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So organisiert sich die „Letzte Generation“

Seit Monaten sorgt die „Letzte Generation“ mit ihren Klebe-Aktionen für Aufsehen und Aufregung. Wie funktioniert diese Bewegung? Wie wird sie finanziert? Einblicke in eine verschworene Gruppe.

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Die „Letzte Generation“ trainiert, wie man sich im Ernstfall wegtragen lässt.
Die „Letzte Generation“ trainiert, wie man sich im Ernstfall wegtragen lässt. © Alena Schmick

Von Maria Fiedler, Alexander Fröhlich, Julius Geiler, Joana Nietfeld und Jana Weiss

Wie oft sie sich schon auf der Straße festgeklebt hat? Lina Johnsen kann das nicht mehr aufzählen. Aber ans letzte Mal erinnert sich die 24-jährige Studentin gut: Da habe ein Lkw direkt vor ihr gestanden, der Fahrer habe immer wieder drohend den Motor aufbrummen lassen. „Keiner von uns macht das, weil es Spaß macht“, sagt sie.

Es ist ein Samstag im November in Berlin, Lina Johnsen leitet in einem Kreuzberger Hinterhofraum ein Training der „Letzten Generation“, gemeinsam mit ihrer Mitstreiterin Lisa. Sie bereiten neue Gruppenmitglieder auf die Protestaktionen vor, bringen ihnen bei, wie man sich festklebt und wie man reagiert, wenn Autofahrer wütend werden oder die Polizei die Blockade auflöst. Es ist eine Gelegenheit, die einen Blick ins Innere der Letzten Generation erlaubt: einer Bewegung, die mit ihrem Drängen auf eine schärfere Klimapolitik seit Monaten Schlagzeilen macht, über deren Struktur und Finanzierung aber noch vieles im Dunkeln liegt.

Lina Johnsen und Lisa teilen die acht Neuen in zwei Gruppen auf: Blockierer und Autofahrer – ein Rollenspiel. Die Blockierer ziehen sich Warnwesten an und setzen sich mit einem Banner der Letzten Generation auf den Boden. Die Autofahrer sollen versuchen, sie von der Straße wegzubewegen: durch Argumente – „Ich habe einen wichtigen Termin!“ –, durch Anschreien oder indem sie die Blockierer wegzerren. „Das tut mir sehr leid, aber wir bleiben trotzdem hier sitzen“, wiederholt einer von ihnen immer wieder.

Hier in dem warmen Erdgeschossraum, mit Wollsocken und bequemer Kleidung, brechen sie beim Versuch, die Auseinandersetzung zu simulieren, manchmal in Gelächter aus. Zwei Tage später sollen sich einige von ihnen auf der Straße festkleben. Dann wird es ernst.

Wie funktioniert diese Bewegung, die mit ihren Klebeaktionen seit Monaten für Diskussionen sorgt? Wie ist sie organisiert? Spätestens seit dem Unfall, bei dem eine Fahrradfahrerin von einem Betonmischer überrollt wurde, wird über die Letzte Generation erbittert gestritten. Ein Spezialwagen der Feuerwehr war im Rückstau einer Aktion der Blockierer auf der Stadtautobahn steckengeblieben. Wenige Tage später starb die Radfahrerin. Auch wenn die Notärztin zu Protokoll gab, die Klimaaktivisten hätten keinen Einfluss auf die Versorgung des Unfallopfers gehabt, gaben nicht wenige ihnen eine Mitschuld am Tod der 44-Jährigen. Die CDU fordert mittlerweile härtere Strafen für die Klimaaktivisten, will eine Gesetzesänderung. CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt warnte vor der Entstehung einer „Klima-RAF“. Die Berliner SPD-Innensenatorin Iris Spranger plädiert für längere Gewahrsamszeiten. Auch dass die Aktivisten Suppe oder Brei auf wertvolle Gemälde schütten und in Kauf nehmen, diese zu beschädigen, macht viele wütend. Morddrohungen gehen bei den Klimabewegten ein.

„Was sind diese Gemälde noch wert, wenn wir uns um Essen streiten müssen, weil 2050 ein Drittel der Ernten in Deutschland ausfallen und große Teile der Erde unbewohnbar sind?“, fragte die 25-jährige Mirjam Herrmann, die mit einem Mitstreiter Kartoffelbrei auf ein Monet-Gemälde im Potsdamer Museum Barberini gekippt hatte. „Wir rasen in eine Katastrophe, und da ist es unsere moralische Pflicht, alle friedlichen Mittel auszuschöpfen“, sagte die Aktivistin Carla Hinrichs, nachdem die Ergebnisse der Weltklimakonferenz weit hinter den Erwartungen zurückgeblieben sind.

Die Letzte Generation steht für einen Aktivismus, der kompromissloser ist als die Schulstreiks und Demonstrationen von Fridays for Future. In der Klimabewegung sind längst nicht alle davon überzeugt, dass die Aktionen der Gruppe der Sache helfen. Die Debatte über sie ist auch eine darüber, wie wirksamer Klimaprotest aussehen muss. Es ist eine Debatte darüber, wie radikal man werden darf, wenn man meint, dass es um das Überleben des Planeten geht. Und wann Aktionen mit eigentlich hehrem Ziel das Gegenteil bewirken.

An einem Montag Anfang November hat die „Letzte Generation“ ins La Minga, eine Kneipe in Prenzlauer Berg, eingeladen. Seit die Mitglieder der Gruppe Anfang Oktober wieder damit begonnen haben, sich auf Berliner Autobahnen festzukleben, halten sie parallel wöchentlich Vorträge überall in Deutschland. Dabei will die Gruppe nicht nur informieren. Sie will auch rekrutieren.

Tim, der vorne auf der Bühne steht und der Redner ist, sagt: „Schön, dass ihr alle da seid.“ Er, 26, trägt einen blonden Pferdeschwanz, hat in der Schweiz studiert, bis Anfang des Jahres für eine politische Beratung in Berlin gearbeitet und ist jetzt Vollzeitaktivist. Den Vortrag habe er auch schon vor drei Leuten gehalten, sagt Tim. Jetzt drängen sich etwa 40 in dem kleinen Raum.

Jede Empörung, jede negative Berichterstattung, letztlich auch jeder Gefängnisaufenthalt sind eingeplant, eingepreist in das Ziel, die Regierung zum Handeln gegen die Klimakatastrophe zu bewegen. Die Gruppe geht davon aus, dass je mehr sie stört und je mehr Repressionen gegen sie verhängt werden, desto mehr Menschen sich mit ihr solidarisieren. Und deshalb der Druck auf die Politik steigt.

Tim verteilt Kontaktbögen. „Wenn ihr uns eure Nummer da lasst, wenden wir uns dann per SMS an euch oder rufen an.“ Im nächsten Schritt werde dann ausgelotet, wozu man bereit ist. Will man sich auf eine Fahrbahn kleben und womöglich Haftstrafen auf sich nehmen? Oder will man die Gruppe aus dem Hintergrund unterstützen, Flyer verteilen oder mal eine Aktion filmen? Auch Helfer für Kinderbetreuung, Fundraising, die Organisation von Unterkünften, die Planung von Vorträgen, rechtliche Beratung, psychologische Betreuung, Presse- und IT-Unterstützung werden gebraucht.

Eine Demonstrantin der Gruppe "Letzte Generation" sitzt auf einer Ausfahrt der Berliner Stadtautobahn.
Eine Demonstrantin der Gruppe "Letzte Generation" sitzt auf einer Ausfahrt der Berliner Stadtautobahn. © Archivbild: Paul Zinken/dpa

Mit ungefähr 30 Menschen habe die „Letzte Generation“ gestartet, sagt Tim. Mitte des Jahres waren sie mehr als 200. Jetzt seien sie schon eine Gruppe von ungefähr 500 Teilnehmern. Mittlerweile gibt es eigene Wohnungen, in denen Aktivisten zusammenleben. Und es gibt es Hinweise darauf, dass einzelne Aktivisten bezahlt werden. So hatte eine von ihnen dem RBB auf die Frage, ob sie ein Gehalt bekomme, gesagt: „Ja, so in der Art könnte man es sehen.“ Auch die Strafen für die Blockadeaktionen werden zum Teil „von der Organisation“ übernommen, sagt Aktivistin Johnsen. Woher kommt das Geld? Über die Finanzierung schweigt sich die Gruppe aus. Klar ist: Die Letzte Generation gehört zum sogenannten A22-Netzwerk, das „zivile Widerstandsprojekte“ vereint, „die sich in einem brutalen Wettlauf gegen die Zeit für das Überleben der Menschheit einsetzen“, wie es in der Selbstbeschreibung heißt. Einer der Hauptfinanzierer des A22-Netzwerks ist der „Climate Emergency Fund“, der in diesem Jahr nach Angaben auf seiner Webseite mehr als vier Millionen Euro an verschiedene Projekte ausgezahlt hat.

Zu den Köpfen hinter dem Fund gehört Aileen Getty, die Enkelin des Ölmagnaten J. Paul Getty, die in den Kampf gegen die Klimakrise investieren will. Die „Letzte Generation“ bekommt aber auch Spenden von Privatpersonen.

In der Bewegung ärgern sie sich über die Fragen nach Finanzierung und Organisation. „Warum ist das Interesse an Strukturen viel größer als an den Themen, die der Grund sind, warum wir auf der Straße sitzen?“, fragt Lina Johnsen. Die 24-Jährige mit den schulterlangen blonden Haaren sitzt ein paar Tage nach dem Aktionstraining in einer Wohnung der Letzten Generation innerhalb des Berliner S-Bahn-Rings.

Wohnungen als Rückzugsort für die Aktivisten

Obwohl an diesem Montag alle fünf Mitbewohner zu Hause sind, kommt in der sauberen Altbauwohnung kein WG-Gefühl auf. Die jungen Leute sitzen vor ihren Laptops, organisieren, koordinieren und planen. Aus einem Nebenzimmer hört man leise ein Telefongespräch. „Wir haben hier ein Kommen und Gehen“, sagt Johnsen, die sich im Frühling der Bewegung angeschlossen hat. Diejenigen, die hier keine Freunde oder Bekannten haben, würden in den eigens angemieteten Wohnungen untergebracht. Unterstützer der Letzten Generation kommen aus vielen Regionen Deutschlands, sogar dem Ausland nach Berlin. Die Wohnungen seien auch Rückzugsort und Refugium, auch um einander nach Straßenblockaden „emotional aufzufangen“ und „beizustehen“.

Nach dem Tod der Radfahrerin herrschte auch in der WG der Ausnahmezustand. Lina erzählt, dass Menschen in der Wohnung anrufen und drohen, die Klimaaktivisten zu ermorden. Auch auf der Straße sei die Stimmung rauer geworden. Gleichzeitig habe es einen Solidarisierungseffekt mit der Gruppe gegeben. Johnsen sagt dazu Sätze wie: „Es muss eine größtmögliche öffentliche Störung erzeugt und aufrechterhalten werden, um eine konstruktive Spannung in der Gesellschaft zu erreichen.“

Immer wieder kommt sie auf die drohende Klimakatastrophe zu sprechen. „Unser Alltag ist angesichts der Klimakatastrophe todbringend, unsere Aufgabe ist es, darauf aufmerksam zu machen.“ Wissenschaftlern und Aktivisten würde nicht zugehört. Das Handeln der Regierung bezeichnet die junge Frau als „aktive Beihilfe zum Mord“.

Die Berliner Polizei hat nach einer internen Aufstellung bis Mitte November 450 Personen erfasst, gegen die nun Strafermittlungen durchgeführt werden. Die Delikte umfassen etwa Nötigung, Eingriff in den Straßenverkehr und Hausfriedensbruch. Die Aktivisten hatten sich Zutritt zum Bundestag und zum Verkehrsministerium verschafft und dort Feueralarme ausgelöst.

Die Letzte Generation selbst vergleicht sich mit den Protesten der Friedlichen Revolution in der DDR oder mit den Freedom Riders in den USA Anfang der 1960er Jahre. Diese hatten gegen Rassentrennung demonstriert, indem Schwarze und Weiße gemeinsam in Überlandbussen in die Südstaaten fuhren. Sie fanden immer mehr Unterstützer. 1961 beschloss die Interstate Commerce Commission, die Beschilderung von Segregationszonen aufzuheben.

Anders als die Freedom Riders hat die Letzte Generation ihre Forderungen schon etliche Male geändert. Erst wollten sie ein Gesetz gegen Lebensmittelverschwendung, aktuell fordern sie ein Tempolimit und ein Neun-Euro-Ticket.

Naturschutzring moniert Ablenkung vom eigentlichen Thema

Kai Niebert ist Präsident des Deutschen Naturschutzrings. Er vertritt knapp 100 Umwelt- und Klimaschutzorganisationen wie den BUND oder den Nabu – zusammen haben sie elf Millionen Mitglieder. Er mache sich Sorgen, sagt Niebert. „Seit Wochen diskutieren wir nicht mehr über die durch Waldbrände, Orkane und Dürren dringender werdende Klimakrise, sondern nur noch über Kartoffelbrei und Sekundenkleber.“ Es gebe eine politische und mediale Ablenkung vom eigentlichen Thema. Niebert hat nichts gegen zivilen Ungehorsam. Der habe für die Klimabewegung immer dazugehört. Aber: „Damit ziviler Ungehorsam etwas bewirkt, sollte er eine Brücke schlagen zwischen Aktionsform und Protestziel.“

Im Kampf um den Kohleausstieg etwa besetzten Aktivisten Abraumbagger und Kohlegruben. Bei den Protesten gegen die Castortransporte wurden Bahnschienen blockiert, damit die Transporte nicht rollen konnten. Wenn die Letzte Generation dagegen Kartoffelbrei auf Gemälde klatscht, um das Klima zu retten, ist so eine Verbindung nur schwer zu erkennen. Mit Skepsis sieht Niebert auch den Defätismus. Das Motto: Wenn sich nicht sofort alles ändert, sind wir verloren. „Diese Weltuntergangsstimmung motiviert niemanden.“

Und problematisch werde es, wenn jemand anfange anzuzweifeln, ob die Demokratie in ihrer Verfasstheit überhaupt in der Lage sei, den Klimawandel zu bekämpfen. Bei den Aussagen einzelner Akteure spürt Niebert durchaus das Verlangen nach einer starken Persönlichkeit, die endlich den Knoten durchschlage und Klimaschutz von oben durchsetzt.

„Wir sind die erste Generation, die den beginnenden Klimakollaps spürt, und die letzte Generation, die noch etwas dagegen tun kann“, schreibt die Bewegung auf ihrer Webseite. Fragt man Lina Johnsen in der WG, ob sie beim Gedanken an die Klimakrise auch mal abschalten könne, schüttelt sie den Kopf. „Für mich ist es kaum möglich, sich guten Gewissens, Banalitäten hinzugeben, weil ich gleichzeitig weiß, dass alles so verdammt dringend ist“, sagt sie. Sie habe Sorge vor einem Burnout.