt ihre Rollkoffer ab, zeigt, wo sie sich ausruhen können und Essen finden. Doch sein Weg ist versperrt: Auf dem vom Gitter gesäumten Gang stehen Männer mit Kameras, Journalisten vom tschechischen, slowakischen und deutschen Fernsehen. Aus aller Welt haben Medienhäuser Reporter entsandt – so wie die SZ. Milan und die Ankommenden müssen um sie herumlaufen. Menschen aus dem Kriegsgebiet, die nach langer Reise erschöpft und nur mit dem Nötigsten bepackt das Nachbarland Slowakei erreicht haben.
Eine Österreicherin habe ihm Fragen gestellt, erzählt Milan. Dass sie Journalistin von einer Zeitung ist, habe sie nicht gesagt, erst später habe er es herausgefunden. "Warum machen Sie so etwas?", fragt er auch das SZ-Team. Er trägt grellgelbe Warnweste und pinke Mütze. Die kleine Lampe an der Krempe kann im Dunkeln leuchten, um zu sehen und gesehen zu werden, wenn in der Nacht weitere Menschen eintreffen. "Es ist verrückt," sagt der Slowake, "lange war Deutschland für uns der Westen, jetzt sind wir der Westen für manche."
Ein Weg, Helfer wie Milan zu begleiten, ohne zu stören, heißt selbst mitzuhelfen. Angemeldet in einem Zelt ohne Licht, auf dem steht "Freiwillige bitte hier melden." In Weste und Handschuhen. Die Uniform vieler Helfender am Grenzübergang in Vyšné Nemecké zwischen der Ukraine und der Slowakei. Die meisten von ihnen kommen aus der Slowakei, sind Mitte zwanzig und übernachten in Unterkünften in der Nähe: in einer Bar, bei Bekannten, in Hotels. Von 7 Uhr bis 19 Uhr dauert die Tagesschicht, von 19 bis 7 Uhr die Nachtschicht – denn auch nachts kommen Menschen an.
Mehr als 100.000 Menschen sollen die Ukraine über die Grenze in der kleinen Ortschaft verlassen. Dabei ist die Region um die Stadt Ushgorod auf der ukrainischen Seite noch nicht von Angriffen der Russen betroffen. Wie in vielen anderen Nachbarländern der Ukraine können alle Ukrainer, die vor dem Krieg fliehen, einreisen – auch ohne gültige Reisepapiere.

Barbara und Emilia haben sich am Morgen im Auto kennengelernt – dank eines Aufrufs auf Facebook. Gemeinsam sind die zwei Slowakinnen zur Grenze gefahren. Unter einem Pavillon hängen sie mit zwei Ordensschwestern und anderen Freiwilligen gespendete Kleidung auf Bügel: Kinderschneeanzüge, Jogginghosen. Eine kleine Tasche? "Die Leute nutzen die Aktion wohl auch zum Aussortieren", sagt Barbara.
Eine Frau wühlt in einem Pappkarton nach Socken. Sie legt sie ihrem Sohn um den Arm, wenn sie eine ertastet. Der kleine Junge mit den runden Brillengläsern braucht außerdem einen warmen Anorak. Barbara schiebt einen Kleiderbügel mit Jacken nach dem anderen zur Seite. Die Frau erklärt mit Gesten, was sie sich wünscht: mit unzufriedenem Gesicht die Ärmel entlangstreichen, heißt: zu kurz, Daumen hoch: gut. Sie spricht mit ihren Kindern in Gebärdensprache.
Eine Frau mit Zigarette erklärt Barbara immer wieder in den gleichen ukrainischen Worten, was sie sucht. Die Helferin versteht sie nicht. Die Frau deutet auf ihre Strumpfhose unter dem Rock. Dicke Wintersocken, errät Barbara plötzlich, aber weiß nicht, wo sie zwischen den vielen Kisten und Kleiderständern beginnen soll, danach zu gucken. Der Zigarettenrauch stört sie. "Es ist doof, wenn die Kleidung danach riecht." Man müsste ein Schild aufhängen, sagt sie noch, dann bekommt sie eine neue Aufgabe: Toiletten säubern.
Währenddessen räumen Clara und Ugur, genannt Uffi, drei große rote Zelte auf, in denen Menschen auf Luftmatratzen und Decken schlafen können. Clara, eine junge IT-Managerin aus der slowakischen Hauptstadt Bratislava, ist Teil von Scouting Slovakia, den slowakischen Pfadfindern, wie das geknotete Tuch um ihren Hals verrät. Sie trägt nur ein dünnes, langärmeliges Sport-Shirt und ein Stirnband um die Zöpfe, in den Zelten ist es dank eines Generators warm und durch das Arbeiten sowieso. "So weit war ich noch nie im Süden meines Landes", sagt sie. Am Wochenende ist sie losgefahren, hat ihren Chef von unterwegs angerufen, alle Termine abgesagt.

Der 37-jährige Uffi, ein Lackierer bei Audi, wohnt mit seiner Verlobten in Ingolstadt. Ihre Kinder gehen in der Ukraine zu Schule, die Ukrainerin wollte, dass sie selbst entscheiden, wo sie leben wollen. Als der Krieg vergangene Woche begann, schaltete Uffi erst einmal das Internet aus. "Ich wollte nicht, dass sie das sehen und habe mich schlau gemacht." Dann fuhren sie los, die Kinder holen: von Ingolstadt über Prag bis nach Vyšné Nemecké. Mit einem Sammeltransporter, Taxi, Bus und Zug. "Dann waren wir hier, und sie haben mich nicht reingelassen." Sein Pass war abgelaufen. Die schwangere Verlobte ging allein, er blieb zurück, wartet auf sie und hilft. "Bevor ich hier rumstehe und warte, helfe ich lieber. Das tut mir gut." Seine roten Augen zeigen: Schlafen kann er kaum.
Im Zelt riecht es nach Suppe. Clara und Uffi streichen Decken glatt, legen Schlafsäcke zusammen. Verlassene Liegen sollen wieder einladend aussehen. "Zieh lieber die Handschuhe aus", sagt Uffi zu Clara. "Wie würdest du dich fühlen, wenn Menschen deine Decken mit Handschuhen anfassen?" Im hinteren Teil des Zelts beobachtet sie ein Grüppchen Geflüchteter. "Aber mir ist auch meine Sicherheit wichtig", antwortet Clara, lässt ihre Handschuhe an und wickelt die nächste Blümchendecke um eine zu dünne Matratze. Viel haben die beiden nicht zu tun, die meisten Menschen räumen ihr Schlaflager selbst auf, wenn sie gehen.
Neben den Freiwilligen gibt es auch Hilfe von offizieller Seite: Wie ein Zirkuszelt sieht die Auffangstation der slowakischen Regierung an der Grenze aus. Zwischen Bänken, Koffern, Frauen mit schreienden Kindern ragen Wärmepilze wie Leuchttürme empor. Decken stapeln sich in einer Ecke, Geflüchtete balancieren Plastik-Schälchen mit dampfender Suppe durch das niedrige Eingangstor. Die Regierung der Slowakei stellt das Zelt. Einige Helferinnen und Helfer sind vom Militär eingesetzt, viele sind ehrenamtlich dabei, wie Barbora. Auch sie ist von den Pfadfindern.
Barbora klamüsert Kabel auseinander. In der Ecke haben sie und ihre Kolleginnen ein Mini-Tipi aufgebaut. "Ich helfe gerne Leuten. Leute brauchen Hilfe, ich habe die Zeit dazu", sagt die 27-Jährige. "Die Leute kommen in einem schrecklichen Zustand hier an. Durchgefroren, übermüdet, hungrig." Wer noch nicht weiß, wohin es weitergeht, bleibt ein paar Tage. "Wir machen alles, was getan werden muss. Essen bringen, Leute willkommen heißen, ihnen alles zeigen." Gerade kümmert sich Barbora ums Kinderprogramm. In ihrer Heimatstadt Bratislava arbeitet sie als Erzieherin .

Auf einem Paletten-Podest haben die Helferinnen eine Ecke für Kinder gebaut. Hier geht es nicht um Panzer oder Bomben, sondern um Knete und Kuscheltiere. Aufblasbare Gummi-Sessel reihen sich um eine Plastiktüte voller Frösche, Affen und Teddys aus Plüsch. Diese Ecke verzieren Lampions, Kreise und Kugeln kleben auf der Zeltplane. Barbora und ihre Kolleginnen bauen noch einen Spielplatz, streichen eine Decke auf einer Spanholzplatte glatt, verteilen Becher mit bunter Knete darauf. Plusterhosen aus schwarzen, blauen, violetten Flicken wehen um Barboras Wanderschuhe, aus der grellen Warnweste guckt eine Kapuze raus.
Nach einer Woche Krieg und Flucht, sagt sie, haben sich die Helfenden langsam eingespielt. "Immer mehr Leute kommen, das ist wirklich gut. Es kommen sehr viele Dinge. Die Organisation wird auch langsam besser. Die Regierung und kleinere Organisationen kümmern sich darum."
Ein Fernsehteam wirbelt durch das Zelt, interviewt Geflüchtete. Die Reporterin erhebt ihre Stimme, piepst einem Hund auf einer Matratze entgegen, will ihn streicheln. Er bellt. Das Fernsehteam hat sich mit Kamera ausgerechnet in der Zelt-Mitte aufgebaut. Barbora will von der einen auf die andere Zelt-Seite eilen, das Team versperrt ihr den Weg. Die Helferin schnaubt genervt, dreht um, sucht einen anderen Weg. Die Interviewte beugt sich zu ihrem Hund hinab, reißt ihr Wurstbrot in kleine Fetzen, reicht sie dem Hund.

Eine Enkelin legt ihren Kopf auf dem Arm der Oma ab, Augenringe zeichnen Erinnerungen an die Flucht in bleiche Gesichter. Generatoren brummen. Ein grauhaariges Ehepaar lässt sich in Plastikstühle sinken. Nur wenige Zähne sind dem Mann mit Bart und Anglerkappe geblieben. Die Frau hat ein Kopftuch über ihre langen Haare gebunden. Ungläubig beobachten sie ein Kind, das Seifenblasen in die Luft pustet.
Vor den Zelten unterhält sich Clara, die ein letztes Häufchen Staub, Gräser und Krümel im Schlafzelt zusammengekehrt hat, mit einer anderen Freiwilligen. Es ist Mittagspause. Auf einer Bierbank sitzt Marian und isst ein Brot mit Leberwurst, Schinken und Mozzarella. Seit er vor zwei Tagen an der Grenze ankam, hat er den Platz kaum verlassen. Er, auch ein Pfadfinder, ist Ansprechpartner für die anderen Freiwilligen. Normalerweise arbeitet er als Betreuer in einer Schule in Pezinok, gerade sind Ferien. "Ich bin Pfadfinder, wir sind dazu da zu helfen, deshalb bin ich hier."
Wie viele Helfende im Einsatz sind, kann er nicht sagen. Alles sei aus dem Nichts entstanden. "Als wir ankamen, war die erste Ansage: Bitte macht den Platz hier sauber." Um die Mülleimer haben Berge von Abfall gelegen. Davon ist nichts mehr zu sehen, nur eine einzelne Cola-Dose steht auf dem Deckel des Mülleimers neben einem Zelt. "Jeden Tag werden wir organisierter, jeden Tag werden wir mehr." Eigentlich werde die Hilfe aber vor allem drüben gebraucht. In der Ukraine.
So können Sie helfen:
- Wie Sie von Sachsen aus der Ukraine helfen können
- Hier kann in Dresden für die Ukraine gespendet werden
- Hier können Sie in Döbeln für die Ukraine spenden
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