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Dresdnerin mit Ukraine-Wurzeln: "Es gibt mein Leben davor und danach"

Ein Job als Dolmetscherin, Mann, Kinder, Freunde: Das Leben von Natalija Bock war erfüllt. Seit Russlands Krieg widmet sie alle Zeit den Betroffenen. Sie brennt für ihre Heimat. Und brennt dabei aus.

Von Franziska Klemenz
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Natalija Bock lebt seit 25 Jahren in Dresden. Seit Kriegsbeginn am 24. Februar 2022 organisiert sie regelmäßig Kundgebungen, Hilfstransporte, Spenden, Wohnungen und so viel mehr.
Natalija Bock lebt seit 25 Jahren in Dresden. Seit Kriegsbeginn am 24. Februar 2022 organisiert sie regelmäßig Kundgebungen, Hilfstransporte, Spenden, Wohnungen und so viel mehr. © ronaldbonss.com

Vier Stunden. Manchmal fünf. Länger schläft Natalija Bock nicht mehr. Seit Russland Bomben und Raketen auf die Ukraine wirft, Soldaten ihre Landsleute foltern, knechten, vergewaltigen, hat die Dolmetscherin keine Zeit mehr übrig, um zu schlafen. Oder zu leben. Natalija Bock verknüpft, besorgt, plant, spricht, koordiniert. Spendentransporte, Wohnungen, Sprachkurse, Kindergartenplätze, Helferinnen. Fast alles ehrenamtlich. „Das Wort Freizeit bedeutet gar nichts mehr. Ich habe auch kein Wochenende mehr für die Familie“, sagt sie. „Mein E-Mail-Postfach ist so voll, ich bräuchte Tage, um alles zu beantworten.“

Seit 25 Jahren lebt die Dolmetscherin in Dresden. Mit ihrem Ehemann, einer Tochter, einem Sohn. Seit einem Jahr herrscht Krieg in ihrem Heimatland, der Ukraine. „Es gibt mein Leben davor und mein Leben danach. Am 24. Februar 2022 habe ich mich von meinem Leben verabschiedet.“ Ihre Schwester mit zwei Kindern ist aus der Ukraine geflohen und zog bei Natalija Bock ein. Ihre Eltern waren zwischendurch in Deutschland, kehrten dann zurück nach Kiew. „Sie haben ihre Heimat vermisst.“

Ihr Bruder lebt weiter in der Ukraine, ihr Schwager, ihre Schwägerin. Ihr Großcousin ist gefallen. Ihre Cousine entstellt. Eine Druckwelle presste Splitter in ihr Büro, die sich ins Gesicht gefressen haben. „Ich habe gedacht, dass ich ausgeweint hab“, sagt Natalija Bock. Aber die Tränen fließen weiter, mit jeder Kugel, jeder Bombe und Rakete.

Über 7.000 Geflüchtete allein in Dresden

Natalija Bock marschiert durch das Ukraine-Haus am Dresdner Neumarkt. Neonlicht raubt dem fensterlosen Raum die Schatten. Bilder voller Farben unterbrechen robbengraue Wände. Natalija Bock trägt Gelb und Blau. Wie die Flagge ihres Heimatlands. „Ich weiß nicht, ob ich es vor heute Abend noch nach Hause schaffe.“ Zu einem Podium ist sie geladen, soll über die Ukraine sprechen. Über ein Jahr Krieg.

„Ich bin wirklich stolz darauf, dass es uns gelungen ist, die Menschen hier unterzubringen. Das ist ein Riesending, dass die deutschen Gastgeber mit den Ukrainern so gut klarkommen, dass immer noch viele privat untergebracht sind.“ Fremde wurden Freunde. Vertriebene trauen sich wieder Hoffnung zu. „Mich hat sehr positiv überrascht, dass die Menschen so herzlich aufgenommen worden sind.“ Mehr als 7.000 Geflüchtete, allein in Dresden.

„Wildfremde Menschen haben mich angerufen. Ärzte, Rechtsanwälte, Richter.“ Häuser und Wohnungen haben sie angeboten, Transportfahrten über die Grenze. Ein gespendetes Ultraschallgerät aus Dresden hilft seit Kurzem Schwangeren in der Ukraine.

Natalija Bock bei einer Kundgebung auf dem Dresdner Neumarkt.
Natalija Bock bei einer Kundgebung auf dem Dresdner Neumarkt. © René Meinig

Natalija Bock trabt aus der Küche des Ukraine-Hauses, vorbei an einem Konferenztisch, einem Spielzimmer für Kinder, schwarzen Regalen voller Bücher mit ukrainischen Schriftzeichen. Seit November gibt es diesen Ort. Für Kurse, Treffen, Beratung. „Ein ganz großes Problem haben jetzt Jugendliche.“ In den ersten Monaten füllte das Ankommen, das Neu-Sein der Stadt, Schule, Sprache die Gedanken und die Träume.

Wenn Aufregendes Alltag wird, kriecht Verdrängtes an die Oberfläche. Viele Geflüchtete erleben jetzt Wunden, die unsichtbar sind. Traumaschäden, die Flucht und Krieg anrichten. Einschlafen oder konzentrieren fällt schwer. Wenn sie doch schlafen, plagen Albträume die Nächte. Auch psychologische Beratung bietet das Ukraine-Haus in Dresden an. Jetzt besonders viel.

„Ich denke, ich bin am Limit"

Ein Anzugträger um die 50 baut sich inmitten des Raums vor Natalija Bock auf. Seine rasenfarbenen Schuhe passen zum Gürtel. „Mit wem kann ich hier sprechen?“, tönt er. „Ist gerade schlecht, wir führen ein Gespräch“, entgegnet Natalija Bock. „Sie werden ja wohl zwei Minuten haben.“ Es gehe um einen Kongress für Investoren, auch ukrainische. Natalija Bock vertröstet ihn auf später.

Einen Augenblick vergräbt sie das Gesicht in ihren Händen. „Und so geht das den ganzen Tag“, ächzt sie. „Ich denke, ich bin am Limit.“ Kurz vor dem Burnout. „Ich hätte wahrscheinlich dieses Jahr nie geschafft, wenn ich nicht diese Unterstützung von den Menschen hier gehabt hätte.“ Von Dresdnerinnen und Dresdnern, die nicht reden, sondern reagieren wollen. Auffangen, polstern.

Im Mai sagten geflüchtete Ukrainer mit einer Putzaktion am Dresdner Elbufer danke für die Hilfe. Natalija Bock hatte sie organisiert.
Im Mai sagten geflüchtete Ukrainer mit einer Putzaktion am Dresdner Elbufer danke für die Hilfe. Natalija Bock hatte sie organisiert. © René Meinig

Der Gedanke daran, dass es auch andere gibt, verhärtet die Züge von Natalija Bock. Sie schüttelt den Kopf. Zum Jahrestag des Kriegsbeginns haben nicht nur Unterstützerinnen der Ukraine dazu aufgerufen, sich zu versammeln. Auch rechtsradikale und rechtsextreme Russland-Verteidiger haben sich zum „Friedensspaziergang“ durch Dresden getroffen. Thüringens AfD-Chef Björn Höcke, Pegida, Österreichs Ex-Vizekanzler Heinz-Christian Strache.

„Ich empfinde das als einen Hohn“, sagt Natalija Bock. „Der Frieden, den sie fordern, bedeutet die Aufgabe der Ukraine. Russland wird weiterkämpfen und die Ukraine ein besetztes Land unter schlimmsten Verhältnissen. Putin schlachtet unsere Menschen ab.“ Sie presst die Lippen aufeinander, schüttelt wieder den Kopf, als wolle sie den Gedanken rausschütteln. „Die Ukrainer sind diejenigen, die am meisten Frieden wollen, weil wir genau wissen, wie es ist, im Krieg zu leben.“

Seit 2022 führt Russland offenen Krieg im ganzen Land. Die Ostukraine lebt seit 2014 im Krieg. „Russland hat die ganze Welt an der Nase herumgeführt. Ich denke, sie haben den Krieg schon sehr lange vorbereitet.“ Im tiefsten Inneren, sagt Natalija Bock, hätte sie gewusst, was kommt. Nur nicht, dass es so lange dauern könnte. Natalja Bock muss los, springt auf, sprintet davon. Sie hat noch Kraft. Sie muss.