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Mit dem Mut zur Lücke

Ohne passende Abschlüsse oder Zertifikate sind viele Karrierewege versperrt. Das soll sich ändern – auch, weil Arbeitskräfte inzwischen mehr als knapp sind.

Von Annett Kschieschan
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Als Quereinsteiger in den Traumjob – bei Lehrern ist das seit einigen Jahren sehr viel einfacher möglich als früher. Andere Branchen wollen nachziehen.
Als Quereinsteiger in den Traumjob – bei Lehrern ist das seit einigen Jahren sehr viel einfacher möglich als früher. Andere Branchen wollen nachziehen. © AdobeStock

Gastronomie, Handwerk, Medien, IT – kaum eine Branche, die gegenwärtig nicht über Bewerbermangel klagt. Ob Lehrstellen oder feste Jobs, vielerorts fehlen Interessenten. Und selbst in der Führungsebene dauert die Suche nach geeignetem Personal heute oft lange. Was für Unternehmen zunehmend zum Problem wird, bietet Arbeitnehmern gleich mehrere Vorteile. Zum einen lassen sich in Bewerbungsgesprächen oft recht problemlos bessere Konditionen aushandeln, wenn die Konkurrenz quasi nicht vorhanden ist. Zum anderen haben auch Quereinsteiger beziehungsweise Menschen ohne Berufsabschluss jetzt beste Chancen, doch noch in ihrem Traumberuf Fuß zu fassen.

Das bestätigt eine Studie der Bertelsmann-Stiftung, bei der Prämissen bei der Stellenbesetzung untersucht wurden. Rund hundert Personalverantwortliche wurden dazu mit Blick auf 30 verschiedene Ausbildungsberufe befragt. Dabei gaben immerhin 80 Prozent der Befragten an, grundsätzlich auch Menschen ohne Berufsabschluss einzustellen, wenn diese entsprechend Vorkenntnisse im gewünschten Bereich mitbringen.

Offen für Quereinsteiger

Wie diese erlangt wurden, ist demnach zweitrangig. Das mag auf den ersten Blick durchaus überraschen, gilt doch Deutschland als ein Land, in dem besonders viel Wert auf Zeugnisse und Zertifikate gelegt wird. Studienleiter Roman Wink brachte das Dilemma in einem Interview mit dem Magazin „Der Spiegel“ auf den Punkt. „Deutschland ist ein Land, in dem Abschlüsse sehr wichtig sind, dabei sind sich alle einig, dass Kompetenzen, die man bei der praktischen Arbeit erwirbt, sehr viel wertvoller sind als theoretisches Wissen. Trotzdem fallen Menschen, die ihren Job verlieren, immer auf den letzten Abschluss zurück. Wer keinen Berufsabschluss hat, landet damit auf Stufe Null - auch wenn er oder sie nützliches Fachwissen aus vorherigen Jobs besitzt“, so Wink.

Weil sich die Arbeitswelt ändert, in vielen Bereichen rasante Entwicklungen an der Tagesordnung sind, bricht diese strikte Haltung inzwischen in vielen Branchen auf. Viele Entscheider wünschen sich deshalb, dass auch Teil-Qualifikationen besser sichtbar gemacht werden. Denn ganz ohne Nachweis bestimmter Kenntnisse und Erfahrungen möchten sie dann doch keine Stellen vergeben. Der Vorschlag der Studie: ein Ausbildungssystem, das auf Teilkenntnissen aufbaut und es Bewerbern möglich macht, Wissen in bestimmten Bereichen eines Berufes zu erwerben.

Kompetenztests mit Begleitung

Gemeinsam mit der Bundesagentur für Arbeit hat die Bertelsmann Stiftung ein Testsystem entwickelt, das potenziellen Bewerbern dabei helfen soll, vorhandene Fertigkeiten „vorzeigbar“ zu machen. „MySkills“ gibt aktuell für rund 30 Berufsbilder und in zwölf Sprachen. Letzteres ist auch deshalb wichtig, weil vor allem auch Zuwanderer das Problem haben, dass ihre Ausbildungen und Berufserfahrungen mangels Zertifikaten in Deutschland nicht anerkannt werden. Die Kompetenztests sollen die „passgenaue Vermittlung in Qualifizierung, Probearbeit, Praktikum oder Beschäftigung“ erleichtern und damit Arbeitssuchenden und Unternehmen gleichsam entgegenkommen. Letztere können sich ein besseres Bild über die tatsächlichen Vorkenntnisse eines Bewerbers machen - auch dann, wenn Zeugnisse und Abschlüsse fehlen. Arbeitnehmer können mit Vorzeigbarem punkten und im Idealfall auch dadurch mit mehr Selbstvertrauen auf Stellensuche gehen. Dabei ist die Teilnahme am Test freiwillig. Und auch, wer den Test absolviert, kann anschließend selbst entscheiden, ob er das Ergebnis bei der Bewerbung nutzen möchte.

Fakt ist, die Veränderungen in der Arbeitswelt erfordern auch neue, vielfach offenere Modalitäten, wenn es um die Bewerbung und Besetzung freier Stellen geht. Und der Fachkräftemangel gibt auch Menschen mit mehr als einer Lücke im Lebenslauf die Chance, im Arbeitsleben Fuß zu fassen und vielleicht auch eine Karriere in einer neuen Branche zu starten.

Tests wie „MySkills“ können nach Meinung der Experten bei Bertelsmann den Übergang in eine veränderte, weniger zertifikatsgebundene Form des Recruitments erleichtern. Begleitet wird die Umsetzung von Wissenschaftlern des Forschungsinstituts für berufliche Bildung (f-bb), der Humboldt- und der Freien Universität Berlin, der Universität Ulm, der Universität Potsdam und des Deutschen Instituts für internationale pädagogische Forschung (DIPF). Ihr Ziel: Die Arbeitswelt von morgen noch ein bisschen offener, interaktiver, chancengerechter zu machen.