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So profitiert ein ganzer Landkreis von Erneuerbaren Energien

In den 1990er-Jahren wird ein Landrat als Spinner bezeichnet. Inzwischen produziert sein Kreis das Dreifache an Strom, den er selbst benötigt. Ein Vorbild für Mittelsachsen?

Von Cathrin Reichelt
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Heinrich Strößenreuther (re.) moderierte den Abend mit Bertram Fleck, ehemaliger Landrat des Rhein-Hunsrück-Kreises.
Heinrich Strößenreuther (re.) moderierte den Abend mit Bertram Fleck, ehemaliger Landrat des Rhein-Hunsrück-Kreises. © Cathrin Reichelt

Mittelsachsen. An den Erneuerbaren Energien führt kein Weg vorbei. Denn die Strompreise werden nicht sinken.

Mittelsachsen werde einen großen Teil der Energiewende in Sachsen schultern müssen, weil es die Siedlungsstruktur dafür ausweist, hat Landrat Dirk Neubauer (parteilos) schon mehrfach betont.

Er sieht in den Windkraftanlagen vor der Haustür keinen Nachteil, sondern einen Vorteil. Im Landkreis soll ein erstes Gewerbegebiet ausgewiesen werden, das allein mit Ökostrom versorgt wird.

Und er ist nicht nur Befürworter von Bürgerenergiegenossenschaften, von denen jeder Einzelne profitieren kann, sondern auch Mitglied einer solchen.

Unkonventionelle Ideen gefragt

Dass Erneuerbare Energien tatsächlich zu einer Erfolgsgeschichte für einen ganzen Landkreis werden können, erfuhren die Teilnehmer des dritten Energ(i)tisches des Landkreises Mittelsachsen im Leisniger Kulturbahnhof.

Allerdings, so meinte Bertram Fleck nach den einführenden Worten von Dirk Neubauer, müsse er hier wohl niemanden mehr überzeugen. Mittelsachsen sei bereits auf dem richtigen Weg.

Fleck, heute 74 Jahre alt und im (Un-)Ruhestand, war 1989 der jüngste Landrat in Deutschland. Damals als Linken-Grüner-Spinner in die Ecke gestellt, brachte er den Rhein-Hunsrück-Kreis in den kommenden Jahrzehnten energetisch auf Vordermann.

So etwas gehe nur Schritt für Schritt und mit den richtigen Partnern. Das seien vor allem die Kommunen des Kreises. „Es bringt nichts, auf den Bund und das Land zu schimpfen. Jeder kann etwas tun“, meint Fleck. Ihm habe noch ein agiler Klimaschutzmanager zur Seite gestanden.

Fleck mahnt, an die kleinen Dinge zu denken, nicht nur an die Windradriesen. Dabei seien auch unkonventionelle Ideen und Eigeninitiative gefragt, bei denen die Bevölkerung mitgenommen wird – wie in einem kleinen Ort des Rhein-Hunsrück-Kreises.

LED-Tauschtage und Energieberatung

In dem gab es LED-Tauschtage. Wer Glühlampen dorthin brachte, erhielt ebenso viele LED-Lampen. Oder die Kampagne: Wer hat den ältesten Kühlschrank im Kreis?

Der Gewinner erhielt einen Neuen und alle anderen begannen über den Energieverbrauch ihres Kühlschrankes nachzudenken und ihn gegen einen Modernen, Energiesparenden zu tauschen.

In Zusammenarbeit mit der Sparkasse habe der Kreis sozial schwachen Familien eine Energieberatung angeboten. Wer sich beteiligt hat – und das seien nicht wenige gewesen – habe im Wert von 50 Euro Leuchtmittel und andere Energiesparer erhalten.

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Seit sechs Jahren gebe es zudem das E-Car-Sharing. Der Landkreis stelle Bürgern an verschiedenen Standorten Elektroautos zur Verfügung. Das Interesse sei so groß, dass manche Familie das Zweitauto abgeschafft habe und einige Gemeinden eigene E-Cars angeschafft hätten.

Um andere zu motivieren, müsse der Kreis auch Vorbild sein. Das sei im Rhein-Hunsrück unter anderem mit dem Energie-Controlling gelungen.

„Wir haben unsere Gebäude mit Sensoren versehen und stündlich den Verbrauch von Strom, Heizung und Wasser gemessen“, so Fleck. Das Ergebnis: In zwölf Gebäuden wurden 132 Maßnahmen umgesetzt, die zur Reduzierung des Verbrauchs beigetragen haben.

Fotovoltaik auf 6.500 Dächern

Aber es geht natürlich noch viel größer. „Drei von vier Dächern sind für Solaranlagen geeignet“, sagt der Ex-Landrat. Deshalb habe der Kreis ein 1.000 Dächer-Fotovoltaik-Programm aufgelegt und im Jahr 2010 das erste Solarkataster in Rheinland-Pfalz geschaffen.

Das Ganze sei von Banken unterstützt und alle Erwartungen übertroffen worden. Im ersten Anlauf wurden 2.300 Dächer mit PV-Anlagen ausgestattet. Inzwischen seien es 6.500. Die Einspeisevergütung betrage pro Jahr 20,8 Millionen Euro. „Man sollte die Landbevölkerung nicht unterschätzen“, sagt Bertram Fleck.

Ähnliche Erfolge erziele der Kreis mit Windkraftanlagen. Knapp 300 seien es inzwischen, die überwiegend auf gemeindeeigenen Flächen stehen. Erzeugt werde Strom für 300.000 Haushalte. Der Kreis hat aber nur rund 106.000 Einwohner.

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Pro Jahr haben die Gemeinden allein 7,8 Millionen Euro Pachteinnahmen. 60 Gemeinden betrifft das direkt. 60 Nachbargemeinden, die die aus verschiedenen Gründen keine Windräder errichten können, werden am Gewinn beteiligt.

Inzwischen gebe es auch 17 Nestwärmeverbünde in kleinen Gemeinden. Unter anderem würden drei Schulzentren mit 40 Gebäuden mit Baum- und Strauchschnitt betrieben, der in Dörfern an 120 Plätzen gesammelt wird.

Und Landwirte in der Region hätten 19 Biomasseanlagen errichtet.

Einnahmen statt hohe Ausgaben

Bis Mitte der 1990er-Jahre gab es im Rhein-Hunsrück-Kreis noch keine nennenswerte Produktion von Erneuerbaren Energien. Es wurden jährlich rund 290 Millionen Euro für den Einkauf von Energie ausgegeben.

„Nach heutigen Preisen wären es mehr als 500 Millionen Euro“, so Fleck. Doch inzwischen sei die Region der erste bilanzierte Null-Emmissions-Kreis im Binnenland und produziere mit etwa 1,57 Milliarden Kilowattstunden 337 Prozent Strom aus Erneuerbaren Energien, also das Dreifache des eigenen Stromverbrauchs.

Die jährliche regionale Wertschöpfung betrage 44 Millionen Euro. Die Verschuldung des Kreises sei niedrig und der Kreis habe Rücklagen in Höhe von 106 Millionen Euro.

Auch in Mittelsachsen tun sich Kommunen zusammen. „Wir kümmern uns als Landkreis nicht mehr um alles, aber geben gern Hilfestellung“, sagt Dirk Neubauer und fügt hinzu: „Wir müssen aufpassen, dass wir nicht jeden Fortschritt verweigern, weil wir veränderungsmüde sind.“ Der Versuch, die Erneuerbaren in jeglicher Form zu nutzen, könne kein Fehler sein.