SZ + Dippoldiswalde
Merken

Die abenteuerliche Flucht aus der Ukraine nach Dipps

Der Rollstuhl musste zurückbleiben. Aber wenigstens ist Familie Tyzo aus Lwiw in der Ukraine jetzt heil und sicher in Dipps. Ihre Geschichte.

Von Franz Herz
 5 Min.
Teilen
Folgen
NEU!
In Sicherheit: Ivan Tyzo ( l.) und seine Frau Liubomyra mit Tochter Ivanna (5. v.l.) Sohn Nazar (re.) mit Familie. Lisa Thiemt (4.v.l.) hat sie aus Polen geholt.
In Sicherheit: Ivan Tyzo ( l.) und seine Frau Liubomyra mit Tochter Ivanna (5. v.l.) Sohn Nazar (re.) mit Familie. Lisa Thiemt (4.v.l.) hat sie aus Polen geholt. © Egbert Kamprath

Der 82-jährige Ivan Tyzo hat seinen Humor nicht verloren. Er sitzt mit seiner Familie um einen Tisch im Schloss Reichstädt. Was wie ein gemütliches Treffen von drei Generationen aussieht, ist in Wirklichkeit eine Station auf der Flucht vor dem Krieg in der Ukraine.

Kein Kriegsschauplatz, aber schon im Kriegszustand

Ivanna Wegener, die Tochter von Ivan Tyzo, lebt seit 1998 in Dippoldiswalde, ist als Sachbearbeiterin angestellt und hat hier ihre eigene Familie. Ihre Eltern, der Bruder und weitere Verwandte leben in Lwiw (Lemberg) in der Westukraine.

Das ist zwar noch kein unmittelbarer Kriegsschauplatz, aber dennoch im Kriegszustand. Die Stadt mit über 700.000 Einwohnern wird für die Verteidigung vorbereitet. Lebensmittel sind nur schwer zu bekommen, Geldautomaten funktionieren nicht mehr, Verwaltungen haben geschlossen - oder wenn sie doch mal öffnen, stehen lange Schlangen davor, um zu Beispiel einen Pass zu bekommen. Apotheken haben zwar geöffnet, bekommen aber nicht genug Medikamente geliefert. Panzersperren und militärische Kontrollpunkte sind zu sehen, erzählen Ruslana und ihr Mann Nazar Tyzo, der Bruder von Ivanna Wegener.

Richtig Angst bekommen

Sie hat gleich nach Beginn der russischen Invasion Kontakt zu ihren Eltern aufgenommen: Sie sollten kommen. Ihre 79-jährige Mutter hatte aber erst vor kurzem einen Schlaganfall und war gerade aus dem Krankenhaus zurück. Sie wollte die Strapazen nicht und auch ihre Heimat nicht verlassen. „Als dann die Nachrichten kamen von dem 60 Kilometer langen Militärkonvoi, der auf Kiew zurollt, habe ich richtig Angst bekommen und noch mal meine Eltern überredet“, erzählt Ivanna Wegener.

Sie musste ihrer Mutter dann auch telefonisch helfen, ihre Tasche zu packen. Die 79-Jährige war überfordert mit den Entscheidungen, was sie mitnehmen kann und was sie zurücklassen muss.

Im zweiten Versuch über die Grenze

Also setzte sich die ganze Familie ins Auto - und blieb im Stau vor der Grenze stecken. „Es war Chaos, kein Durchkommen. Aber wir haben gesehen, dass Busse durchgeschleust werden“, berichtet Nazar Tyzo. Also sind sie erst zurückgefahren zu einer Cousine auf einem Dorf vor Lwiw. Dort ist es sicherer als in der Großstadt. Von dort aus haben sie sich um eine Buspassage bemüht, mit der sie dann nach Polen kamen.

Dort arbeitete eine Koordinierungsstelle, über die Familie Tyzo voll des Lobes ist. Die Helfer boten Unterkünfte an und informierten, wie die Flüchtlinge weiterkommen. Sie bekamen auch eine SIM-Karte, damit sie telefonieren konnten.

Von Dipps aus die Ankunft vorbereitet

Alle, auch die betagten Eltern, mussten dann acht Stunden im überfüllten Zug stehen. Nur Chrystyna, die auf den Rollstuhl angewiesen ist, hat nach einer Weile einen Sitzplatz bekommen. An die Lebensmittel, die sie dabeihatten, kamen sie in dem Gedränge gar nicht ran.

Währenddessen organisierte Tochter Ivanna von Dippoldiswalde aus alles, was für die Ankunft nötig war. Über die Flüchtlingsberatung der Arbeiterwohlfahrt in Dipps bekam sie eine provisorische Wohnung im Schloss Reichstädt vermittelt. Ihre Kollegin Lisa Thiemt bot an, mit dem Familienbus zu fahren, um die Flüchtlinge zu holen. Ihr Chef kümmerte sich über Ebay um einen Ersatzrollstuhl. Denn der von Schwägerin Chrystyna musste zurückbleiben. Er hatte keinen Platz mehr im Kleinbus. Der war mit neun Personen randvoll. Da hatte schon jeder nur eine Reisetasche mitnehmen können.

Große Solidarität gespürt

In Breslau haben sie sich dann getroffen. Auch dort hatten die Flüchtlinge eine große Solidarität gespürt. Die Straßenbahnen waren mit polnischen und ukrainischen Flaggen geschmückt.

Jetzt wohnen die Eltern seit Mittwochabend bei Ivanna Wegener, und der Bruder mit seiner Familie ist in Reichstädt untergebracht. Hier konnten sie ausschlafen, hier ist es warm. Es ist aber keine längerfristige Lösung. Denn die Wohnung bei Ilse von Schönberg im Schloss ist nicht behindertengerecht. Das ist die nächste Aufgabe, etwas Passendes zu suchen. Für eine Übergangszeit steht eine Wohnung bei der Wohnungsgenossenschaft Dipps in Aussicht.

Schlechte Nachrichten aus der Heimat

Ivanna muss derzeit für ihre ganze Familie dolmetschen. Ihr Vater hat zwar einmal Deutsch gelernt und kann auch noch ein Gedicht in der Sprache aufsagen. Aber das hilft im Kontakt mit Behörden nicht weiter.

Die Familie muss jetzt ihren rechtlichen Status klären. „Wir werden uns beim Referat Asyl im Landratsamt melden“, sagt Ivanna Wegener. Wegen ihrer Behinderung benötigen der Bruder und seine Frau medizinische Betreuung und Medikamente.

Auch wenn die Familie jetzt in Sicherheit ist, sind sie doch in engem Kontakt zu anderen Verwandten und Freunden in der Ukraine. Sie hören zum Beispiel, wie eine Freundin im Osten des Landes mit zwei Kindern vier Tage in einem Keller gesessen und sich nicht rausgetraut hat.

Familie hofft auf Rückkehr und dass das Haus noch steht

Ivan Tyzo sagt: „Ich würde am liebsten Putin persönlich fragen, ob er denn nicht genug Land hat in Russland, warum er die Ukraine auch noch haben will?“

Die Familie hat sich auch bisher schon gegenseitig besucht. Aber ein Aufenthalt im Urlaub ist etwas ganz anderes. Jetzt war es ein überstürzter Aufbruch voller Ungewissheit. Vor allem hofft die ganze Familie, dass der Aufenthalt in Deutschland nur kurz bleiben wird. „Hoffentlich können wir bald zurück. Unser Haus und das Auto sind dann hoffentlich auch noch in Ordnung“, sagt Nazar Tyzo.

Ivanna Wegener sagt: „Meine Eltern in ihrem Alter wollten eigentlich nur in Ruhe leben. Dass sie jetzt ihr Zuhause verlassen müssen...“ Ihre Stimme versagt.