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Wie zwei Frauen die Vertreibung erlebt haben

Unter denen, die für das Forschungsprojekt ihre Geschichte erzählt haben, sind zwei Reichenauerinnen: Elfriede Tittel und Hannelore Wahner.

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© Dannenberg

Heimat Gickelsberg

Hannelore Wahner war gerade vier Jahre alt geworden, als sie mit ihrer Mutter und den Großeltern aus Reichenau ausgewiesen wurden. Der Vater Kurt Schubert – er war Schauspieler – war bereits 1941 gefallen. Nur Handgepäck habe man damals mitnehmen dürfen, erinnert sich die Frau, die damals noch Schubert geheißen hat. Sie selbst machte sich mit ihrer Puppe auf in Richtung Zittau, berichtete die heute 76-Jährige dem Historiker Lars-Arne Dannenberg. Nachdem sie zunächst bei Verwandten untergekommen waren, beschloss die Familie vier Wochen später das Wagnis, wieder zurück nach Reichenau zu gehen. Dort hatten die Polen inzwischen alles verwüstet und Besitz von allem ergriffen. Der Großvater wurde furchtbar verprügelt und misshandelt. Die Mutter musste als Fachkraft in einer Weberei arbeiten, ehe sie 1947 endgültig ausgewiesen wurden, notierte der Historiker die weitere Geschichte. Ihre Zelte hat die Familie dann übrigens in Ohorn aufgeschlagen. Warum da? „Ich Ohorn gibt es einen Gickelsberg – wie in Reichenau auch – da ziehen wir hin, da ist Heimat“, hat die alte Dame Dannenberg begründet.

Krieg um die Schnapsfabrik

Elfriede Tittel wohnte nicht weit entfernt von der Schnapsfabrik Rolle in Reichenau. Die 1922 unter dem Mädchennamen Gäbler geborene Frau erinnerte sich noch gut an jene Tage: Nach dem 8. Mai kamen die Russen in den Ort. Ihre Familie war unentschlossen, ob sie fliehen oder bleiben sollte: Sie warteten das Kriegsende in einer Brauerei in Reichenau unweit von Zittau ab und entschieden sich dann, wieder nach Hause zu gehen. In der Schnapsfabrik hatten die Russen inzwischen ordentlich gebechert, viele waren betrunken. Elfriede Tittel sollte aus der Fabrik zwei Marmeladeneimer holen. Den Anblick, der sich ihr da bot, hat sich der Reichenauerin ins Gedächtnis eingebrannt: Alles war verwüstet, Zucker rieselte die Treppe herunter, viele Flaschen waren zerschlagen. „Es war ein einziger Süßmorast“, beschreibt sie. Als später die Polen kamen, lieferten sie sich mit den Russen ein Art Krieg um die Schnapsfabrik. In Erinnerung hatte Frau Tittel, dass die Polen zwei kleine Geschütze hatten und die Fabrik Rolle bewachten. Manchmal schossen sie auf die Russen und die antworteten entsprechend.

Als die Familie dann per Ausweisungsbefehl ihre Heimat verlassen musste, gingen die polnischen Soldaten mit der Waffe im Anschlag in die Häuser und trieben alle raus, die sich geweigert hatten. Dann setzte sich der Tross in Bewegung, die Polen hoch zu ross und mit einer Lederpeitsche in der Hand. Mit ihrer Mutter und der Tante kam Elfriede Tittel bei ihren Schwiegereltern unter. Nach Reichenau kehrte sie bis September 1945 mehrmals zurück, um dem Bauern beim Einfahren der Ernte zu helfen – unter polnischer Aufsicht natürlich.