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Wildtiere nutzten die Pandemie auf ihre Art

Die Menschen gingen in den Lockdown, die Tiere kamen und nutzten den neuen Freiraum. Das zeigt eine neue Studie, an der Görlitzer und Dresdner Wissenschaftler beteiligt waren.

Von Jana Mundus & Roland Knauer
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So wie sich das Verhalten der Menschen in der Pandemie veränderte, so veränderte es sich auch bei den Wildtieren weltweit. Wo die Menschen sich zurückgezogen haben, dort machten sich die Wildtiere breit.
So wie sich das Verhalten der Menschen in der Pandemie veränderte, so veränderte es sich auch bei den Wildtieren weltweit. Wo die Menschen sich zurückgezogen haben, dort machten sich die Wildtiere breit. © Xinhua

Die Tiere witterten ihre Chance. Weltweit veränderte sich das Verhalten der Menschen im Corona-Lockdown der ersten Monate des Jahres 2020. Diese Änderungen hatten einen Effekt auf die Tierwelt.

Wildlebende Säugetiere legten während der strengen Lockdowns im Schnitt bis zu 73 Prozent längere Strecken zurück und hielten sich 36 Prozent näher an Straßen auf. Diese Ergebnisse sind Teil einer internationalen Studie, an der mit Justin Calabrese auch ein Wissenschaftler vom Görlitzer Casus-Institut beteiligt ist. Casus ist das Center for Advanced Systems Understanding am Helmholtz-Zentrum Dresden-Rossendorf (HZDR). Insgesamt 175 Forschende analysierten für das Projekt „Antropause“ globale Daten von Landsäugetieren, die mit GPS-Geräten verfolgt wurden.

„Es gab viele Medienberichte, dass sich die Natur während dieser ersten Lockdowns erholte“, sagt Studienleiterin Marlee Tucker, Ökologin an der Radboud-Universität Nijmegen in den Niederlanden. Beispielsweise streiften Pumas durch die Straßen von Santiago in Chile, „Wir wollten aber wissen: Gibt es dafür wissenschaftliche Beweise? Oder waren die Menschen einfach aufmerksamer, während sie zu Hause waren?“

Es gäbe nur sehr selten eine Chance für solch ein natürliches Experiment auf globaler Ebene, mit dem gezeigt werden kann, wie Tiere ihr Bewegungsmuster in Reaktion auf eine Verhaltensänderung des Menschen anpassen, ergänzt Justin Calabrese vom Casus. „Das war eine einmalige Gelegenheit, weil die Welt während der ersten Phase der Pandemie quasi stillstand.“ Dank des globalen Netzwerks von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sei es möglich gewesen, die Reaktionen der Tierwelt weltweit beobachten und auswerten zu können.

Neue Freiräume besetzt

Das Forschungsteam sammelte Daten zu den Bewegungsmustern von 43 Arten von auf dem Land lebenden Säugetieren aus der ganzen Welt. Insgesamt wurden mehr als 2.300 Individuen erfasst: von Elefanten und Giraffen bis hin zu Bären und Hirschen. Die Wissenschaftler verglichen den Aktionsradius der Säugetiere während des ersten Zeitraums des Lockdowns von Januar bis Mitte Mai 2020 mit dem derselben Monate des Vorjahrs. „Wir konnten feststellen, dass die besenderten Tiere während der strengen Lockdowns in einem Zeitraum von zehn Tagen bis zu 73 Prozent längere Strecken zurücklegten als im Jahr zuvor, als es noch keine Beschränkungen gab“, erklärt Tucker.

Gleichzeitig verkürzten sich die Wege der Tiere in der unmittelbaren Umgebung größerer Städte deutlich und die Vierbeiner wagten sich dort durchschnittlich 36 Prozent näher an Fahrbahnen heran als vor der Pandemie. Offensichtlich hatten die Tiere weniger Angst vor dem erheblich dünneren Verkehr und auch vor Menschen.

Weil ihre Fluchtdistanz niedriger wurde, ließen die Tiere die wenigen Zweibeiner, die in diesen Zeiten noch unterwegs waren, näher an sich heran, flohen seltener und sparten so viel Energie. Außerhalb des Speckgürtels der Ballungsgebiete erkundeten die Tiere dagegen viele neue Gebiete, die vor der Pandemie unerreichbar waren, weil sie zum Beispiel hinter Straßen mit dichtem Verkehr lagen, die die Tiere mieden.

Unterwegs in der Anthropause

Eine weitere Erklärung: Während der strengen Lockdowns hielten sich weniger Menschen im Freien auf, was den Tieren die Möglichkeit gab, neue Gebiete zu erkunden. „Im Gegensatz dazu haben wir in Gebieten mit weniger strengen Lockdowns beobachtet, dass die Tiere kürzere Strecken zurücklegten.

Dies könnte damit zusammenhängen, dass die Menschen während der Lockdowns ermutigt wurden, in die Natur zu gehen. Infolgedessen waren einige Naturgebiete stärker frequentiert als vor der Covid-19-Pandemie“, sagt Thomas Müller vom Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrum und der Goethe-Universität Frankfurt, der die Studie zusammen mit Tucker konzipiert hat.

Wildschwein mit Frischlingen unterwegs in neues Revier.
Wildschwein mit Frischlingen unterwegs in neues Revier. © Karsten Nitsch

Die „Anthropause“ bot eine einzigartige Gelegenheit, die Auswirkungen einer abrupten Veränderung der menschlichen Präsenz auf die Tierwelt zu untersuchen. „Uns ist es gelungen, evidenzbasiert zu belegen, dass weltweit Säugetierarten ihr Verhalten während der Pandemie verändert haben“, sagt Calabrese. Das ließe für die Zukunft hoffen, ergänzt Studienleiterin Tucker. „Das bedeutet im Prinzip, dass die Tiere direkt auf Veränderungen des menschlichen Verhaltens reagieren können.“

Dieses Ergebnis findet auch Klaus Hackländer interessant. Der Wildtierbiologe, der neben seiner Professur an der Universität für Bodenkultur Wien auch Vorstand der Deutschen Wildtier Stiftung in Hamburg ist, untersucht mit seiner Gruppe den Einfluss solcher Störungen und auch deren Ende auf das Verhalten von Wildtieren.

„Zu Beginn einer Jagdsaison verstecken sich Hirsche und Rehe viel mehr vor Menschen, als nach dem Ende der Jagdzeit“, nennt Klaus Hackländer ein Beispiel. Durch die neue Studie gäbe es nun Hinweise, wie sich die Beziehungen zwischen Wildtieren und Menschen verbessern lasse. Dabei denkt der Wildtierbiologe gar nicht so sehr an den Straßenverkehr, sondern an Menschen auf der Jagd.

Keine Angst vor bunter Sportbekleidung

Vermeiden können die Tiere diese Gefahr, wenn sie sich gut verstecken. Das wiederum kann fatale Folgen für die Natur haben. Gehen Hirsche aus Angst vor dem Jäger nicht mehr auf offene Wiesen fressen, nagen sie im Wald an den Trieben junger Bäume. Wird der Jagddruck verstärkt, leben die Tiere noch heimlicher und die Situation verschlimmert sich weiter. An Intervalljagden, die nur an wenigen Wochen im Jahr stattfinden, könnten sich die Wildtiere schlechter anpassen, sagt Hackländer.

Das Freizeitverhalten von Menschen kann das Leben der Tiere auch nach der Pandemie erleichtern. Bleiben sie auf den Wegen und halten ihre Hunde an der Leine, verwechseln Hirsche und Co. sie nicht mehr mit Jägern – und verschwenden ihre Energie seltener, weil sie vor harmlosen Spaziergängern fliehen.

Schließlich können die Tiere Jäger und Jogger sehr gut voneinander unterscheiden, haben Untersuchungen Hackländers gezeigt: Schleicht ein Mensch ähnlich wie ein Jäger, am besten in Tarnkleidung durch die Gegend, fliehen Hirsche viel eher als vor einem Jogger, der in bunter Sportkleidung offen auf einem Weg durch die Landschaft läuft.