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Vom Kampf, eine neue Familie zu werden

Sandro Kühn holte nach vielen Wirrungen seine Kinder aus dem Heim und gründete eine neue Familie mit einer Frau, die alkoholabhängig war. Kann das gut gehen?

Von Olaf Kittel
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Fühlen sich wohl in der neuen Familie: Sandro Kühn, seine drei Kinder und Lebensgefährtin Vivienne Ritter.
Fühlen sich wohl in der neuen Familie: Sandro Kühn, seine drei Kinder und Lebensgefährtin Vivienne Ritter. © Wolfgang Wittchen

Nur auf den allerersten Blick ist das Leben auf diesem Bauernhof bei Bautzen an einem kalten November-Sonnabend ganz normal: Der Familienvater im Kapuzenpulli werkelt auf dem sanierungsbedürftigen Hof, die drei Kinder zwischen 8 und 13 Jahren spielen einträchtig miteinander, eine Katze streicht herum. Nur eine junge Frau von Anfang 20 passt nicht ganz ins Bild der Familie, die sich hier ein neues Heim schafft. In Wahrheit ist im Leben dieser fünf fast nichts normal gelaufen. Wenn sie jetzt wirklich eine Familie werden, was sie sich fest vorgenommen haben, würden sie ein kleines Wunder vollbringen.

Um das zu verstehen, müssen gleich drei Geschichten erzählt werden. Zunächst die von Sandro Kühn, 30, dem Familienvater. Sandro ist in Riesa geboren und bei Großenhain aufgewachsen. Als er 13 war, trennten sich die Eltern. Er blieb beim Vater („Ich bin ein Papa-Kind“), zog mit ihm nach Weinböhla und beendete dort die Hauptschule. In dieser Zeit lernte er mit zarten 15 ein gleichaltriges Mädchen kennen, sie verliebten sich. Mit 16 bekamen sie ihr erstes Kind. Tim war eine sehr schwere Geburt, das Leben von Mutter und Kind in großer Gefahr. Als das überstanden war, zogen die drei nach Bautzen, wohnten bei ihren Eltern. Mit 18 hatten sie die erste eigene Wohnung, mit 19 kam ihr zweites Kind, Sophie. Es folgten später zwei weitere.

Auf eine Ausbildung hatte Sandro Kühn verzichtet: „Ich war damals schrecklich faul. Nach der Bundeswehr habe ich auf dem Bau als Pampel angefangen und mich hochgearbeitet. Baggerfahrer war mein Traum.“ Das hat er geschafft, und ein bisschen stolz fügt er hinzu: „Inzwischen bin ich Vorarbeiter.“ Beruflich ging es also bergauf, privat bergab. Es gab Streit, das Paar trennte sich vor fünf Jahren, die vier Kinder blieben zunächst bei der Mutter.

Aber, und jetzt beginnt die zweite Geschichte, dann schritt das Jugendamt wegen Gefährdung des Kindeswohls ein, von Drogenproblemen war die Rede. Die Jüngste wurde von einer Familie adoptiert, die drei Größeren kamen ins Heim. Der Papa war in dieser Zeit viel auf Montage, besuchte sie aber regelmäßig.

Alle sind sich einig, dass die Kinder es gut hatten im Kinderheim in Kamenz und die Betreuer alles gaben, was sie geben konnten. Aber die Familie ersetzen kann auch das beste Heim nicht. Deshalb wurde dieses Jahr geprüft, ob Sandro Kühn seine Kinder zu sich nehmen kann. Er hat darum gekämpft, die Kinder wollten es unbedingt, die leibliche Mutter war dagegen. Das Jugendamt hatte zu prüfen, ob das Familienexperiment gut gehen kann. Sollte er wirklich alle drei Kinder aufnehmen oder doch vielleicht nur den Großen? Keine leichte Entscheidung.

Experiment unter Auflagen

Schließlich spielt Vivienne Ritter eine Rolle, Sandro Kühns Partnerin seit drei Jahren. Die junge Frau ist erst 22 und hat selbst eine schwierige Vergangenheit. Es ist die dritte Geschichte. Vivienne will nicht ins Detail gehen, aber ihre Kindheit war hart und gar nicht schön. Auch sie hat Heimerfahrung und wurde adoptiert. Ihre Pflegeeltern gaben sich große Mühe mit ihr und konnten sie dennoch nicht in der Spur halten. Sie geriet an die falschen Freunde und war mit 15, 16 bereits schwer alkoholabhängig. „Ich habe nicht auf meine Eltern gehört und sie sehr enttäuscht.“ Sie hat das alles zum Glück überwunden und ihren Frieden mit den Pflegeltern gemacht. Heute wohnen sie alle zusammen auf deren Hof bei Bautzen.

Aber ist ihre Partnerschaft mit Sandro Kühn stabil genug für eine Familie mit drei Kindern? Kann sie ihnen die Mutter ersetzen? Tim ist gerade neun Jahre jünger als sie. Das Jugendamt entschied letztlich, dem Experiment unter Auflagen zuzustimmen. So musste Sandro Kühn seine Arbeitsstelle wechseln, um nicht mehr auf Montage zu gehen. Hat er gemacht, seine Firma ist gleich um die Ecke, jetzt ist er immer pünktlich zu Hause. 

Seit September wohnen sie jetzt alle zusammen auf dem Hof. Die Kinder gehen achtsam miteinander um, es gibt keinen Streit, vor allem die beiden Großen sind sehr eng miteinander. Alle drei sind offen, zeigen kaum Scheu. Tim, der Älteste, geht jetzt in die 8. Klasse. Er ist, sagt der Vater, faul, aber gut in der Schule, und er ist „das Sensibelchen in der Familie“. Bald wird er sein erstes Praktikum absolvieren, um herauszubekommen, was er später mal machen könnte. Sophie kämpft mit einer Lese-Rechtschreibschwäche, hat sich aber genauso wie ihr kleiner Bruder Ben gut in der neuen Schule eingelebt.

Die drei Kinder übernehmen im Haushalt erste Aufgaben. Tim bringt den Müll raus, Sophie und Ben sind zum Aufräumen und Kehren eingeteilt. Klappt, ohne zu murren. Sie genießen es, mit dem Vater zu spielen, die Jungs natürlich Fußball, Sophie mag mehr Monopoly. „Zuletzt habe ich den Papa abgezockt.“

Neue Betten für die Kinder

Und wie kommt Vivienne klar mit der neuen Rolle? Sie sagt dazu einen überraschenden Satz: „Die Kinder hängen sehr an mir, vielleicht mehr als am Papa.“ Sie hört ihnen ruhig und geduldig zu, sie versteht sie gut, weil sie ähnliche Kindheitserfahrungen hat und der Altersunterschied nicht so groß ist. Und dann sagt sie noch einen überraschenden Satz: „Die Kinder helfen mir ungemein.“ Sie helfen ihr, ihre eigene Vergangenheit hinter sich zu lassen, neue, positive Erfahrungen zu sammeln, Gutes zu tun und sich damit wohlzufühlen. 

Im nächsten Jahr wird sie noch einmal eine Ausbildung anfangen. Sie will Sozialassistentin werden und Kinder unterstützen, vielleicht in einem Kinderheim arbeiten. Sandro Kühn hört ihr geduldig zu, strahlt: Es läuft, endlich. Wenn sich nur die Behörden schneller bewegen würden. Das Sorgerecht für die drei Kinder ist inzwischen übertragen, aber nur ein Kindergeld ist da.

Warum das? Versteht kein Mensch, Behördenwege eben. Dabei braucht die Familie dringend das Geld. Sandros Gehalt allein reicht für die Familie plus Sanierung der Wohnung nicht aus. Mit Hochdruck bauen sie die gerade aus. Für die beiden Großen wird der Dachboden hergerichtet, alle drei sollen ihr eigenes Zimmer bekommen. Aber das kostet, auch wenn Sandro Kühn mit der Unterstützung seiner Kollegen sehr viel selbst leistet.

Weil vorübergehend Geldnot herrscht, hat Sandro Kühn über den Caritasverband Oberlausitz um eine Hilfe bei Lichtblick gebeten. Die Stiftung überwies bereits rasch und unbürokratisch 700 Euro. Von dem Geld kaufte die Familie inzwischen drei Betten samt Matratzen für die Kinder. Ging alles ganz schnell. Dafür bedanken sie sich herzlich bei allen Lichtblick-Spendern.

Wie geht’s jetzt weiter?

Zunächst müssen sie die Behördenangelegenheiten regeln, um Planungssicherheit zu haben. Die Wohnung muss fertig werden, es gibt noch viel zu tun. Nächstes Jahr ist die Hochzeit geplant. Klein und bescheiden, wie beide versichern. Dann sollen Scheunen und Geräteschuppen saniert werden. Etwas Landwirtschaft wollen sie betreiben und Tiere anschaffen, vor allem für die Kinder. Platz ist genug. Vielleicht ein Schaf oder eine Ziege, Sophie wünscht sich einen Hasen, ein Hund ist noch umstritten.

Es sieht ganz so aus, als ob, wenn alles gut geht, bei Bautzen ein kleines Wunder geschieht: Eine ganz normale fünfköpfige Familie entsteht.

So geht die Hilfe:

  • Die Stiftung Lichtblick veranstaltet dieses Jahr die 24. Spendensaison für unschuldig in Not geratene Menschen.
  • Die Spenden können mit beiliegendem Überweisungsträger oder online über www.lichtblick-sachsen.de/jetzt-spenden überwiesen werden. Der Überweisungsbeleg gilt bis 200 Euro als Spendenquittung.
  • Für größere Überweisungen senden wir eine Quittung.
  • Hilfesuchende wenden sich bitte an Sozialeinrichtungen ihrer Region wie Diakonie, Caritas, DRK, Volkssolidarität, Jugend- und Sozialämter, mit denen Lichtblick zusammenarbeitet.
  • Die Sächsische Zeitung veröffentlicht automatisch die Namen der Spender. Wer anonym spenden will, vermerkt beim Verwendungszweck „Anonym“.
  • Erreichbar ist Lichtblick telefonisch Dienstag und Donnerstag von 10 bis 15 Uhr unter 0351/4864 2846, Fax - 9661. E-Mail: [email protected]. Post: Sächsische Zeitung, Stiftung Lichtblick, 01055 Dresden
  • Konto-Nummer: Ostsächsische Sparkasse Dresden, BIC: OSDDDE81, IBAN: DE88 8505 0300 3120 0017 74

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