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Flüchtlings-Drehkreuz Warschau: Der Bahnhof der Hilfsbereiten

Der Warschauer Bahnhof ist das wichtigste Drehkreuz für Geflüchtete aus der Ukraine. Hier engagieren sich viele Helfer für ihre Nachbarn in Not. Ist das Polens neue Willkommenskultur?

Von Franziska Klemenz
 11 Min.
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Doris Maklewska koordiniert tagtäglich ehrenamtlich die Helfer am Warschauer Hauptbahnhof. Über den Krieg will sie nicht grübeln. "Ich will lieber fragen: Was kann ich heute tun?"
Doris Maklewska koordiniert tagtäglich ehrenamtlich die Helfer am Warschauer Hauptbahnhof. Über den Krieg will sie nicht grübeln. "Ich will lieber fragen: Was kann ich heute tun?" © Jürgen Lösel

Doris rennt. Bald kommt der Zug. Vielleicht ist er schon da. "Früher habe ich nicht so auf den Bahnhof geachtet." Jetzt finde sie blind zu Gleisen. Ihre Schritte hallen über gesprenkelte Steinplatten, vorbei an Ticketautomaten, Läden voller Sandwiches und Softdrinks. Mehr Löcher als Wände im Gang, überall gehen Treppen ab. Ein Durchgangsort, wo alle eilen. Nur Doris stockt jetzt. Der Zug ist noch nicht da.

Doris Maklewska koordiniert am Hauptbahnhof Warschau Freiwillige, die Flüchtenden aus der Ukraine helfen. Ehrenamtlich. Ihr Geld verdient die 35-Jährige mit Kursen: Wie finde ich Jobs durch Social Media? "Ich bin kein politischer Mensch. Als der Krieg losgegangen ist, wollte ich einfach helfen", sagt sie. Ein Kabel führt von ihrem Handy in einen eigelbfarbenen Rucksack, es braucht Dauerladung.

Seit Russland die Ukraine bekriegt, ist Warschau der wichtigste Knotenpunkt für Flüchtende. Die Nähe zur Heimat, der Nimbus der Hauptstadt, manchmal Verwandte in der Nähe. Auf vielen Fluchtrouten ist es die erste Metropole. Einigen steigen um, unterwegs zu ukrainischen Gemeinschaften von Lissabon bis Vancouver.

Viele sind posttraumatisch gestresst

Gut vier Millionen Menschen sind den Vereinten Nationen zufolge seit Kriegsbeginn aus der Ukraine geflohen. 2,4 Millionen davon nach Polen. Zuletzt wurden es weniger, aber noch immer kommen rund 20.000 am Tag. Eine Welle der Solidarität flutet das Land, das bisher oft für seinen Umgang mit Flüchtlingen kritisiert wurde. Tausende Ehrenamtliche engagieren sich. Kaum ein Ort, wo Polens Flagge einsam weht. Blau-gelbe Ukraine-Flaggen sieht man von Krakau bis Breslau auf Bussen, Taxen, Ämtern, Theatern.

"Am Anfang hab ich meinen Mantel genommen und dachte, ich bleibe die ganze Nacht", sagt Doris. "Das war hart, ich bin keine Person, die Nächte durchmacht. Aber es war nötig." Kurz nach Kriegsbeginn, zwei Frauen mit Campingstühlen belegen Brötchen – so beschreibt Doris den Anfang ihres Bahnhofs-Einsatzes. "Erst war es ein Startup, zwei Wochen später eine Kooperation von Hunderten."

Der Kulturpalast in Warschau, ein Relikt der Stalinzeit, leuchtet in Ukraine-Farben.
Der Kulturpalast in Warschau, ein Relikt der Stalinzeit, leuchtet in Ukraine-Farben. © Jürgen Lösel

Über Instagram vernetzen sie sich. Marketing-Manager ebenso wie Studentinnen oder Angestellte, die nach der Arbeit kommen. Vier Schichten rund um die Uhr, je sechs Stunden. Etwa 50 Leute sind täglich da, plus zehn Feuerwehrleute. "Ich fürchte, dass einige sich an den Krieg gewöhnen – ähnlich wie bei Corona", sagt Doris. "Andererseits habe ich gesehen, wie rasant sich Hilfe organisiert, wenn sie nötig ist."

Ein wuseliges Knäuel aus Neonwesten zieht sich durch die Haupthalle des Bahnhofs. Die Helfer vermitteln Fahrten, Handys, Ärztinnen und Tierfutter. Plakate in Blau-Gelb verweisen auf Hotlines, Kabelsalate bieten Strom. Nicht nur aus Polen kommen die Helfer, manche sind extra angereist, um hier zu unterstützen. Aber es ist nicht so einfach mit denen, die nur Englisch sprechen. "Sie sind nur für körperliche Arbeit hilfreich", sagt Doris.

Abhai Raj verrät mit gelben Lettern, was er bieten kann. Sein weißer Turban und der graue Bart lugen über einem lotosförmigen Schild hervor. "Free ride to Berlin" steht darauf. Der 65-Jährige fährt Leute kostenlos nach Berlin, bringt auf dem Rückweg von dort Brötchen und Wasser mit. Er ist extra aus New Hamphire in den USA angereist, über eine Yoga-Gemeinde ist er gekommen, kann drei Monate bleiben. "Es ist so frustrierend, die Situation zu sehen", sagt er. Ich bin gläubiger Sikh. Es ist unsere Pflicht, Menschen in Not zu helfen."

Katja aus Finnland bleibt eine Woche. "Wir helfen, den richtigen Weg zu finden", sagt sie. "Manche haben keine Ahnung, was passiert, wie es weitergeht, sind posttraumatisch gestresst." Doris blickt zum Gleis hinab. "Wenn es voll wird, geht sofort runter, da könnt ihr am besten helfen." Gewaltige Betonsäulen mit blauem Anstrich rahmen die Gleise. Taubern flattern hastig fort, als Lichtkugeln aus der Dunkelheit schießen. Neonwesten geleiten Menschen zu Treppen.

"Trinke, esse, gönne dir Pausen"

Doris hackt ins Handy. Die nächste Koordinatorin ist krank. Bis 18 Uhr wäre Doris‘ Schicht gegangen. Sie muss länger bleiben, sonst droht Chaos. Not spricht auch im zweiten Kriegsmonat aus vielen Winkeln des Bahnhofs. Sie ist nur leiser geworden. "Gerade sind wir in einer Phase, in der wir atmen können", sagt Doris. "Wir verstehen, was hier passiert, wissen, was Leute brauchen."

Gigantische Werbebanner preisen über der Bahnhofshalle polnischen Versionen von "Game of Thrones" und "Handmaid‘s Tale" an, eine Burgerkette wirbt mit Fleisch-Superlativen. Rauschen, Husten, Gewimmel dröhnen durch die Halle. Doris prüft, wie die Dinge laufen, blickt durch einen Vorhang. Verlassene Decken liegen auf Matratzen und Bänken. Frauen und Kinder können darauf ruhen, ehe sie weiter reisen. Eine Seniorin hat ihre grauen Haare unterm geblümten Kopftuch zusammengebunden, wacht über Enkelin und Koffer.

Karina wartet mit Busya und Scripa auf einer glänzenden Bank an einer Säule. Die beiden Katzen schnüffeln, springen auf fremde Beine, strecken ihre Köpfe in die Höhe. Zehn Tage hat die 21-Jährige mit ihren Katzen in einer Kiewer U-Bahnstation ausgeharrt, ehe sie über Iwano Frankiwsk und Lviv geflohen ist. Sie wollen jetzt schnell nach Deutschland, in die Nähe von Kassel, zu einer Tante. Eine Helferin bringt Feuchttücher, damit Karina die Katzenbox putzen kann. Manche Helfer tragen auf ihren Rücken Schilder mit Katzen, Hunden, Papageien, sie kümmern sich um die vielen Tiere, die von Flüchtenden aus der Heimat mitgebracht werden.

Zuweilen scheint es, als wären am Bahnhof mittlerweile mehr Helfende als Geflüchtete. Aber das sind Momentaufnahmen. "Man weiß nie, was passiert. Ob wieder mehr Städte in der Ukraine angegriffen werden", sagt Doris. Szenen wie in der Anfangszeit, als der Bahnhof voller Gestrandeter war, die auf dem Boden schliefen, gibt es kaum noch. Reisen sind besser organisiert, viele wissen, wohin sie wollen. "In Warschau dauert es länger, sich zu registrieren, aber die Leute haben davon gehört, deswegen wollen sie hierhin. Von Städten wie Bydgoszcz haben sie nie gehört, dort könnte das Leben leichter werden."

So chaotisch wie zu Kriegsbeginn ist es nicht mehr, aber der Andrang bleibt groß.
So chaotisch wie zu Kriegsbeginn ist es nicht mehr, aber der Andrang bleibt groß. © Jürgen Lösel

Doris stapft aus dem Gebäude. "Free Catering" versprechen Schilder auf dem Essenszelt, das in besseren Zeiten für Bierfeste taugen könnte. Soldaten bewachen de Eingang. Kinder pfriemeln Sandwiches aus Folien. Geflüchtete stehen Schlange für Kosmetik-Kits und Wasserflaschen.

Richy löffelt Gulasch aus einer Plastikschale. "Ich will zurück nach Kiew", sagt der 30-Jährige. "Ich habe mein Leben da. Meine Freunde. Ich bin nur gegangen, um meine Mutter aus dem Land zu bringen." Richy ist aus Delhi nach Kiew gezogen, hat dort ein indisches Restaurant. "Als ich gestartet bin, Sprachprobleme hatte, hab ich so viel Unterstützung bekommen. Jetzt möchte ich an ihrer Seite stehen."

Doris lässt sich auf einen Vorsprung sinken. "Am Anfang waren wir voller Adrenalin. Jetzt haben wir mal eine Minute, um uns zu langweilen. Das ist gut. Aber es könnte nur kurz dauern. Anfangs wollte ich immer hier sein, inzwischen versuche ich, Auszeiten zu nehmen, in denen ich fühle, dass es einen heilen Teil in meinem Leben gibt. Aber es ist schwierig." Selbst im Theater. "Jemand hat neulich eine sehr bewegende Rede über das zerstörte Theater in Mariupol gehalten, bevor die Aufführung losging. Ich entkomme dem Thema nirgends."

Eine Psychologin hat Doris beraten. "Sie hat uns von der Sauerstoffmasken-Regel erzählt: Du musst erst für dich sorgen, damit du das für andere kannst. Trinke, esse, gönn dir Pausen." Drei bis vier Tage pro Woche hilft Doris am Bahnhof. "Man fragt sich: Warum habe ich nie bei anderen Krisen geholfen? Aber hier kann ich physisch helfen, nicht nur Geld senden."

Entkommen mit einem polnischen Feuerwehrmann

Dass ausgerechnet Polen sich jetzt so stark für Geflüchtete engagiert, erstaunt viele. Auch an der Grenze zu Belarus brauchen Tausende dringend Hilfe. Aus Syrien, Jemen, Afghanistan. Doch dort kann von Hilfsbereitschaft und Willkommenskultur keine Rede sein. Stattdessen entsteht dort ein Zaun, Polens Regierung entschied, diese Flüchtenden seien nicht integrierbar.

"Die Polen mögen 2015 protestiert haben, jetzt gibt es für sie die Chance zu sagen: Guckt, wir helfen", erklärt Doris. "Polen mögen es, sich wie Helden zu fühlen." Auch für Ukraine-Geflüchtete leistet nicht der Staat den wesentlichen Beitrag, sondern Privatleute und Hilfsorganisationen. Doch zumindest verhindert und hetzt die Regierung nicht. Wie lange bleibt das so? In Warschau bietet gerade kaum jemand mehr Schlafplätze an. Doris sagt: "Am Anfang war der Modus: ‚Wir wollen helfen, kommt zu uns.‘ Nach zwei Wochen wird es ungemütlich." Einige hätten erwartet, dass Geflüchtete schnell eigene Unterkünfte finden. Doch das gibt der Wohnungsmarkt in Warschau schlicht nicht her.

Luidmilla Nemchenko will vorerst bei Verwandten von Bekannten wohnen. Die Grundschullehrerin ist aus einem Dorf bei Tschernihiw geflohen, mit ihren Söhnen Arsenii und Ivan, 16 und 10 Jahre alt. Sie warten auf den weißen Bänken. "Wenn wir schlafen, hören unsere Ohren Bomben", sagt Luidmilla. "Tschernihiw war eine wunderschöne Stadt. Jetzt ist alles zerstört. Sie können Gestorbene nicht begraben, nur vors Haus legen." Wasser, Essen, Strom gibt es nicht mehr. "Familien teilen Brotstücke. Ein Mann hat meiner Mutter ein Viertelstück gebracht, weil sie seine Lehrerin war."

Luidmila Nemchenko ist mit ihren Söhnen Arsenii (M.) und Ivan aus einem Dorf bei Chernihiw geflohen: "Die Leute haben kein Wasser, Essen, Elektrizität mehr. Wir schlafen und unsere Ohren hören Bomben."
Luidmila Nemchenko ist mit ihren Söhnen Arsenii (M.) und Ivan aus einem Dorf bei Chernihiw geflohen: "Die Leute haben kein Wasser, Essen, Elektrizität mehr. Wir schlafen und unsere Ohren hören Bomben." © Symbolfoto: www.loesel-photographie.de

Entkommen sind die drei mit einem polnischen Feuerwehrmann, per Bus über Dorfstraßen. Größere Straßen sind von den Russen belagert. Von ihren Verwandten in Russland hört Luidmilla, sie sei "eine Faschistin, ein Nazi". Ehemann und andere Verwandte sind in der Ukraine geblieben. "Wir wollen nicht weit weg von unserem Land, wir wollen schnell wieder zurück."

Schicksale am Bahnhof handeln oft von Tod und Trümmern. "Schon die Frage ‚Wie geht es dir?‘ ist die größte Sache, die man machen kann", sagt Doris. "Es gibt viele Fragen, die man normalerweise stellt, sich jetzt aber verkneifen muss." Neulich weinte ein Mädchen bei Doris um seinen Vater. "Wie will man da trösten? Er ist nicht nur verreist, sie sieht ihn vielleicht nie wieder."

Weniger Sandwiches, mehr Bananen

18 Uhr, Schichtwechsel, nur nicht für Doris. Freiwillige stehen an. Zwei Dutzend, vor allem Frauen zwischen 20 und 30. Viele tragen Creolen, Caps, Bomber- und Holzfällerjacken. Es riecht nach süßlicher Chemie, einige trinken Energydrinks.

Zwischen den Gleisen gibt es keine Tageszeiten. Das Licht ist künstlich, in der Luft liegt der dumpfe, bahnhofeigene Geruch. Doris eilt Treppen hoch, ihr Blick sucht gelbe Uniformen. "Kommt", sagt sie den Feuerwehrkollegen. Ein Zug fährt ein, Menschen mit Koffern, volle Gleise, Wimmelbilder. Einen Moment. Dann beinahe Leere. Wie rasche Gezeiten, Ebbe und Flutströmen Menschen in den Bahnhof und hinaus. "Ich bin müde", sagt Doris. "Eigentlich sind sechs Stunden mein Maximum." Einen Zug aus Przemyśl an der Grenze will sie noch abwarten. Er könnte voll sein.

Doris rauscht in die Nacht vor dem Gebäude. Blau und gelb leuchtet vor ihr der Kulturpalast, ein Wolkenkratzer aus Stalinzeiten. "Einige haben gesagt: Oh Gott, du postest die Flagge auf deinem Profil und denkst, du hast geholfen", sagt Doris. "Aber wenn Leute herkommen, ist es für sie ein Zeichen von Verbundenheit."

Ihre Augen scannen die Anzeigentafel, blaues Licht fällt auf ihre Wangen. Einkaufswagen mit Bananen rollen vorbei. "Das ist toll", jubelt Doris. Anfangs brachten die Warschauer ständig Sandwiches. "Wir mussten bitten, weniger zu bringen, sie schmecken nur kurz wirklich gut."

Nun führt sie eine Traube Neonwesten über Zebrastreifen zu einem schmucklosen Flachbau, Station Warszawa Śródmieście. Der Zug von der Grenze. "Wir müssen dafür sorgen, dass die Leute sich nicht verstreuen, sondern gesammelt wie Schafe nach drüben gehen." Nicken. Warten. Der Zug rollt ein. "So viele sind es gar nicht", sagt Doris. Es wäre ohne sie gegangen. Eine Traube folgt ihr. Eine Mutter mit roten Augen, ein Junge mit Robben-Kuscheltier, ein Mädchen mit Glitzer-Rucksack, von dem ein Hasenohr abgerissen ist.

Doris trägt Irinas Tasche. "Wir hatten kein Licht, es kamen Bomben", erzählt die Ukrainerin. Doris nickt und lächelt. "Fünf Grad waren es. Jetzt ist meine Familie zerrissen." Die 61-Jährige will eine Nacht in Warschau bleiben, dann nach Kanada zu ihrer Schwester. Sie blickt Doris mit weiten blauen Augen an. "Vielen Dank, Sie sind so freundlich." Oft seien es solche Momente, die am meisten rühren, sagt Doris. "Manchmal denke ich: Oh Gott, diese Sekunde zeigt, wie zwei Länder verbunden sind."

Irina zeigt ein Video von sich, eingewickelt in Schals, in einem Vorratskeller. "200 Meter von meinem Zuhause ist eine Schule, auf die Bomben gefallen sind. Ich hoffe, hier ist es nicht mehr wie da." Doris greift Irinas Arm, deutet auf den leuchtenden Palast. "Sie sind hier sicher", verspricht sie. "Wunderschön", sagt Irina. Sie nimmt Doris in den Arm. "Habt Ihr Angst vor Krieg?", fragt sie. Das Taxi kommt. "Danke, danke!", verabschiedet sich Irina. Doris hat Feierabend. Über die Zukunft, den Krieg, sagt sie, will sie nicht grübeln. "Ich will lieber fragen: Was kann ich heute tun?"