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Windenergie in der Krise – erste Projekte werden gestoppt

Die Windkraft auf See soll zur wichtigsten Energiequelle werden. Noch klafft zwischen Zielen und Produktionskapazitäten eine enorme Lücke. Und nicht nur das.

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Ein Kran hebt auf der Baustelle eines neuen Windparks ein Rotorblatt für die Montage an das Generatorhaus.
Ein Kran hebt auf der Baustelle eines neuen Windparks ein Rotorblatt für die Montage an das Generatorhaus. © Jens Büttner/dpa

Von Kathrin Witsch

Erst stoppt der Energiekonzern Vattenfall ein Mega-Windprojekt in Großbritannien. Jetzt muss Orsted, der größte Offshore-Betreiber der Welt, 730 Millionen Dollar abschreiben.

Der Grund: Die Projekte sind zu teuer geworden. Lieferverzögerungen, Inflation und steigende Zinsen machen die Windräder auf hoher See für viele Unternehmen zum Minusgeschäft.

„Da braut sich ein Sturm zusammen“

„Wir sind zum Schluss gekommen, dass die Fähigkeit unserer Lieferanten, ihre Verpflichtungen und Vertragszeitpläne einzuhalten, immer mehr gefährdet ist“, sagt Orsted-Chef Mads Nipper. „Das könnte zu potenziellen Umsatzverzögerungen, zusätzlichen Kosten und anderen Auswirkungen auf den Geschäftsbetrieb führen.“ Die Aktie des Energiekonzerns brach nach der Ankündigung um mehr als 25 Prozent ein.

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In der Offshore-Branche „braut sich gerade der perfekte Sturm zusammen“, warnte RWE-Chef Markus Krebber jüngst. Nicht nur steigende Finanzierungskosten machen der Industrie zu schaffen. Zwischen Ausbauzielen und Produktionskapazitäten klafft eine enorme Lücke.

Aktuell werden in Europa, dem zweitgrößten Windenergiemarkt der Welt nach China, pro Jahr Offshore-Windturbinen mit einer Kapazität von sieben Gigawatt produziert. Um die Nachfrage zu decken, müssten die Kapazitäten auf 20 Gigawatt ausgebaut werden. Dafür bräuchte es massive Investitionen der Turbinenhersteller. Die stecken aber tief in der Krise und schreiben rote Zahlen. Das Milliardendebakel von Siemens Gamesa ist da nur ein Beispiel von vielen.

Ausbauziele für Offshore-Windkraft sind gefährdet

Für die Energiewende ist das fatal. Schließlich soll Offshore-Windkraft in den nächsten Jahren zur wichtigsten Energiequelle der Welt werden. Die Ausbauziele allein für Europa sind ambitioniert: Bis 2030 sollen in der Europäischen Union Windräder mit einer Gesamtleistung von 60 Gigawatt stehen. Bis 2050 sogar 340 Gigawatt. Aktuell sind es gerade einmal 32 Gigawatt.

„Wir haben einen stark überhitzten Markt. Die Ausbauziele sind auch international in kurzer Zeit so extrem gestiegen, dass die vorhandenen Ressourcen das nicht leisten können“, sagt Dirk Briese vom Marktforschungsunternehmen Trendresearch dem Handelsblatt.

Dreimal so viele Arbeiter und Umspannwerke benötigt

Es braucht doppelt so viele Stromkabel, die Zahl der Arbeiter muss sich mehr als verdreifachen, genauso wie die Zahl der Umspannwerke. Das sei schlicht nicht möglich, sagen mehrere hochrangige Branchenvertreter. „Die Ausbauziele für Windenergie 2030 sind nicht zu erreichen. Weder in Deutschland noch international“, stellt Briese klar.

Der dänische Offshore-Riese Orsted ist dafür der beste Beweis. Die betroffenen Projekte Ocean Wind 1, Sunrise Wind und Revolution Wind vor der Küste des US-Bundesstaates New York verschieben sich um ein Jahr, weil der Produzent der Fundamente seinen Liefertermin nicht einhalten kann. Gleichzeitig kommen Steuererleichterungen über das Förderprogramm Inflation Reduction Act (IRA) der US-Regierung nicht in der erhofften Größenordnung.

Das hohe Zinsniveau in den USA belaste außerdem nicht nur Offshore-Projekte, sondern auch einige Windparks an Land. Bleiben die Zinsen hoch, könnten die zusätzlichen Kosten im schlimmsten Fall auf insgesamt 2,3 Milliarden US-Dollar steigen. Noch hält Orsted an den Projekten fest – prüft aber auch die Option eines kompletten Stopps.

Inflation, steigende Zinsen und Versorgungsengpässe

„Es ist eigentlich das Worst-Case-Szenario für die Energiewende, wenn bereits vergebene Großprojekte nicht wie geplant realisiert werden. In einer Zeit, in der die gesamte Offshore-Industrie ihre Ausbauziele erreichen muss, stellt dies die Erreichung der Klimaschutzziele schnell infrage“, warnte RWE-Chef Krebber Mitte August bei Verkündung der Quartalszahlen.

Dieses Dilemma werde durch eine Kombination von Faktoren wie Kostensteigerungen aufgrund der anhaltenden Inflation, steigenden Zinsen und strukturellen Versorgungsengpässen und angespannten Lieferketten verstärkt.

Die Unternehmen versuchen vorzusorgen und sichern sich langfristig Kapazitäten, zum Beispiel für Wartungsschiffe. Um die Riesenturbinen aufs Meer hinauszufahren, braucht es spezielle Schiffe, von denen schon eines mehrere Hundert Millionen Euro kosten kann. Auch das treibt die Kosten nach oben.

Vattenfall stoppt Bau seines Windparks

Der schwedische Energiekonzern Vattenfall hat aufgrund der hohen Kosten den Bau seines Windparks Norfolk Boreas vor der Küste Großbritanniens gleich komplett gestoppt. „Höhere Inflation und Kapitalkosten wirken sich auf den gesamten Energiesektor aus“, hatte Vattenfall-Chefin Anna Borg die Entscheidung begründet. Im Falle des 1,4 Gigawatt großen Projekts im britischen Meer sind die Kosten um bis zu 40 Prozent gestiegen.

Ende des vergangenen Jahres hatte Vattenfall die Auktion mit einem Gebot von umgerechnet 43,55 Euro die Megawattstunde gewonnen. Das heißt, bei der geplanten Inbetriebnahme in den Jahren 2026 oder 2027 hatte der Energiekonzern damit gerechnet, eine Megawattstunde Windstrom für 43,55 Euro zu produzieren.

Branchenexperten bezeichnen das Gebot schon als „sehr ambitioniert“. Vor allem verglichen mit den Gestehungskosten, die das Analysehaus Bloomberg New Energy Finance (BNEF) für das erste Halbjahr 2023 anlegt: Das sind aktuell knapp 68 Euro die Megawattstunde.

Nicht alle Wettbewerber geraten in die Kostenfalle. Manche scheinen mit konservativeren Geboten in die Ausschreibungen auf hoher See gegangen zu sein. Oder einfach ausgedrückt: Sie haben nicht so knapp kalkuliert.

Vestas und andere Anlagenbauer erhöhen die Preise

Bei Vattenfall sind laut Chefin Borg noch weitere Projekte gefährdet. Alle geplanten Windparks in der Norfolk-Zone werde man nun erst einmal prüfen. Es geht um Parks mit einer Leistung von 4,2 Gigawatt.

Insgesamt sind die Preise für den Bau eines Offshore-Windparks allein in den vergangenen zwei Jahren um 30 bis 40 Prozent gestiegen. Auch weil die Turbinenhersteller angefangen haben, ihre Preise zu erhöhen. Der durchschnittliche Verkaufspreis bei dem dänischen Windkonzern Vestas beispielsweise ist innerhalb von zwei Jahren um fast 37 Prozent gestiegen.

Hersteller haben zu lange auf günstige Preise gesetzt

Die Strategie mit den günstigen Preisen hat lange funktioniert. Aber die Hersteller waren zu optimistisch. So sind zum Beispiel die Preise für Stahl und andere Rohstoffe zwischenzeitlich massiv gestiegen. In ihren Verträgen hatten die Turbinenproduzenten dieses Risiko nicht bedacht und bleiben in der Folge auf den Mehrkosten sitzen.

Jetzt arbeiten die Windkonzerne an ihrer Kostendisziplin. Verträge werden neu verhandelt, Risiken ausgelagert, Preise erhöht. Das hat allerdings Folgen für die gesamte Offshore-Branche. Ab 2025 sehen Experten eine definitive Lücke zwischen Nachfrage und Produktionskapazitäten. „Der Aufbau der Ressourcen und Kapazitäten wie Produktionsstätten, Schiffe und Personal ist aufwendig und langwierig. Das wird einige Jahren dauern“, sagt Windexperte Briese.

Dass die Ausbauziele 2030 erreicht werden, glaubt deswegen auch in der Windbranche niemand mehr. Die Nachfrage bleibt aber trotzdem hoch. Erst am Mittwoch gewann RWE den Zuschlag für den Bau eines zwei Gigawatt starken Windparks im Golf von Mexiko vor der US-Küste.

RWE: Hoher Kostendruck am Golf von Mexiko

RWE baut sein US-Portfolio damit auf insgesamt rund 5,9 Gigawatt aus. 2022 hatte sich der Konzern aus Essen bereits Flächen in der New Yorker Bucht und vor der kalifornischen Küste gesichert.

Aber das neue Projekt im Golf von Mexiko könnte für den Konzern zur Herausforderung werden: Die Meeresbucht ist wegen seiner Hurrikans und dem weichen Meeresboden kein einfacher Ort für einen Windpark. Der Kostendruck ist durch die ohnehin niedrigen Strompreise in der Region für kapitalintensive Offshore-Anlagen außerdem besonders hoch.

Trotz steigender Kosten bleibt Windenergie interessant

„Aber trotz steigender Kapital- und Investitionskosten für erneuerbare Energieprojekte sehen wir insbesondere in Ländern mit starker politischer Unterstützung für erneuerbare Energien, wie zum Beispiel Deutschland und den USA, eine unverändert hohe Anfrage nach Projektfinanzierungen“, sagt Tim Koenemann, Chef der Erneuerbaren-Abteilung der Commerzbank dem Handelsblatt.

Das liegt auch daran, dass die Unternehmen davon ausgehen, dass Windkraft sich langfristig immer noch rechnet. Mit Gestehungskosten von 74 Euro die Megawattstunde ist Offshore-Strom deutlich günstiger als die fossilen Alternativen. Auch Atomstrom ist laut BNEF dreimal so teuer wie Energie aus Meereswind.