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USA: Amtseid im Ausnahmezustand

Joe Biden steht als 46. US-Präsident vor der gewaltigen Aufgabe, eine zerrüttete Nation zu heilen und das Ansehen des Landes wiederherzustellen.

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Wenn Joe Biden am Mittwoch Schlag zwölf Uhr mittags seinen Eid als 46. Präsident der Vereinigten Staaten ablegt, tut er das angesichts einer düsteren Lage.
Wenn Joe Biden am Mittwoch Schlag zwölf Uhr mittags seinen Eid als 46. Präsident der Vereinigten Staaten ablegt, tut er das angesichts einer düsteren Lage. © Susan Walsh/AP/dpa

Von Thomas J. Spang, SZ-Korrespondent in Washington

Die Hauptstadt der freien Welt befindet sich im Belagerungszustand. Tausende schwer bewaffneter Nationalgardisten patrouillieren in den Straßen und wachen vor dem Kapitol und dem Weißen Haus – mehr Soldaten, als die USA im Irak und in Afghanistan zusammen stationiert haben. Der „Nationalpark Service“ hat den Zugang zur National Mall für die Öffentlichkeit gesperrt. Wie auch der Rest des Zentrums von unüberwindbaren Stahlzäunen umringt wird. Quer gestellte Lastwagen und Beton-Barrieren blockieren Zufahrtswege zum Kapitol.

Die Behörden haben den Verkehr in einer „Roten Zone“ gesperrt, in die „Grüne Zone“ kommen nur Anwohner durch Kontrollpunkte hinein. Die Post montierte aus Sorge vor Sprengstoffanschlägen die blauen Briefkästen ab. Zwei Brücken, die Washington mit dem benachbarten Virginia verbinden, sind gesperrt. Und die für die Sicherheit an den Flughäfen zuständigen TSA-Beamten haben ihre Kontrollen massiv verschärft. In der Mittagszeit des 20. Januar wird der Betrieb auf dem unweit des Kongresses gelegenen „Ronald Reagan“-Flughafen zum Erliegen kommen.

Wenn Joe Biden Schlag zwölf Uhr mittags seinen Eid als 46. Präsident der Vereinigten Staaten ablegt, tut er das angesichts einer düsteren Lage, die Donald Trump an derselben Stelle vor vier Jahren beschworen hatte, als er in seiner Rede zur Amtseinführung von einem „amerikanischen Gemetzel“ sprach. Während es diese Vorstellung damals nur in der Fantasie des „Amerika-Zuerst“-Nationalisten gab, ist sie in seiner Präsidentschaft Realität geworden.

Eine gebrochene Nation

Biden übernimmt die Führung einer gebrochenen Nation, die dank einer Mischung aus Untätigkeit, Unfähigkeit und Unverantwortlichkeit so viele Covid-19-Tote pro Kopf beklagt wie keine andere Industrienation. Jeden Tag sterben zurzeit so viele Amerikaner wie am 11. September 2001, als Terroristen die USA angriffen. Seitdem hat die Hauptstadt ein solches Sicherheitsaufkommen nicht mehr gesehen. Nur diesmal kommt die Bedrohung von innen, wie der gescheiterte Coup gewaltbereiter Trump-Anhänger am 6. Januar zeigte.

„Das ist seit Franklin D. Roosevelt die schwierigste Zeit, in der ein Präsident das Amt übernimmt“, beschreibt der designierte Stabschef im Weißen Haus, Ron Klain, die angespannte Stimmung in den „Uneinigen Staaten von Amerika“. Biden werde seine Rede zu Amtseinführung nutzen, „eine Botschaft der Einheit“ zu senden. „Das war einer der Gründe, warum Joe Biden angetreten ist, die Seele Amerikas zu erneuern.“

Wie schwer diese verletzt worden ist, lässt sich daran ablesen, dass die Bundespolizei FBI aus Sorge vor einer Gefahr für die rund 1.000 Teilnehmer der Amtseinführung vor dem Westflügel des Kapitols alle 25.000 Nationalgardisten einer zusätzlichen Sicherheitsüberprüfung unterzieht. FBI-Direktor Christopher Wray warnt vor „einem erheblichen Maß an bedenklichem Online-Gerede“ unter Rechtsextremen wie den „Proud Boys“, Anhängern der QAnon-Verschwörungstheorie und fanatisierten Trump-Fans.

Truppen der Nationalgarde sichern das Kapitol vor der Amtseinführung des Präsidenten.
Truppen der Nationalgarde sichern das Kapitol vor der Amtseinführung des Präsidenten. © Susan Walsh/AP/dpa

Der abgewählte Präsident gießt seinerseits Öl ins Feuer, indem er als erster Amtsinhaber seit 1869 nicht an der friedlichen Übergabe der Macht an seinen Nachfolger teilnimmt. Stattdessen beharrt er auf dem Märchen von einem massiven Wahlbetrug, für den seine Anwälte vor 61 Gerichten nicht einen einzigen Beweis vorlegen konnten. Das Repräsentantenhaus klagte Trump als ersten Präsidenten wegen „Anstiftung zum Aufstand“ ein zweites Mal an. Und der Senat könnte ihn schon sehr bald für schuldig befinden.

Biden versucht zu vermeiden, dass der Beginn seiner Präsidentschaft von hyperparteiischem Streit um die Verantwortung Trumps für den gescheiterten Coup seiner Anhänger überlagert wird. Er heißt den scheidenden Vizepräsidenten Mike Pence bei der Amtseinführung willkommen und demonstriert Einheit mit der Anwesenheit der ehemaligen Präsidenten George W. Bush, Bill Clinton und Barack Obama.

Schneller und klarer Bruch mit der Trump-Ära

Nach dem Ablegen des Amtseids, der Inspektion der Truppen, dem Gedenken auf dem Militärfriedhof von Arlington und der kurzen Fahrt über die 15. Straße zum Weißen Haus plant Biden, Dutzende Dekrete zu unterzeichnen.

Die USA werden am ersten Tag der Präsidentschaft Bidens unter anderem dem Weltklimaabkommen wieder beitreten, den Muslim-Bann aufheben und eine Maskenpflicht im Zuständigkeitsbereich der Bundesregierung einführen. Gleichzeitig will er eine Einwanderungsreform vorstellen, die für elf Millionen undokumentierte Einwanderer einen Weg zur Staatsbürgerschaft eröffnen soll.

Ron Klain sagt, Biden werde in den ersten zehn Tagen seiner Präsidentschaft mehr Exekutivbefehle erteilen als jeder andere Amtsinhaber vor ihm. Ziel sei ein schneller und klarer Bruch mit der von vielen Amerikanern als düster empfundenen Trump-Ära. Dabei könnte ihm auch die knappe Mehrheit in beiden Kammern des US-Kongresses helfen. Der Doppelsieg der Demokraten Jon Ossoff und Raphael Warnock bei den Stichwahlen zum Senat in Georgia machen Kamala Harris in den kommenden beiden Jahren zum Zünglein an der Waage der 50 zu 50 geteilten Kammer. Und eröffnet den Weg für dauerhafte Reformen auf dem Weg der Gesetzgebung.

Amerikanische Flaggen sind auf der National Mall vor dem Kapitol zu sehen. Am 20. Januar findet die Amtseinführung des designierten US-Präsidenten Biden und der designierten US-Vizepräsidentin Harris statt.
Amerikanische Flaggen sind auf der National Mall vor dem Kapitol zu sehen. Am 20. Januar findet die Amtseinführung des designierten US-Präsidenten Biden und der designierten US-Vizepräsidentin Harris statt. © Alex Brandon/AP/dpa

Wie Harris auch Geschichte schreibt, wenn sie gegen 11.30 Uhr vom Chefrichter des Supreme Court, John Roberts, als erste farbige Vizepräsidentin eingeschworen wird. Die Entscheidung Bidens für die Tochter von Eltern aus Jamaika und Indien ist ein Signal an die Afroamerikaner, die Bidens Kandidatur möglich machten und ihm zum Sieg verhalfen.

Nach dem Tod des Schwarzen George Floyd unter dem Knie eines weißen Polizisten und den Bürgerrechtsprotesten im Sommer ruht auf Biden die Hoffnung, auch diesen Teil der verletzten Seele Amerikas zu heilen. In seiner Siegesrede versprach Biden, „für Gerechtigkeit zwischen den Rassen zu kämpfen und den systematischen Rassismus auszumerzen.“

Kabinettsbildung als Signal

Mit der Nominierung des ethnisch gemischtesten Kabinetts in der Geschichte des Landes hat er dafür einen guten Anfang gemacht. Doch es braucht mehr als das. „Wir sind so polarisiert“, sagt Charles Franklin vom Meinungsforschungsinstitut Marquette, „dass die Polarisierung kurzfristig nicht verschwinden wird.“ Er verweist auf 70 Prozent der Republikaner, die Trumps „große Lüge“ von den „gestohlenen Wahlen“ glauben und Bidens Legitimität infrage stellen. Es komme für Biden darauf an, ob er mittelfristig Teile der Republikaner davon überzeugen kann, ihm eine Chance zu geben.

Dabei könnte ihm der Umgang mit der außer Kontrolle geratenen Pandemie und die Verteilung der Covid-Impfstoffe helfen. „Die Menschen wollen wissen, dass jemand die Verantwortung übernimmt, anpackt und das Chaos hinter uns bringt“, meint Bidens Redenschreiber Matt Teper, der dem Thema in der Ansprache zur Amtseinführung den angemessenen Stellenwert verschaffen will.

Wohl kaum einer scheint persönlich besser darauf vorbereitet zu sein, die Gräben zu überbrücken, als der mit 78 Jahren älteste Präsident in der Geschichte des Landes. Der Tod seiner ersten Frau und seiner einjährigen Tochter Naomi bei einem Autounfall zu Beginn seiner politischen Laufbahn 1972 verschafften dem gerade in den Senat gewählten aufstrebenden Jungstar Bodenständigkeit.

Jill Biden umarmt ihren Ehemann Joe Biden: Die nächste First Lady will einen neuen Stil ins Weiße Haus bringen.
Jill Biden umarmt ihren Ehemann Joe Biden: Die nächste First Lady will einen neuen Stil ins Weiße Haus bringen. © Andrew Harnik/AP/dpa

Dem Demokraten war es über ein halbes Jahrhundert in Washington wichtiger, menschliche Beziehungen aufzubauen, statt ideologische Gräben aufzuwerfen. Was seine langjährigen Freundschaften zu so unterschiedlichen Politikern wie dem demokratischen Sozialisten Bernie Sanders über den neokonservativen Republikaner John McCain bis hin zum ersten schwarzen Präsidenten der USA, Barack Obama, erklärt.

Der aus kleinen Verhältnissen der Industriestadt Scranton im US-Bundesstaat Pennsylvania stammende Politiker fiel nie dadurch auf, leidenschaftlich für ein bestimmtes Programm zu stehen. Sein Pragmatismus brachte ihn eher dazu, Kompromisse zu suchen. Deshalb spiegelt er in seiner Karriere als Senator und ab 2008 dann als Vizepräsident Obamas eher die Trends seiner Zeit wider, als diese hinter sich zu lassen. Der politische Biden verkörpert bis heute für jeden etwas anderes.

Es gibt Anhänger, die ihn als Helden der weißen Arbeiterklasse aus dem Rostgürtel verehren. Andere schelten ihn dagegen als Helfershelfer der in Delaware ansässigen Finanzindustrie. Die meisten Schwarzen betrachten ihn wegen seiner Loyalität zu Obama als einen der ihren und machten ihn bei den Vorwahlen in South Carolina zum „Comeback“-Joe.

Seine Persönlichkeit brachte ihm den Sieg

Auf der Linken gibt es einige, die Biden für die Masseninhaftierung afroamerikanischer Männer verantwortlich machen. Kritische Feministinnen halten seine Körperlichkeit für übergriffig, während Priester ihm die Kommunion verweigern, weil er Abtreibungen nicht bestrafen will. Er stimmte gegen den ersten und für den zweiten Irakkrieg.

Das unscharfe Profil half Biden nicht bei seinen ersten beiden gescheiterten Anläufen auf das Weiße Haus. Den Verlust seines Sohnes Beau am Ende seiner Vizepräsidentschaft 2015 verstanden viele als Klammer eines von persönlichen Tragödien geprägten Lebens. In seiner zweiten Autobiografie „Promise Me, Dad“, schreibt Biden über den Prozess der Trauer, „der sich nicht nach Fristen, Debatten und Vorwahlen richtet“. Dass er Hillary Clinton den Vortritt ließ, war ohne Alternative für ihn.

Biden richtet in seiner Autobiografie den Blick auf eine Seite seiner Persönlichkeit, die immer schon da war, angesichts der vielfältigen existenziellen Krisen der USA heute aber in ganz neuem Licht erscheint. Nicht die Politik des künftigen Präsidenten hat ihm am 3. November die Rekordzahl von 81,2 Millionen Stimmen eingebracht, sondern seine Persönlichkeit.

Der von persönlichen Schicksalsschlägen geprüfte Biden ist ein Experte für Trauerarbeit, der sich aufgrund eigener Erfahrung gut in das Leid anderer einfühlen kann. Die passende Voraussetzung für einen, der als 46. Präsident der Vereinigten Staaten dafür antritt, die Seele einer gebrochenen Nation wieder aufzurichten.