Freischalten Freischalten Feuilleton
Merken

Verhandeln ist nicht naiv: ein Plädoyer für Wagenknecht & Co.

Man wird den Aggressor Putin nicht mit ein paar Dutzend Leopard-Panzern bezwingen, meint David Ensikat in seinem Gastbeitrag. Er war einst Gefreiter, der an russischen Waffen ausgebildet wurde.

 6 Min.
Teilen
Folgen
NEU!
Putin am Apparat.
Putin am Apparat. © Mikhail Klimentyev/POOL SPUTNIK KREMLIN/AP/dpa

Von David Ensikat*

Vor gut 35 Jahren, im November 1987, begann die schlimmste Zeit in meinem Leben, die 18 Monate Wehrdienst in der Nationalen Volksarmee. Ich lernte, wie man mit der Kalaschnikow schießt und wie man ein russisches Radargerät bedient, das anzeigte, wo die Flugzeuge des Klassenfeindes umherflogen. Und ich lernte ein Stück von der Verrohung kennen, die der Krieg bereits in Friedenszeiten anrichtet. Dass die ganze Veranstaltung der Vorbereitung echten Kriegsgeschehens galt, war völlig unvorstellbar. Ein solches verband man damals, mitten in Europa, ohnehin mit dem sicheren Tod.

Immerhin diese Erfahrung unterscheidet mich von den meisten unserer derzeit wehrtüchtigsten Meinungsmacher. Zum kursierenden Friedensappell von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer sagen sie: Einen Waffenstillstand zu fordern, statt immer mächtigeres Kriegsgerät in die Ukraine zu liefern, sei naiv. Es spiele dem Gegner, Putin, den Russen, den Autoritären, in die Hände. Sie unterstellen, dass man gegen die Ukraine, das ukrainische Volk sei, denn diese wünschten jetzt keinen Waffenstillstand, sondern Waffen. Sie unterstellen, man würde die Opfer zu Tätern machen und nicht klar benennen, wer der Aggressor ist.

Putin und seine Generäle sind Verbrecher

Letzteres aber steht ganz klar in dem Appell, zweiter Absatz, erster Satz. Ein Kritiker der Frankfurter Allgemeinen Zeitung meinte, das hätten sie nur zum Schein dort reingeschrieben, so meinen könnten sie es auf keinen Fall. Nun gut. Ich bin mit dem Appell ganz und gar einverstanden und weiß sehr genau, dass Russland die Ukraine überfallen hat. Das Wort „völkerrechtswidrig“ erscheint mir in einem solchen Satz fast schon zu niedlich. Putin, seine Generäle und Propagandisten sind Verbrecher, denen kein Gran an Sympathie gebührt.

Was aber tun, wenn da ein Regime ist (ich glaube nicht an Putins Alleinschuld), das über eine Armee verfügt, die immer wieder versagen mag – mich erinnert das an meine NVA-Erfahrung –, die aber den ukrainischen Verteidigern in Sachen Rüstung und Soldatenstärke weit überlegen ist? Wenn dieses Regime, das mit Atomwaffen droht, diesen Krieg um den Erhalt seiner selbst unter keinen Umständen verlieren darf? Was tun, wenn die meisten ernstzunehmenden Kriegsfachleute im Westen davon ausgehen, dass ein wesentliches Zurückdrängen den Ukrainern auf absehbare Zeit nicht gelingen dürfte? Wer im Westen glaubt ernsthaft an eine Chance auf jenen Sieg, von dem die ukrainische Regierung spricht, also dem, der die Rückeroberung der Krim einschließt?

Der Journalist David Ensikat wurde 1968 in Ost-Berlin geboren.
Der Journalist David Ensikat wurde 1968 in Ost-Berlin geboren. © privat

Wer sagt, es muss weitergekämpft werden, Verhandlungen haben derzeit keinen Sinn, der sagt: Tausende müssen weiter sterben. Abertausende mehr werden traumatisiert, von Tag zu Tag. Ja, Schuld sind die russischen Angreifer. Aber sie sind da, und man wird sie auch mit den paar Dutzend Leopard-Panzern nicht wegbekommen, nicht einmal mit ein paar Superflugzeugen.

Die Forderungen der Russen sind unverschämt, inakzeptabel für die Ukraine. Die Forderung der Ukraine ist inakzeptabel für die Russen. Keine Frage, dass die Sympathien auf der Seite der Ukraine stehen. Sie sagen, sie wollen weiterkämpfen. Wir wissen, dass die Erfolgschancen gering sind. Wir liefern ihnen Waffen, und wir wissen, dass es nicht genug sein werden, um das Kriegsziel zu erreichen.

Was soll man denn tun, wenn nicht verhandeln? Wenn das naiv ist, bitte ich die Nicht-Naiven, einmal zu sagen, ob sie selbst, ganz persönlich, bereit wären, in Bachmut zu kämpfen, bis die Verhandlungsposition eine bessere ist. Sie sollen sagen, wann das der Fall wäre. Und wie sie ihre Chancen einschätzen.

Die Ukraine kann nicht über unsere Haltung bestimmen

Ein Argument gegen den Appell von Schwarzer/Wagenknecht lautet: Nicht wir haben zu entscheiden, ob gekämpft oder verhandelt wird, sondern allein die Ukrainer. Wäre ich Ukrainer, ich würde Nato-Bodentruppen fordern. Vergeblich. Nicht mal ein Flugverbot hat der Westen den Ukrainern zugebilligt. Mit gutem Grund.

Selbstverständlich entscheidet nicht die Ukraine, wie der Westen sich verhält. Die Möglichkeiten der ukrainischen Verteidiger werden im Augenblick, ob man das gut findet oder nicht, vom Westen bestimmt. Also müssen wir hier eine Haltung finden. Und das unter den beschriebenen grausamen Gegebenheiten.

Oder, um noch bündiger zu argumentieren: Weil die Gefahr besteht, dass der Krieg sich über die Ukraine hinaus ausweitet, kann nicht die Ukraine über unsere Haltung bestimmen.

Zudem, wer ein wenig zurückgeht im Geschehen und nach den Gründen des Konflikts sucht, wer einsieht, dass es nicht allein um böse Gedanken eines einzelnen Imperialisten im Kreml geht, der weiß, dass der Westen seit vielen Jahren eine große Rolle gespielt hat: Einbindung in EU und Nato. Der Westen hat, wenn man etwa den Auslassungen des israelischen Ex-Premiers Naftali Bennett folgt, in die Verhandlungen vor einem knappen Jahr eingegriffen. Mit Waffenlieferungen und Sanktionen steckt er tief in der Angelegenheit. Und er wird auch weiter seine Rolle spielen, nicht zuletzt, weil es um die Friedensordnung in Europa geht.

Es gibt nur schlimm und schlimmer

Wir wissen, dass der Aggressor nicht mit seiner Aggression aufhört, weil wir Panzer oder, wer weiß, Flugzeuge liefern. In einer solchen Situation nicht alles daranzusetzen, eine andere Lösung zu finden, und läge sie auch noch so fern, halte ich für sträflich. Es stimmt, es ist kein gerechter Kompromiss vorstellbar, kein akzeptables Verhandlungsergebnis auf Dauer, denn es geht um das Territorium eines souveränen Staates. Es geht um harte Zugeständnisse, die einen Waffenstillstand ermöglichen. Und schließlich um einen langen Prozess weiterer Verhandlungen unter dem größtmöglichen Druck auf Russland.

Das darf nicht sein? Der Aggressor kommt davon und wird auch noch belohnt? Es gibt keinen guten Ausweg aus der Sache. Es gibt nur schlimm und schlimmer. Denn auf die Ablösung von Putin durch einen Friedensengel muss man nicht hoffen. Und die Alternative sehen wir tagtäglich: die Zerstörung eines Landes, seiner Menschen, seiner Seelen.

Aber darf man eine Haltung unterstützen, die Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer haben? Sie sind mir nicht sympathisch, na und? Sie geben einer Haltung eine Stimme, die offenbar die wenigsten meiner Kolleginnen und Kollegen im deutschen Journalismus teilen – soweit sie sich zu Wort melden. Es ist auch meine Haltung. Die Art, wie darauf reagiert wurde, herablassend, falsch lesend, unterstellend, hat mich eher noch bestärkt.

Und dann, da es doch um den Krieg und die Gefahr seiner Ausweitung geht, noch etwas aus meiner Grundausbildung als Kriegshandwerker. Ich war Funkorter bei der Luftabwehr. Das sind diejenigen, die als Erste ausgeschaltet werden, wenn ein Luftkrieg stattfindet, da sie sonst helfen, die Flugzeuge vom Himmel zu holen.

Bevor die Ukrainer dereinst die teuren Flugzeuge aus dem Westen aufsteigen lassen, müssten sie die russische Luftabwehr ausschalten. Die befindet sich zum größten Teil auf russischem Boden.

*Unser Autor David Ensikat wurde 1968 in Ost-Berlin geboren und hat in der DDR noch den Wehrdienst und ein Kamera-Volontariat beim Fernsehen absolviert. Er hat Geschichte und Publizistik studiert und arbeitet seit 1999 bei der Berliner Zeitung Tagesspiegel. Dort ist er für die Nachrufeseite zuständig, auf der Lebensgeschichten von nichtprominenten Berlinern erzählt werden. Sein Vater war der Autor und Satiriker Peter Ensikat.