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Die Tschechen und der Krieg in der Ukraine

Václav Havel hätte den Kopf über die Deutschen geschüttelt, die Kiew und dem Westen mangelnden Friedenswillen unterstellen. Appeasement war für den einstigen Prager Präsidenten „der Weg in die Hölle“.

Von Hans-Jörg Schmidt
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Die Tschechen haben einen anderen Bezug zu Friedenspolitik als Deutsche - aus guten Gründen.
Die Tschechen haben einen anderen Bezug zu Friedenspolitik als Deutsche - aus guten Gründen. © SOPA Images via ZUMA Press Wire/dpa

Gegenüber dem NVA-Gefreiten a.D. David Ensikat, auf dessen viel beachteten Artikel zur Ukraine auf Sächsische.de ich hier antworten möchte, war ich eine militärische Nullnummer. Kein Funkorter bei der Luftabwehr, sondern in den 70er Jahren nur 18 Monate Volkspolizei-Anwärter bei der Bereitschaftspolizei. Wir haben in diesem offiziell „Wehrersatzdienst“ eine ruhige Kugel geschoben. „Höhepunkt“:

Fahrten in die Hauptstadt, wenn höchste Staats-und-Parteigäste aus den „Bruderländern“ begrüßt wurden. Da standen wir Kordon an den Straßen vom Flughafen bis nach Pankow und hofften, dass hinter uns, aus den hinkommandierten Jubler-Massen, niemand ein faules Ei wirft. Das hätten wir nicht verhindern können, weil wir laut einem wenig intelligenten Befehl nach vorn zu gucken hatten. Bei mir flog kein Ei. Glück gehabt.

Unser Autor Hans-Jörg Schmidt wurde 1953 in Halle/Saale geboren. Er hat in den 1970er Jahren bei der VP-Bereitschaftspolizei in seiner Heimatstadt Wehrersatzdienst geleistet und später Journalistik studiert. Er arbeitet seit 1990 als Prager Korrespondent unter anderem für die Sächsische Zeitung.

Weit weniger Glück hatten Tschechen und Slowaken, als in der Nacht zum 21. August 1968 Truppen mehrerer Warschauer-Pakt-Staaten den Prager Frühling überrollten. Aus dem Westen hörten sie zwar „Sympathie“ für ihr Streben nach Freiheit und einem Sozialismus mit menschlichem Antlitz. Aber in Wahrheit interessierte sich der Westen nur herzlich wenig für sie. Der damalige bundesdeutsche Außenminister Willy Brandt hatte schon 14 Tage vor dem Einmarsch in einem Interview gesagt: „Das beste, was wir für die Tschechoslowakei tun, ist nichts zu tun“. Die Tschechen fühlten sich da zum zweiten Mal in jenem Jahrhundert verraten.

"Frieden" als Wort ist gut zu manipulieren

Das erste Mal hatte man sie 1938 auf der Münchner Konferenz im Stich gelassen. Briten und Franzosen hatten dort - um Zeit zu gewinnen - die sudetendeutschen Grenzgebiete an Hitler abgetreten. Die angereisten Tschechen, die in einem Hotel auf den Ausgang der Verhandlungen zu warten hatten, mussten einfach so hinnehmen, dass der Westen mit diesem Appeasement-Kurs seine Bündnisverpflichtungen gegenüber Prag aufkündigte. Diese beiden traumatischen Erlebnisse führten dazu, dass der erste „Nach-Wende“-Präsident Václav Havel, Appeasement, das sich das Raushalten auf Kosten anderer, als „den Weg in die Hölle“ bezeichnete.

Ich habe in mehr als drei Jahrzehnten in Prag viel über die tschechischen geschichtlichen Traumata gehört, gesehen und gelesen. Sie sind lebendig bis heute. Ich räume ein, dass geschichtliche Erfahrungen, die ein Land machen musste, nicht einfach auf andere Länder übertragbar sind. Aber man kann wenigstens versuchen, sich in andere Völker und deren Traumata hineinzuversetzen. Dann versteht man auch, weshalb ein „Manifest für den Frieden“ wie das von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer in Tschechien (wie auch in den anderen Staaten der Nato-Ostflanke mit Ausnahme vielleicht Ungarns) völlig undenkbar wäre. Havel würde darüber den Kopf schütteln.

Er hatte noch als Dissident 1985 in dem Aufsatz „Anatomie einer Zurückhaltung“ gegen den - auch in der DDR üblichen - gezielt inflationären Gebrauch des Begriffs „Frieden“ polemisiert: „Dieses Wort ist in unserem Teil der Welt inhaltsleer geworden. In der Tschechoslowakei hängen Losungen wie ‚Aufbau der Heimat - Stärkung des Friedens‘, ‚Die UdSSR - Garant des Weltfriedens‘ usw. ... Der ‚Kampf um den Frieden’ ist ein nicht wegzudenkender Bestandteil der ideologischen Fassade des Systems, in dem wir leben.“ Und Havel weiter: Gerade in Mitteleuropa, von dem zwei Weltkriege ausgingen und wo man nacheinander zwei totalitäre Regime erlebt habe, gehöre „Frieden“ auch zu den Wörtern, mit denen man sehr gut manipulieren könne.

Kein Teil einer "halbgaren Pufferzone" sein

Die Zurückhaltung gegenüber Antikriegs- und Friedensdemonstrationen gilt in Tschechien bis heute. Auch und gerade im Zusammenhang mit der Ukraine. Dementsprechend war hier auch Kritik an dem „Manifest für den Frieden“ zu erwarten. Die Zeitung Lidové noviny machte am gestrigen Montag unter anderem darauf aufmerksam, dass die Autoren „nicht die Einstellung der Kämpfe priorisieren (was Deutschland nicht betreffen würde), sondern die Einstellung der Waffenlieferungen (das würde Deutschland betreffen). Zynisch gesagt ist diese Argumentation rational“, so Lidové noviny.

Und weiter: „Wenn die Verteidigungsfähigkeiten der Ukraine geschwächt würden, würde Moskau eine Art pax russica erzwingen. Wir machen uns keine Illusionen darüber, was sich ein Land darunter vorstellt, dessen Führer nur mit Verachtung von der Ukraine und den Ukrainern sprechen. Das `Manifest` ähnelt damit dem chinesischen Plan für eine politische Lösung der Ukraine-Krise. Der stellt das Ende der Feindseligkeiten auch erst auf den dritten Platz.“

Die tschechische Empfindlichkeit gegenüber „Manifesten“ und „Friedens-Demonstrationen“ in Sachen Ukraine hängt natürlich auch damit zusammen, dass Putin nach eigenen Worten das Rad der Geschichte gleich richtig zurückdrehen, konkret die Osterweiterung der Nato rückgängig gemacht sehen will. Die Tschechen wollen aber ebenso wenig wie die Polen, die Slowaken oder die Menschen in den baltischen Ländern wieder zurück in Moskauer Einflussgebiet. Sie wollen auch nicht Teil einer halbgaren Pufferzone zwischen dem Westen und Russland werden.

Würde Putin sich von "Sympathie" aufhalten lassen?

Diese Länder und ihre Völker haben sich für die Werte des Westens entschieden, von sich aus. Ein Motto der tschechoslowakischen Samtrevolution 1989 lautete: "Zurück nach Europa!" Und diese Länder haben geduldig gewartet, bis die Allianz sie letztlich aufnahm. Wer der Ukraine dieses Recht abspricht und es einmal mehr unter Panzerketten zermalmt, muss mit Gegenwehr rechnen. Der Kreml darf nicht die Chance bekommen, das alte System der Satellitenstaaten mit Waffengewalt erneut herzustellen.

Dass die „Manifest“-Initiatoren soweit nicht zu sehen bereit sind, ist mir als „Prager“ unverständlich. Zumal dann Putin an der Ostgrenze Deutschlands stünde.

„Keine Frage, dass die Sympathien auf der Seite der Ukraine stehen“, schrieb David Ensikat in seinem Artikel an dieser Stelle. Mit nur „Sympathie“ im Rücken, da bin ich als bloßer VP-Anwärter a.D. sicher, kann die Ukraine ihr Recht auf Selbstverteidigung nicht ausüben. Eine gute Ausgangsposition für selbstverständlich erforderliche Friedensverhandlungen wäre so nicht drin. Und glaubt schließlich jemand ernsthaft, dass sich Putin von reiner „Sympathie“ des Westens für die Ukraine aufhalten lassen würde? Das, so denke ich, wäre hochgradig naiv.