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Warum das Ostsee-Städtchen Wismar eine Pracht ist

Viel zu große Kirchen, ein alter Schwede und ein untoter Graf. Die kleine Hansestadt Wismar ist ein opulentes Bühnenbild ihrer eigenen kuriosen Geschichte. Und dabei zum Verlieben schön. Ein Rundgang.

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Die als Weltkulturerbe anerkannte Altstadt von Wismar ist vom Turm der St. Nikolai-Kirche zu sehen.
Die als Weltkulturerbe anerkannte Altstadt von Wismar ist vom Turm der St. Nikolai-Kirche zu sehen. © Jens Büttner/dpa

Von Dorothee Nolte

Der Meister kam auf einem großen Schiff, und er brachte die Pest nach Wisborg. Tausende Ratten krabbelten durch die Straßen und verbreiteten die Seuche unter Arm und Reich. Es herrschte Verzweiflung in der Stadt am Meer, bis endlich die schöne Ellen ein dramatisches Opfer bringt: Sie öffnet das Fenster und lässt ihn hinein, den gruseligen Grafen Orlok, und er saugt ihr Blut bis zum frühen Morgen. Im Blutrausch vergisst er, dass er bis zum ersten Hahnenschrei verschwinden muss. Zum Glück: Als der Hahn schreit, verdampft der Vampir, und Wisborg ist erlöst.

Vor genau 100 Jahren hat Friedrich Wilhelm Murnau seinen expressionistischen Stummfilmklassiker „Nosferatu – Symphonie des Grauens“ gedreht, und ein Teil der Handlung spielt in Wismar. „Murnau hat die Handlung aus Bram Stokers ,Dracula‘ von London nach Wismar geholt, weil die Stadt damals so eine düstere Atmosphäre hatte“, sagt Lars Maue. Den Künstlerhut ins Gesicht gezogen, steht der Theaterregisseur im Innenhof der Kulturmühle Wismar und schildert die Stadt zu Murnaus Zeiten: die Häuser dunkel vom Industrierauch, die Stimmung nach dem Ersten Weltkrieg gedrückt, Inflation, Armut in den Straßen. Freiwillig kam niemand her.

Dagegen heute! Wismar blüht, ist eine Schönheit, eine Pracht. Die historischen Giebelhäuser leuchten in allen Farben, die Straßen sind sauber und gepflegt, und die Menschen drängeln sich in den Gassen der Altstadt, die zu den besterhaltenen im Ostseeraum zählt. Die ehemalige Hansestadt, die seit 2002 gemeinsam mit Stralsund zum Unesco-Weltkulturerbe gehört, hat sich zum Touristenmagneten entwickelt. Es sind vor allem Deutsche, Skandinavier, Österreicher, Schweizer, die durch die Straßen flanieren und sich am Alten Hafen den Wind um die Nase blasen lassen, auf der Suche nach Fischbrötchen und einem authentischen Eindruck von Mittelalter und Hanse. Fast fürchtet man, dass auch Amerikaner oder Chinesen die Stadt für sich entdecken könnten.

Ein Wahrzeichen der Stadt: Die „Wasserkunst“ auf dem Markt diente früher zur Wasserversorgung. Und Wasser wurde in großen Mengen gebraucht – unter anderem zum Brauen des Wismarer Bieres.
Ein Wahrzeichen der Stadt: Die „Wasserkunst“ auf dem Markt diente früher zur Wasserversorgung. Und Wasser wurde in großen Mengen gebraucht – unter anderem zum Brauen des Wismarer Bieres. © TMV/Grundner

„Heute bietet die Stadt uns eine bunte und lebensfrohe Bühne“, sagt Theatermaskenbauer Lars Maue – eine Bühne zum Beispiel, um das „Nosferatu“-Jubiläum zu feiern. Maue und sein Team von der Kulturmühle Wismar modellieren dafür Großpuppen des Grafen Orlok und anderer Charaktere aus dem Film. Mit den vier Meter hohen Figuren wollen sie ab Mitte August auf einer „Nosferatour“ durch die Stadt ziehen und die gruselige Geschichte an den Originaldrehorten in der Altstadt erzählen. Am Wassertor zum Beispiel, mit Blick auf den Hafen: Dort wird der unheimliche Graf auf einem historischen Schiff in die Stadt einlaufen, ganz so wie im Film, schwärmt Maue. Die „Nosferatour“ soll auch nach dem Jubiläumsjahr regelmäßig stattfinden – eine weitere Attraktion für die an Attraktionen reiche Stadt.

Straßennetz seit dem Mittelalter kaum verändert

Eine davon ist der 100 mal 100 Meter große Marktplatz, gesäumt von historischen Bürgerhäusern und dem klassizistischen Rathaus. Wismar war im Mittelalter eine reiche Stadt, die von den weit verzweigten Handelsbeziehungen der Hanse profitierte. Deren Blütezeit lag im 14. Jahrhundert, und das Netz der Straßen und Gassen in der Altstadt hat sich seitdem nicht wesentlich verändert. „Die Stadt ist ein Flächendenkmal für mittelalterliche Bau- und Lebensweise“, sagt Nils Jörn, Leiter des Stadtarchivs und Kenner der Stadtgeschichte. „In einem typischen Bürgerhaus war oben der Kornspeicher, unten das Kontor, und die Familie lebte im Seitenflügel, genannt Kemlade.“

Jörn zeigt auf das älteste erhaltene Bürgerhaus am Platze, den um 1380 errichteten Alten Schweden mit spätgotischer Backsteinfassade. Der Name soll an die 155-jährige „Schwedenzeit“ erinnern, als die Stadt zum Königreich Schweden gehörte, eine Folge des Dreißigjährigen Krieges. Zur Erinnerung wird jedes Jahr im August das Schwedenfest gefeiert, mit historischem Heerlager auf dem Marktplatz. Erst 1803 ging Wismar zurück an das Großherzogtum Mecklenburg.

Beliebtes Fotomotiv auf dem Markt ist neben dem Alten Schweden auch die Wasserkunst, ein Wahrzeichen der Stadt: Der freistehende Pavillon, um 1600 erbaut, diente jahrhundertelang zur Wasserversorgung. Und Wasser wurde in großen Mengen gebraucht – unter anderem zum Bierbrauen. „Das war ein wichtiges Handelsgut“, sagt Jörn. „Wismarer Bier wurde bis nach Schweden exportiert.“

Auch wer sich sonst keine Kirchennamen merken kann: In Wismar lernt jeder schnell, die drei Gotteshäuser auseinanderzuhalten, die das Stadtbild prägen. Denn jede der drei Backsteinkirchen hat einen ganz eigenen Charakter und eine besondere Geschichte.

Nur wenige Schritte vom Markt entfernt liegt die St.-Marien-Kirche – oder genauer, das was von ihr übrig ist: der Turm, über 80 Meter hoch. Der Rest der ehemaligen Hauptkirche wurde zwei Wochen vor Kriegsende von Bomben getroffen. „Das Mittelschiff war jahrelang eine Ruine, bis die DDR-Behörden es 1960 sprengen ließen. Die Fläche wurde dann als Parkplatz genutzt“, erzählt Nils Jörn. Heute ist das Mittelschiff zumindest am Boden wieder erkennbar: Die Fundamente wurden freigelegt und aufgemauert, sodass ein Forum entstanden ist, das für Lesungen und andere Veranstaltungen genutzt werden kann.

Touristen lassen sich am Alten Hafen den Wind um die Nase blasen – auf der Suche nach Fischbrötchen und einem authentischen Eindruck von Mittelalter und Hanse.
Touristen lassen sich am Alten Hafen den Wind um die Nase blasen – auf der Suche nach Fischbrötchen und einem authentischen Eindruck von Mittelalter und Hanse. © TMV/Grundner

Ganz in der Nähe von St. Marien erhebt sich die zweite Backsteinkirche mit dramatischer Geschichte, St. Georgen. Ebenfalls von Bomben getroffen, überdauerte sie die DDR-Zeit als Ruine ohne Dach. Nach der Wende sammelten Bürger und die Stiftung Denkmalschutz mehr als 13 Millionen Euro und ließen das Gebäude restaurieren, 2010 wurde es wiedereröffnet. Eindrucksvoll ist der Raum für jeden, der ihn betritt, denn die Kirche ist vollständig leer, nur einige Steintafeln lehnen an den Wänden. Sie wird für Veranstaltungen genutzt und lockt Touristen mit einer Aussichtsplattform in 35 Metern Höhe.

Dort, wo die mittelalterlichen Gläubigen einen Turm bauen wollten und nie vollendeten, steigt man nun aus dem Aufzug und staunt. Ein fantastischer Ausblick bietet sich dar, auf das Mecklenburger Hinterland, die Altstadt, den Hafen, die Wismarer Bucht mit der Insel Poel – und auf die 72 Meter hohe grüngraue Schiffsdockhalle am Hafen, in der das größte Kreuzfahrtschiff der Welt entsteht. Die „Global One“ soll trotz der Insolvenz der MV Werften fertiggebaut werden.

Zurück auf dem Erdboden spazieren wir gemächlich quer durch die Altstadt, um die dritte markante Kirche zu sehen. Wir passieren das Heilig-Geist-Spital, dessen Innenhof Fernsehzuschauern aus der ZDF-Krimiserie „Soko Wismar“ bekannt ist, und das Welterbe-Haus, ein historisches Dielenhaus mit einer Ausstellung zu den Hintergründen des Unesco-Status. In der geschäftigen Krämergasse mit ihren bunten Giebelhäusern hat Rudolph Karstadt 1881 sein erstes Tuch- und Confectionsgeschäft eröffnet.

In den Straßen rund um St. Nikolai ist es stiller. Hier verläuft die „Grube“, der einzig verbliebene von einst sieben künstlichen Kanälen aus dem Mittelalter. Die darüber führende Schweinsbrücke amüsiert große und kleine Fußgänger mit vier lustigen Bronzeschweinchen auf den Geländerpfosten. Ein romantischer Ort, um den Kaffeedurst zu stillen. Zum Glück ist das „Café Glücklich“ in Sicht, wo Chefin Katharina Glücklich hausgebackene Torten und Quiches bereithält. Restlos glücklich sitzen wir mit einem Brombeerkuchen vor dem Café und bewundern die reich geschmückte rote Fassade des Schabbellhauses schräg gegenüber. Das Wohn- und Brauhaus aus der Zeit der Renaissance beherbergt das Stadtgeschichtliche Museum, mit modern gestalteten Räumen zu den historischen Phasen von der Stadtgründung im 13. Jahrhundert bis zur Wende 1989/90.

Wie praktisch, dass das Brauhaus des Bürgermeisters Schabbell direkt an der „Grube“ lag: So ließen sich die Bierfässer schnell zum Hafen transportieren. Von einst gut 200 Häusern mit Braurecht ist heute nur noch eins in Betrieb, das Brauhaus am Lohberg unweit der Nikolaikirche. Braumeister Stefan Beck hat die Rezeptur der „Mumme“ rekonstruiert, und wer mag, kann das dunkle Urbier aus der Hansezeit in der Gaststätte probieren.

Zuvor aber heißt es St. Nikolai besuchen, die Dritte im Bunde der mächtigen Backsteinkirchen Wismars, als Einzige im Zweiten Weltkrieg verschont. Hier begrüßt Küster Martin Poley die Besucher persönlich und versäumt nicht darauf hinzuweisen: Es handelt sich um das vierthöchste Kirchenschiff Deutschlands und die zweithöchste Backsteinbasilika der Welt, 37 Meter hoch. Stolz zeigt er das Hochaltarretabel mit 42 Heiligenfiguren und andere Kunstschätze, die sich einst in der Marien- und der St.-Georgen-Kirche befanden und vor den Bomben hierher gerettet werden konnten.

Hoch die Wendeltreppe! Gewölbeführer Michael Krause zeigt uns den mittelalterlichen Dachstuhl mit seinen uralten Balken und Holznägeln und die wabenartigen Kreuzrippengewölbe aus verputzten Backsteinen. Die Jahrhunderte flüstern von den Wänden. St. Nikolai wurde zwischen 1381 und 1487 als Kirche der Seefahrer und Fischer erbaut, und genau diese maritime Tradition möchten wir jetzt erkunden. Wir folgen der „Grube“ bis zum Alten Hafen mit seinen Fischkuttern und Ausflugsschiffen und mischen uns unters Volk, das hier flaniert und auf die Backfisch-Brötchen aufpassen muss, sonst schnappen die Möwen den Hering weg. Das Hafenbecken hat noch eine ähnliche Form wie im Mittelalter, aber drumherum hat sich viel verändert. Im 19. und 20. Jahrhundert wurden hier Eisenbahnwaggons hergestellt und große Speichergebäude aus Backstein gebaut, die heute in Hotels umgewandelt werden. Neue Restaurants und Cafés locken, abends tanzt schon mal ein Pärchen Tango am Kai.

Maskenbauer Lars Maue ist alljährlich dabei, wenn Wismar mit Theaterprojekten unter freiem Himmel aufwartet. 2022 ist das „Nosferatu“-Jubiläum. Vor 100 Jahren entstand hier der Stummfilmklassiker.
Maskenbauer Lars Maue ist alljährlich dabei, wenn Wismar mit Theaterprojekten unter freiem Himmel aufwartet. 2022 ist das „Nosferatu“-Jubiläum. Vor 100 Jahren entstand hier der Stummfilmklassiker. © Jens Büttner/dpa

Die Grande Dame unter den Gebäuden ist das elegante barocke „Baumhaus“. Früher logierten hier die „Bohmschlüter“, die den Hafen bei Gefahr mit einem Schlagbaum absperrten, die Baumschließer also. Heute beherbergt das Haus eine Ausstellung zur maritimen Geschichte Wismars. Dazu gehören auch zwei historische Schiffe, die vor dem Baumhaus vor Anker liegen: der restaurierte Traditionssegler „Atalanta“ und die „Wissemara“, wuchtiger Nachbau einer mittelalterlichen Kogge.

Auf solchen Schiffen also wurde das Bier nach Schweden transportiert! Nichts wie rauf. Mit uns versammeln sich gut 40 Gäste auf dem geräumigen Deck und hören zu, wie Kapitän Stranz die Geschichte des Boots erzählt: 1997 wurde vor der Insel Poel ein Wrack aus dem 14. Jahrhundert gefunden, und der daraufhin gebildete Förderverein „Poeler Kogge“ hat das 31 Meter lange Schiff in fünf Jahren nachgebaut.

Majestätisch laufen wir aus. Jubel, als das riesige Segel herabgelassen wird, und Ohrenzuhalten, als Maschinist Heiko Loest eine Kanone abfeuert – Pflichtprogramm beim Verlassen des Hafens. Bis vor die Insel Poel segelt das Team mit uns. So schippern wir nach Hanse-Art durch die Wismarer Bucht und laufen nach drei Stunden wieder in den Hafen ein.

Fast wie einst der Vampir Graf Orlok, alias Nosferatu, aber ganz ohne böse Absichten, nur mit frohen Gedanken im Kopf.

© Grafik: SZ/Grunwald

Dieser Text stammt aus dem Magazin Tagesspiegel Ostsee2022. Es ist für 10,80 Euro versandkostenfrei auf shop.tagesspiegel.de erhältlich. Die unabhängige Recherche zu diesem Text wurde unterstützt durch wismar-tourist.de.