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Wo Lenin noch immer wacht

Wünsdorf bei Berlin war eine verbotene Stadt – erst der Deutschen und dann der Russen. Vor allem ist es ein Ort der vertanen Chancen, zeigt ein Bildband.

Von Bernd Klempnow
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Erinnerungen an eine einst siegreiche Armee, die mit der Zeit verblassen.
Erinnerungen an eine einst siegreiche Armee, die mit der Zeit verblassen. © Johann Karl

Frühlingsrollen und gebackene Schweinebällchen süß-sauer statt deutschem Gulasch und russischen Piroggen. Das China-Restaurant „Peking Garten“ lädt derzeit in ein Gebäude von Wünsdorf ein, das über Jahrzehnte Armee-Kommandanten als Villa diente: erst kaiserlichen Kriegern, dann der Reichswehr und der Wehrmacht sowie ab 1945 bis 1994 der sowjetischen Armee. 

Ironie der Geschichte: Der „Peking Garten“ hat jeden Tag offen, das ausgedehnte Armeeareal bei Zossen, südlich von Berlin, war einst nur mit Sonderausweisen zugänglich. „Die verbotene Stadt“ nennt denn auch ein ehemaliger Bewohner seine Spurensuche an diesem gewichtigen militärischen Standort, auch wenn der Titel eigentlich mit der berühmten Palastanlage der chinesischen Hauptstadt verbunden ist. 

Dem Verlag sei der Marketing-Gag verziehen. Stellt doch das Buch erstmals umfassend in faktenorientierten Texten, Lageplänen, historischen und aktuellen Fotografien die verblüffend wendungsreiche wie folgenschwere Historie von Wünsdorf und Umgebung dar – die kaum einer kennen dürfte. Hier ist „Geschichte überschrieben worden“, formuliert der Autor und belegt es auf 192 Seiten. „Die verbotene Stadt“ ist im Kerber Verlag erschienen und kostet 40 Euro.

Rückblick im Zeitraffer: Gut 120 Jahre nutzten Militärs das Gebiet um Wünsdorf. Übungsplätze etwa für Pioniere und Gardekorps sowie Versuchsplätze für Waffen waren der Anfang. Später, in den 30er-Jahren, forschte hier auch Wernher von Braun zu Raketenantrieben, Kernphysiker trieben Uranprojekte der Nazis voran. 1910 entstand die erste Infanterieschule, ab 1914 wurde eine Armeesportschule mit einem schlossartigen-neobarocken Haupthaus, Turnhallen und Schwimmbädern sowie ein Kriegsgefangenenlager für muslimische Insassen gebaut.

Um 1920 erhielt die Heeressportschule Wünsdorf das Freibad. Das Foto entstand 1994 – heute ist das Bad verfallen.
Um 1920 erhielt die Heeressportschule Wünsdorf das Freibad. Das Foto entstand 1994 – heute ist das Bad verfallen. © Detlev Steinberg

Für Letztere errichtete man sogar die erste Moschee Mitteleuropas. In den großzügigen Sportanlagen bereiteten sich 1936 deutsche Olympia-Teilnehmer vor. Immer größer wurde die Anlage, als das Oberkommando des Heeres und ab 1938 das der Wehrmacht hier ihren Sitz bekamen. Ein gigantisches, unterirdisches Geflecht von bombensicheren Bunkeranlagen entstand. Alle Fernmeldeverbindungen liefen hier zusammen, machten die Bunkerwelt zum „Nervensystem“ der deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg.

1945 marschierte die Rote Armee ein, die den Standort ausbaute. Mit gut 40.000 Einwohnern war die Garnison Wünsdorf die größte der sowjetischen Armee auf deutschem Boden. Auf sechs Quadratkilometern war ein autarkes Leben möglich. Es gab eine Brotfabrik, ein eigenes Krankenhaus, Schulen, Verkaufsstellen, Wohnhäuser. Die Bewohner hatten ein eigenes Radio und Fernsehen. Im Theater mit einer Bühne, die der großer Opernhäuser gleicht, gastierte regelmäßig sogar das Bolschoi-Theater. Ab 1951 gab es eine tägliche Zug-Direktverbindung nach Moskau. 

Das acht Meter große Lenin-Denkmal am neobarocken Haupthaus ist das größte in Deutschland – war ein Geschenk der DDR.
Das acht Meter große Lenin-Denkmal am neobarocken Haupthaus ist das größte in Deutschland – war ein Geschenk der DDR. © Johann Karl

Und die letzten Zahlen: Beim Abzug der Russen hinterließen diese gut 100.000 Stück Munition und fast 30 Tonnen Munitionsschrott, tonnenweise Chemikalien und Altöle sowie Asbestabfälle. Es gibt heute noch Bereiche wie den Übungsplatz bei Kummersdorf-Gut, die nicht betreten werden dürfen, weil sie noch nicht beräumt sind und es vermutlich, der Gefahren wegen, auch nicht mehr werden.

All dies in den Fokus zu nehmen und Zusammenhänge nicht ideologisch aufzuladen, sondern wertfrei darzustellen, ist der Verdienst von Johann Karl. So weckt er Interesse fürs Areal und das sich hier widerspiegelnde, bislang eher unbeachtete, aber besondere Kapitel deutscher Geschichte. Wohl wurden viele Häuser schon saniert und Verwaltungen angesiedelt. Doch ein Großteil der architektonisch beeindruckenden, denkmalgeschützten Gebäude mit teils Originaleinbauten wie das Offiziers-Casino, das Hauptgebäude mit dem Lenin davor und die Kulturhäuser steht leer. 

Der Rundbau von 1976 am Haupthaus wächst heute zu. Hier zeigte ein dreißig mal sieben Meter großes Diorama die Schlacht um Berlin.
Der Rundbau von 1976 am Haupthaus wächst heute zu. Hier zeigte ein dreißig mal sieben Meter großes Diorama die Schlacht um Berlin. © Johann Karl

Ein Verein bietet rege angenommene Führungen in ihnen sowie durch die Bunker an. Schon beim Lesen des Buches, vor allem aber nach dem dadurch angeregten Besuch war klar: Es ist unverständlich, dass diese wertvolle Bausubstanz allmählich verfällt und dieser denkwürdige Ort keine humanistische Neuprofilierung erfährt.