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Woche der Wahrheit im Tarifstreit des Handels

Am Montag wird auch für Sachsen verhandelt. Die Fronten sind verhärtet. Alle warten auf einen Pilotabschluss.

Von Michael Rothe
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Im Rewe-Lager bei Nossen haben die Beschäftigten von Mittwoch bis zum Samstag das Trockensortiment lahmgelegt.
Im Rewe-Lager bei Nossen haben die Beschäftigten von Mittwoch bis zum Samstag das Trockensortiment lahmgelegt. © Claudia Hübschmann

Angesichts der alles überlagernden Streiks der Lokführergewerkschaft GDL geht die bereits drei Monate währende Tarifauseinandersetzung im Handel fast unter. Nach zuletzt ergebnislosen Gesprächen in Bayern und Nordrhein-Westfalen steht am Montag für Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen die 4. Gesprächsrunde an, dann für Berlin/Brandenburg. Beobachter sprechen von „Woche der Wahrheit“?

Zuvor hatte die Gewerkschaft Verdi ihre Aktionen im Einzel- und Versandhandel auf 37 Betriebe in Mitteldeutschland ausgeweitet. In Ost- und Mittelsachsen wurden auch knapp 20 Kaufland-Standorte, Ikea in Dresden und Espritfilialen bestreikt. Im Rewe-Auslieferungslager in Nossen war laut Verdi die Hälfte der 400-köpfigen Belegschaft von Mittwoch bis Sonnabend im Ausstand und hatte so die Auslieferung des Trockensortiments zum Erliegen gebracht.

Es gibt noch keine Blaupause, sprich einen Pilotabschluss wie in der Metall- und Elektroindustrie, in der ein Westbezirk Pflöcke für die Branche einschlägt und die der Rest der Republik mit Anpassungen übernimmt. Im Einzelhandel stehen alle Tarifregionen vor dem gleichen Dilemma: Da gibt es etwa die Lebensmittelketten, die in der Pandemie geöffnet waren und deren Chefs vor Lachen nicht in den Schlaf kommen. Und es gibt jene wie die Textilhändler, die nicht schlafen können, weil nach dem Lockdown ihre Existenz auf dem Spiel steht. Da Tarifabschlüsse – gerade in Zeiten der Personalnot – auch auf Unbeteiligte abfärben, ist der Kreis der Betroffenen groß.

Verdi verlangt u. a. 4,5 Prozent mehr Lohn und 45 Euro monatlich, ein rentenfestes Mindestentgelt von 12,50 Euro pro Stunde. Das lehnen die Arbeitgeber ab. Sie bieten für das erste Jahr nach zwei Nullmonaten ein Lohnplus von zwei Prozent und einmalig 300 Euro an, für das zweite Jahr 1,4 Prozent, für das dritte Jahr erneut zwei Prozent. In Betrieben, die von der Pandemie besonders betroffen waren, sollten die Erhöhungen zehn beziehungsweise sechs Monate später gezahlt werden können. Das wiederum weist die Gewerkschaft zurück.

„Den Arbeitgebern geht es um eine zeitlich befristete Differenzierung in einem Tarifvertrag: zwischen Unternehmen, die gut durch die Pandemie gekommen sind und Unternehmen, die von den Pandemieauswirkungen betroffen waren“, erklärt René Glaser, Chef des Handelsverbands Sachsen. Er findet es „sehr bedauerlich“, dass Verdi auf Warnstreiks setze, die immer Auswirkungen hätten, und sich in Mitteldeutschland einem solchen Abschluss verschließe.

Was spricht gegen die Argumente der Arbeitgeber? „Die Corona-Auswirkungen für den Handel gibt es aktuell nicht mehr, der Handel boomt in allen Teilbranchen“, hält Verdi-Verhandlungsführer Jörg Lauenroth-Mago dagegen. Gerade vom Lockdown betroffene Branchen würden mächtig zulegen. In der Krise hätten vier Fünftel des Einzelhandels sehr gute Umsätze gehabt, sagt der Gewerkschafter. Gelitten hätten Läden in der Innenstadt – aber auch die Beschäftigten durch Kurzarbeit mit 60 bzw. 67 Prozent des Nettoentgelts. Sie nochmals „zahlen“ zu lassen, macht keinen Sinn. Den Unternehmen sei durch öffentliche Gelder geholfen worden. Verdi habe angeboten, für Härtefälle gemeinsame Lösungen zu entwickeln, sagt er. Die Arbeitgeber müssten ein komplett neues Angebot unterbreiten, das ihre wirtschaftliche Lage widerspiegele.

Tatsächlich sitzt nach dem Auslaufen vieler Beschränkungen bei den Kunden das Geld locker. Das sorgt für gute Geschäfte. Laut Statistischem Bundesamt fiel die Halbjahresbilanz für den Einzelhandel positiv aus: Die Umsätze lagen real um 1,6 Prozent über dem Niveau des Vorjahreszeitraums. Vor allem der von Schließungen hart getroffene Textilhandel hätte profitiert, aber auch Waren- und Kaufhäuser, heißt es.

Gewerkschafter Lauenroth-Mago widerspricht dem Eindruck, dass die Streiks nicht wirklich wehtäten. Supermärkte kämen zeitweise mit sehr wenig Personal aus, räumt er ein, doch die Streiks sorgten für Störungen. Immer wieder komme es zu vorzeitigen Schließungen von Frischeabteilungen, weil etwa die Fleischtheke nicht nachgefüllt werde. Die hohe Streikbeteiligung belege die große Unzufriedenheit.

„Flächendeckende Streiks im Einzelhandel sind eher unwahrscheinlich“, sagt der Verdi-Mann. Dafür sei die Branche zu zersplittert. „Aber wir werden die Streiks weiter ausweiten“, kündigt er an. Trotz geringer Tarifbindung von 30 Prozent sollen die Verträge laut Verdi für alle 280.000 Beschäftigten der drei Länder gelten. Dazu müssten sich die Sozialpartner einig sein und Allgemeinverbindlichkeit beantragen.

Die Verhandlungen ziehen sich in allen Bundesländern hin. „Wir brauchen irgendwo einen Durchbruch“, sagt Lauenroth-Mago und: „Der könnte auch bei uns sein.“