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Mit kühlem Kopf durch den heißen Herbst

Inflation, Krieg, Gasumlage: Es könnte bald massive Proteste im Land geben. Das ist gutes demokratisches Recht. Aber bitte mit Abstandsgebot zu den Scharlatanen.

Von Heinrich Löbbers
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Immer mehr Stimmen warnen vor einem „heißen Herbst“, als komme es in erster Linie darauf an, Demonstrationen zu verhindern.
Immer mehr Stimmen warnen vor einem „heißen Herbst“, als komme es in erster Linie darauf an, Demonstrationen zu verhindern. © www.plainpicture.com

Wer bietet mehr? Einen „heißen Herbst“, einen „Wut-Winter“, einen „Winter der Verzweiflung“ oder gar „Volksaufstände“, an die Außenministerin Annalena Baerbock schon laut dachte. Fehlt nur, dass jemand über brennende Barrikaden und Straßenkämpfe fabuliert. Die Prognosen für die nächsten Monate überbieten sich an Dramatik. Krieg, Inflation, explodierende Energiepreise: Keine Frage, uns steht eine Zeit der Zumutungen bevor, um gleich mal einen neuen Slogan zu prägen. Gut möglich, dass daraus eine Zerreißprobe wird.

Jetzt, wo vielen Verbrauchern Post vom Gasversorger ins Haus geflattert und die Gasumlage greifbar geworden ist, wird immer klarer, dass viele die Belastungen kaum werden stemmen können. Es scheint nur eine Frage der Zeit zu sein, bis sich Verunsicherung, Angst und Wut entladen.

Immer mehr Stimmen warnen nun vor einem „heißen Herbst“, als komme es in erster Linie darauf an, Demonstrationen zu verhindern. So entsteht der verheerende Eindruck, man habe Angst vorm eigenen Volk. Dabei ist es gutes demokratisches Recht, seine Meinung auf die Straße zu tragen. Angesichts der drohenden Zumutungen wäre es eher verwunderlich, wenn es keine Proteste gäbe.

Demonstrationen sind Beleg dafür, dass unsere Demokratie funktioniert. Sie sind keine Selbstverständlichkeit. Derjenige, der für diese Krise verantwortlich ist, der russische Kriegsherr Putin, lässt jedenfalls keine freie Meinungsäußerung zu. Er hat aber Interesse daran, dass Deutschland destabilisiert wird. Es muss sich also gerade jetzt beweisen, wie krisenfest unser demokratisches System wirklich ist.

Abstandsregel gegenüber Verfassungsfeinden

Leider ist zu befürchten, dass Demokratie-Verachter versuchen werden, den Protest zu kapern. Rechtsextreme haben längst Strategien dazu. Es gibt Verfassungsschützer, die befürchten, dass die Querdenker-Proteste der letzten Jahre „ein Kindergeburtstag“ waren gegen das, was uns bevorsteht. Fackelaufzüge vor Politikerwohnungen, Galgen-Humor a la Pegida, inszenierte Volksgerichte, wie es zuletzt in Heidenau versucht wurde. Es könnte einiges auf uns zukommen. Der Kanzler hat das gerade in Neuruppin erlebt, wo sie ihn massiv beschimpften und „Hau ab“ riefen.

Hier muss die Demokratie klare Grenzen ziehen und Grenzüberschreitungen konsequent verfolgen. Doch kann das kein Grund sein, den Protest Unzufriedener schon vorab zu diskreditieren. Aus all den Reibereien der letzten Jahre müssen wir doch gelernt haben, dass nicht jeder, der sich um die Flüchtlingspolitik sorgt, ein Rassist ist.

Nicht jede, die gegen Impfpflicht demonstriert, eine Corona-Leugnerin oder gar Weltverschwörerin. Nicht jeder, der Waffenlieferungen und Sanktionen ablehnt, ein Putin-Freund. Es kommt darauf an, dass sich die demokratische Mehrheit der Demonstranten von der Minderheit derer distanziert, die ganz andere Ziele verfolgt. Es braucht eine Art Abstandsregel gegenüber Verfassungsfeinden. Scharlatane müssen wir ächten, aber Verunsicherte ernst nehmen, damit sie denen nicht folgen.

Es sei dahingestellt, ob ausgerechnet die um ihre politische Existenz bangende Linke die richtige Adresse ist, „Montagsdemos“ zu organisieren, um der Wut ein Forum zu geben.

Gewerkschaften, Sozialverbände, Bürgervereine sind gefragt. Politik und vor allem Medien müssen Möglichkeiten schaffen, dass jene zu Wort kommen, denen die Lage am meisten zusetzt. Leute, die trotz redlicher Arbeit mit dem Einkommen kaum auskommen. Denen helfen keine düsteren Prognosen über frostige Wohnungen. Und wenn Wohlsituierte ihnen Verzicht predigen, ist das eher zynisch. Selbst, wenn finanzielle Folgen für sie abgemildert werden, wird das ihren Frust kaum beseitigen.

Sollte die große Wut im Winter tatsächlich eskalieren, wen würde es wundern, wenn das vor allem in Sachsen geschähe? Vielleicht sind solche Befürchtungen auch der Grund dafür, dass sich Ministerpräsident Kretschmer oft mit besonderem Furor in die Debatten um Krieg und Energieversorgung einmischt.

Es braucht ein neues „Wir schaffen das!“

Halbwegs heil werden wir durch den heißen Herbst aber nur mit kühlem Kopf kommen. Eine Krise braucht entschlossene Führung und Zuversicht. Zum Beispiel endlich ein Konzept für den sozialen Frieden: Wie genau werden Lasten sozial abgefedert? Wem wird wie geholfen? Und wem nicht? Wie warm muss ein Wohnung sein? Wird der Gaspreis gedeckelt?

Es braucht eine Regierung, die das langfristige Ziel ihrer Politik klar kommuniziert – es kann ja nicht nur darum gehen, warm über den Winter zu kommen. Eine Koalition, die die Krise meistern will, muss sich zudem über den Weg einig sein. Stattdessen erleben wir Gezänk und ein Wirrwarr an Be- und Entlastungen, an Umlagen, Erstattungen und Maßnahmepaketen. Wer blickt da noch durch?

Im Grunde braucht es ein neues „Wir schaffen das!“ Viele Menschen sind durchaus zu Opfern bereit. Ohnehin werden nicht alle im Land unter dem Verzicht wirklich leiden. Der Kraftakt kann aber nur gemeinsam gelingen. Und eine Krise zusammen durchzustehen, kann ein Land auch zusammenschweißen.

Angst vor Aufständen hilft jedenfalls nicht. Eine Hoffnung bleibt zuletzt: Angekündigte Katastrophen bleiben doch sowieso meist aus.