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In Kesselsdorf wird eine besondere WG gegründet

Pia Lehmann und andere Eltern haben dafür gekämpft, dass Menschen mit einem Handicap selbstbestimmt auf dem Land leben können. Jetzt sind sie am Ziel.

Von Maik Brückner
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Pia Lehmann hat es zusammen mit anderen Eltern geschafft: In diesem Kesselsdorfer Haus wird eine Wohngemeinschaft für Menschen mit Behinderung eröffnet.
Pia Lehmann hat es zusammen mit anderen Eltern geschafft: In diesem Kesselsdorfer Haus wird eine Wohngemeinschaft für Menschen mit Behinderung eröffnet. © Daniel Schäfer

Frau Lehmann, seit fast sieben Jahren arbeiten Sie daran, eine Wohngemeinschaft für Menschen mit Behinderung zu etablieren. Wie weit sind Sie gekommen?

Wir sind fast am Ziel. Anfang April wollen wir die Wohngemeinschaft im neuen Advita-Haus am Kesselsdorfer Marktplatz eröffnen. Eigentlich wollten wir die Räume schon eher beziehen. Coronabedingt verzögerte sich der Bau.

Was ist das Besondere an der Wohnung?

Menschen mit Behinderung sollen nicht mehr in Heimen leben müssen, sondern wie alle anderen Menschen in Wohnungen gleichberechtigt mitten in der Gesellschaft leben können. Das ist gesetzlich verbrieftes Recht. Deshalb werden auch keine Heime mehr gebaut. Doch in Wilsdruff und Umgebung gibt es keine freien rollstuhlgerechten Wohnungen. Mit dieser WG wird erstmals im ländlichen Bereich ein selbstbestimmtes Leben mit persönlicher Assistenz in einer eigenen Wohnung auch für Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf und für Menschen, die auf einen Rollstuhl angewiesen sind, möglich. Angebote für diese Personengruppen finden sich bisher - wenn überhaupt - nur im städtischen Bereich, wo der wachsende Bedarf jedoch bei weitem nicht gedeckt werden kann. Insofern wird mit dieser WG auch eine Bedarfslücke teilweise geschlossen.

Die WG wird im Advita-Haus entstehen, wo die behinderten Menschen Mieter sein werden. Hätten Sie auch selbst ein Haus bauen können?

Prinzipiell ja, aber das wäre nicht sinnvoll gewesen. Dann hätten wir sämtliche finanziellen Risiken privat eingehen und uns für eine lange Zeit binden müssen. Es kann nicht Sinn und Zweck sein, dass Eltern immer alle Aufgaben wahrnehmen müssen, für die eigentlich staatliche Stellen zuständig sind. Der Landkreis Sächsische Schweiz Osterzgebirge hat sich in seinem Aktionsplan zur Umsetzung der UN- Behindertenrechtskonvention schon im Jahr 2014 zum Ziel gesetzt, dass ausreichend bezahlbare barrierefreie und barrierearme Wohnung vorhanden sind. Davon sind wir noch weit entfernt.

Und deshalb sind Sie tätig geworden?

Wir haben als betroffene Eltern das Projekt und damit die Schaffung einer rollstuhlgerechten Wohnung für vier behinderte Menschen initiiert und sind froh, dass Advita sich dieser Aufgabe angenommen hat. Mit der jetzigen Lösung gibt es außerdem Vorteile für beide Seiten. Die Bewohner des Advita-Hauses und unsere Bewohner werden in Zukunft sicher auch gemeinsam etwas machen können.

Steht schon fest, wer dort einziehen wird?

Ja. Drei Frauen und ein Mann – das ist unser Sohn Edgar. Die vier kennen sich aus der Werkstatt, in der sie arbeiten. Bisher wohnen sie bei ihren Eltern in Dresden, Freital und Kesselsdorf.

Wie wird das Leben in der Wohngemeinschaft aussehen?

Jeder Bewohner bekommt ein circa 26 Quadratmeter großes Zimmer mit eigenem Sanitärbereich. Es gibt einen großen Gemeinschaftsraum mit Küche. Unterstützt werden sollen die Bewohner von persönlichen Assistenten, die bei der Stiftung EDDI angestellt sind.

Das Advita-Haus am Kesselsdorfer Markt. Die Arbeiten zur Fertigstellung laufen auch Hochtouren.
Das Advita-Haus am Kesselsdorfer Markt. Die Arbeiten zur Fertigstellung laufen auch Hochtouren. © SZ/mb

Wie viele Assistenten werden dann tätig?

Das steht noch nicht fest. Die vier künftigen Bewohner haben beim Kommunalen Sozialverband Sachsen (KVS) ein persönliches Budget beantragt, mit dem diese Assistenten finanziert werden sollen. Für jeden Einzelnen wird der Unterstützungsbedarf ermittelt. Alle Bewohner benötigen umfassende Hilfe, drei von ihnen sind auch auf einen Rollstuhl angewiesen. Und da die Bewohner rund um die Uhr betreut werden müssen, muss es auch eine Nachtwache geben. Ich rechne damit, dass wir insgesamt etwa zwölf, dreizehn Assistenten brauchen, die sich im Schichtbetrieb abwechseln. Diese Zahl kann variieren, je nachdem, wie die Arbeitsverträge aussehen.

Kann Ihre Stiftung diese Aufgaben übernehmen?

Zurzeit beschäftigen wir circa 15 Assistenten. Mit der Wohngemeinschaft werden also weitere dazukommen. Ich hoffe auf eine zügige Entscheidung des KSV, damit wir die Mitarbeiter einstellen können. Es gibt schon Bewerber, und ich bin mir sicher, dass wir weitere Mitarbeiter gewinnen können. Es ist doch eine schöne Arbeit, solch eine WG aufzubauen, Menschen zu begleiten und ihnen zu helfen, ihren Lebensalltag selbstbestimmt zu gestalten.

Ihre Stiftung hat unweit der Apotheke in Kesselsdorf weitere Räume angemietet. Was ist dort geplant?

Dort werden wir eine Begegnungsstätte eröffnen, die wir noch einrichten müssen. Uns steht ein etwa 55 Quadratmeter großer Gemeinschaftsraum, eine Küche und zwei kleinere Räume zur Verfügung. In der Begegnungsstätte sollen sich Menschen mit und ohne Behinderung treffen.

Hilfe für behinderte Menschen

  • Pia Lehmann (62) hat Sonderpädagogik studiert, war Leiterin einer Förderschule und ist Mitgründerin und stellvertretende Vorstandsvorsitzende der 2001 gegründeten Stiftung EDDI.
  • Die Stiftung bietet Hilfen und Beratung in verschiedenen Lebenslagen für behinderte Menschen, insbesondere für Menschen mit Autismus, sowie ihre Angehörigen an.