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Atomwaffen: Warum tun beide Seiten so, als seien sie zum Äußersten bereit?

Russlands Krieg in der Ukraine ist auch ein Krieg der Drohungen. Dabei wissen beide Seiten, dass ein Einsatz von Atomwaffen im höchsten Maße irrational wäre.

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Erst Ende April testete Russland eine ballistische Interkontinentalrakete vom Typ Sarmat.
Erst Ende April testete Russland eine ballistische Interkontinentalrakete vom Typ Sarmat. © Russian Defense Ministry Press Service/AP/dpa

Von Malte Lehming

Wer bei Google die Worte „Putin droht“ eingibt, kommt auf rund 170.000 Ergebnisse. Ergänzt wird der Halbsatz durch „mit Atomwaffen“, „mit Blitzschlägen“, „mit Lieferstopp“. Wer „Nato droht“ eingibt, kommt auf rund 7.000 Ergebnisse. Dort heißt es „mit schwerwiegenden Konsequenzen“, „mit harten Reaktionen“, „mit verschärfter Cyberdoktrin“.

Russlands Krieg in der Ukraine – das ist eben auch ein Krieg der Worte, der Ankündigungen, der Drohungen. Es geht um Gesten der Entschlossenheit, um Glaubwürdigkeit und Eskalationsdominanz. Der Gegner soll eingeschüchtert werden. Er soll den Glauben an einen raschen Erfolg verlieren. Das wiederum soll seine Kriegsbereitschaft reduzieren und ihn verhandlungsbereit machen.

Beim Thema der Waffenlieferungen etwa ist deren symbolische Bedeutung mindestens ebenso wichtig wie ihr militärischer Nutzen. Deutschland hat zugesagt, 50 Luftabwehrpanzer vom Typ Gepard zu liefern. Die müssen instandgesetzt und mit Munition ausgestattet werden. Außerdem ist das Gerät nicht leicht zu bedienen. Die Schulung dauert mehrere Wochen. Vor Weihnachten, sagen Experten, wird kein einziger Gepard in der Ukraine sein. Ob und wo er dann gebraucht wird, lässt sich nicht absehen.

Ein Flakpanzer vom Typ Gepard bei einer Übung
Ein Flakpanzer vom Typ Gepard bei einer Übung © dpa/Carsten Rehder

Doch was zählt, ist das Signal: Deutschland steht fest an der Seite der Anti-Russland-Allianz, das westliche Bündnis bleibt geschlossen, kein Sonderweg wird beschritten, mit dem Tabu, in Krisengebiete keine schweren Waffen zu liefern, wird gebrochen. Diese Botschaft soll Wladimir Putins Strategie entgegenwirken, den Westen zu spalten, zu ermüden und seinerseits einzuschüchtern.

Viele Meldungen aus den vergangenen Tagen und Wochen haben vor allem den Zweck, das Kalkül der Gegenseite zu durchkreuzen. Dazu bedarf es einer raffinierten rhetorischen Image-Inszenierung. Der Bundesnachrichtendienst, heißt es, hat Funksprüche des russischen Militärs abgefangen, in denen die Gräueltaten im Kiewer Vorort Butscha besprochen wurden. Übersetzt heißt das: Nichts bleibt geheim, wir finden euch und können eure Verbrechen beweisen.

„US-Geheimdienste helfen der Ukraine dabei, russische Generäle zu töten“, titelt die „New York Times“. Außerdem würden Ortungsdaten von russischen Kriegsschiffen weitergeleitet. Solche Nachrichten dienen der Demonstration technologischer Überlegenheit. Die Botschaft lautet: Vorsicht! Eure vielen Panzer, Flugzeuge und Kriegsschiffe sind weitaus verwundbarer, als ihr denkt.

Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagt, er glaube nicht, dass der Krieg bald vorbei sein werde, die Angriffe könnten noch Jahre anhalten. US-Verteidigungsminister Lloyd Austin definiert als Kriegsziel, Russland dermaßen schwächen zu wollen, dass es vergleichbare Invasionen nicht mehr durchführen kann. Übersetzt heißt das: Wir haben Geduld, unser Atem ist lang, unsere Ressourcen sind groß.

Damit eine Drohung wirkt, muss ihr Absender glaubwürdig sein. Das war im Kalten Krieg das zentrale Dogma, damit die nukleare Abschreckung funktionieren kann. Dem Nato-Konzept der „flexible response“ lag die Überzeugung zugrunde, dass das Bündnis fähig sein muss, einen Einsatz von Atomwaffen auf jeder Ebene zu beantworten. Dadurch sollte ein Eskalations-Automatismus vermieden werden. Die davor geltende „Mutual-Assured-Destruction“-Doktrin litt unter dem Glaubwürdigkeitsdefizit, dass es irrational ist, jeden Einsatz von Massenvernichtungswaffen nur mit der Drohung verhindern zu wollen, am Ende die gesamte Menschheit auszulöschen.

Wer mit einem schrecklichen Ereignis als Reaktion auf ein anderes schreckliches Ereignis droht, will beides verhindern, die Aktion des Gegners wie die eigene Reaktion. Die bekundete Absicht, in einer bestimmten Lage etwas zu tun, wird vom Wunsch motiviert, eben diese Absicht nie ausführen zu müssen.

Wenn Putin also, sehr selten und sehr vage, mit dem Einsatz von Atomwaffen droht und der Westen für diesen Fall äußerst ernste Konsequenzen ankündigt, zielen auch diese Botschaften auf die Köpfe. Beide Seiten wissen, dass ein Einsatz von Atomwaffen im höchsten Maße irrational wäre. Dennoch tun sie so, als seien sie zum Äußersten bereit. Diese Paradoxie kennt keinen Ausweg.