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Der Mann in der Mauer

Der Schnee ist weg. Ein guter Teil schwimmt jetzt in der Talsperre Gottleuba. Das macht Staumeister Heiko Hinz sehr zufrieden.

Von Jörg Stock
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Er ist gewappnet für den Sommer: Heiko Hinz, Staumeister an der Talsperre Gottleuba, hat mehr als genug Trinkwasser hinter seiner Mauer gesammelt.
Er ist gewappnet für den Sommer: Heiko Hinz, Staumeister an der Talsperre Gottleuba, hat mehr als genug Trinkwasser hinter seiner Mauer gesammelt. © Karl-Ludwig Oberthür

Das Büro von Heiko Hinz erinnert ein wenig an die Kanzel eines Bademeisters: große Glasfront, davor der See mit Boot und Boje. Aber wenn Heiko Hinz das Fernglas ansetzt, späht er nicht nach Schwimmern. Schwimmen ist verboten. Er guckt, was die Angler machen. Angeln ist erlaubt. Er guckt auch mal nach den Rehen oder nach dem Schwarzstorch. Vor allem aber nach der Pegellatte. Ein paar Zentimeter über dem Soll steht das Wasser. Schneeschmelze sei Dank. "Wir sind gut gerüstet für den Sommer."

Die Talsperre Gottleuba hat die mächtigste Staumauer Sachsens. 65 Meter hoch und, an der Basis, 40 Meter breit. Im Moment hält der Betonriegel mehr als neuneinhalb Millionen Kubikmeter Wasser zurück, eine See von 75 Fußballfeldern. Aus diesem Reservoir trinkt das Land, zwischen Dresden und Bad Schandau, zwischen Sebnitz und dem Osterzgebirgskamm, rund 150.000 Menschen, die jeden Tag um die 16.000 Kubikmeter Nass verbrauchen. Heiko Hinz ist der Mann, der sie ihnen gibt.

So ähnlich sah es bis vor Kurzem an der Talsperre Gottleuba aus. Dann kam das Tauwetter. Dieses Luftbild stammt allerdings von 2017.
So ähnlich sah es bis vor Kurzem an der Talsperre Gottleuba aus. Dann kam das Tauwetter. Dieses Luftbild stammt allerdings von 2017. © LTV/Peter Schubert

Seit beinahe zwanzig Jahren arbeitet der Wasserbau-Ingenieur Hinz als Staumeister an der Talsperre. Und genauso lange wohnt er auch hier, Domizilpflicht. Es ist eine Pflicht, die er als Privileg empfindet. Und das fühlt man ihm nach, beim Blick von der Terrasse auf die spiegelnden Wellen und die bewaldeten Hänge. Es ist sein kleines Kanada, sagt er, besonders im Herbst, wenn die Laubfärbung einsetzt. Dass die Zivilisation gleich um die Eck losgeht, merkt man nur, wenn das Rauschen der Autobahn heranweht.

Ruhe kann man sich nicht kaufen

Von der Ruhe kriegt Heiko Hinz nie genug. Krach machen kann man selber, sagt er, aber Ruhe kann man sich nicht kaufen. Hat ihn die Schneeschmelze wenigstens ein bisschen aus der Ruhe gebracht? Immerhin war diesmal wieder richtig Winter, mit weit über einem halben Meter Schnee oben am Kamm. Auch hier, vor dem Bungalow des Staumeisters, lagen dreißig, 35 Zentimeter Weiß.

Willkommen in Klein Kanada: Blick von der Terrasse der Staumeisterwohnung auf die Wasserfläche mit Sperrmauer.
Willkommen in Klein Kanada: Blick von der Terrasse der Staumeisterwohnung auf die Wasserfläche mit Sperrmauer. © Karl-Ludwig Oberthür

Nein, sein Puls ging ganz normal, als die Thermometersäulen Ende Februar plötzlich ins Plus schossen. Für solche Fälle ist seine Sperre ja auch gemacht, sagt der Meister. "Wir können damit gut leben." Heiko Hinz wartet regelrecht darauf, dass der getaute Schnee bei ihm ankommt. Denn das ist seine Chance, die Trinkwasservorräte aufzufüllen, für einen womöglich wieder sehr trockenen Sommer.

Verbleibende Schneereserve: nullkommanull

Das hat hingehauen. In den letzten Tagen strömten bis zu zweieinhalb Kubikmeter Wasser pro Sekunde in den Gottleuba-Stausee. Zum Vergleich: Der durchschnittliche Zufluss liegt bei 400 bis 450 Litern. Noch vorige Woche waren 600.000 Kubikmeter Schneereserve im Einzugsgebiet gemeldet. Inzwischen sind es nullkommanull. Doch der Zustrom an Wasser hält an. Zur Wochenmitte waren es immerhin noch 1,1 Kubikmeter je Sekunde.

Schreibtisch mit Fernblick: Von hier aus kann man nicht nur Angler, sondern auch Rehe, Muffelschafe, Nilgänse und Schwarzstörche beobachten.
Schreibtisch mit Fernblick: Von hier aus kann man nicht nur Angler, sondern auch Rehe, Muffelschafe, Nilgänse und Schwarzstörche beobachten. © Karl-Ludwig Oberthür

Doch es geht auch anders: Voriges Jahr, als der Schnee praktisch komplett ausfiel, hat Heiko Hinz sein Stauziel fürs Frühjahr nicht erreicht, zum ersten Mal, seit er an der Mauer Dienst tut. Sommers sank der Zufluss zeitweise auf klägliche neun Liter. "Das ist so gut wie nichts." Ungeachtet dessen musste er Sekunde um Sekunde zweihundert Liter abgeben, für die Trinkwasserproduktion und für die Fische im Fluss. Zwei, drei Zentimeter sank der Wasserspiegel jeden Tag. "Da klingeln bei allen, die mit der Trinkwasserversorgung verbunden sind, die Alarmglocken."

Weniger Durst als in der DDR

Grundsätzlich ist die Gottleuba-Sperre gut mit Wasser versorgt. Und sie muss weit weniger davon abgeben als früher. Zu DDR-Zeiten lag der Abfluss etwa doppelt so hoch wie jetzt, bei bis zu 30.000 Kubikmetern am Tag. Das lag vor allem an durstigen Betrieben wie dem Heidenauer Zellstoffkombinat oder der Pirnaer Kunstseide. Aber auch an den niedrigen Preisen. Heute kostet das Wasser gutes Geld. Die Verbraucher sparen. Das macht wiederum den Versorgern Kopfweh. Wasser, das nicht fließt, keimt und setzt die Leitungen zu.

Keine Bewegung! Sensible Messapparate, so auch dieser Draht, überwachen kleinste Lageveränderungen der Staumauer.
Keine Bewegung! Sensible Messapparate, so auch dieser Draht, überwachen kleinste Lageveränderungen der Staumauer. © Karl-Ludwig Oberthür

Das Einzugsgebiet der Gottleuba-Sperre erstreckt sich auf mehr als 35 Quadratkilometer. Was ihm von dort dieses Jahr zufließen wird? Heiko Hinz muss sich überraschen lassen. Warum also jetzt nicht noch mehr Wasser anstauen? Es wäre Platz für reichlich drei Millionen Kubikmeter zusätzlich. Ein bisschen mehr als sonst ist ja schon im Becken, sagt der Staumeister, als Reserve für eine eventuelle Dürre. Aber allzu viel geht nicht. Jeder Tropfen zusätzlich mindert den Rückhalteraum für ein eventuelles Hochwasser.

Bewährungsprobe bei der Jahrhundertflut

Zur "Jahrhundertflut" 2002 war Heiko Hinz gerade ein knappes Jahr Staumeister an der Gottleuba. Es war seine große Bewährungsprobe, aber auch die große Bewährungsprobe für die Mauer. Was sie imstande ist auszuhalten, hatte sie bis dahin nicht zeigen müssen. Nachdem der Vollstau erreicht war, tosten 35 Kubikmeter pro Sekunde durch die Entlastungsschlitze den Mauerrücken hinab. Das Fünffache wäre möglich gewesen.

Trinkwasser kann aus verschiedenen Tiefen gezapft werden. Diese Anlage analysiert laufend, wo gerade das beste Wasser ansteht.
Trinkwasser kann aus verschiedenen Tiefen gezapft werden. Diese Anlage analysiert laufend, wo gerade das beste Wasser ansteht. © Karl-Ludwig Oberthür

Im Einzugsgebiet der Gottleuba bilanzierte die Landestalsperrenverwaltung damals fast 90 Millionen Euro Schaden. Die Staumauer blieb heil. Sie hatte sich trotz des enormen Wasserdrucks gegenüber dem Baugrund nur im Zehntel-Millimeter-Bereich bewegt. Nach dem Hochwasser wurden viele der Messgeräte, die in dem ausgedehnten Stollensystem der Sperrmauer jeden Mucks überwachen, automatisiert. Die täglichen Kontrollgänge finden jetzt nur noch im Zweitagesrhythmus statt.

Über tausend Stufen muss er gehen

Regelmäßig steigt auch Heiko Hinz in die sechs, sieben Grad kühle Düsternis hinab, über etwa tausend Stufen geht er, und sieht nach dem Rechten, begutachtet Schwimmlote, Fluchtmessdrähte, Sickerwassermengen. Tatsächlich ist das Tropfen von Wasser der Soundtrack seiner Patrouille. Minimale Undichtigkeiten und Kondenswasser summieren sich auf aktuell dreißig Milliliter in der Sekunde. Bei dreihundert Metern Mauerlänge. Hinz zollt den Erbauern Respekt. "Die haben richtig gute Arbeit geleistet."

Auf Leben trifft man in den düsteren Stollen der Staumauer kaum. Auch dieses Spinnentier überdauert nur noch als Mumie.
Auf Leben trifft man in den düsteren Stollen der Staumauer kaum. Auch dieses Spinnentier überdauert nur noch als Mumie. © Karl-Ludwig Oberthür

Heiko Hinz hat den Job seines Lebens. Von dem profitieren inzwischen auch die Enkel, wenn sie zu Besuch kommen. Mit dem Dreirad und Laufrad können sie gefahrlos herumdüsen, denn öffentlichen Verkehr, wie auf anderen Stauwerken, gibt es in Gottleuba nicht. Heiko Hinz ist jetzt 56. Bis 67 wird er Dienst tun. Nach Lage der Dinge müsste er dann für den Nachfolger Platz machen in Klein Kanada. Aber wer weiß, ob dann die Domizilpflicht noch gilt. "Wenn ich darf, würde ich gern bleiben."

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