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Im Bezirk Liberec leben viel mehr ukrainische Flüchtlinge als im Kreis Görlitz

Weit über 20.000 Kriegsflüchtlinge sind vor dem russischen Angriffskrieg in den Bezirk Liberec geflohen. Auch Spitzen-Wissenschaftler wie Olga Mazurová.

Von Petra Laurin
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Zwei Jahre tobt der Krieg nun schon in der Ukraine. Die Einwohner fliehen, viele nach Tschechien - so auch Spitzen-Wissenschaftlerin Olga Mazurová (hier mit ihrem Betreuer an der TU Liberec).
Zwei Jahre tobt der Krieg nun schon in der Ukraine. Die Einwohner fliehen, viele nach Tschechien - so auch Spitzen-Wissenschaftlerin Olga Mazurová (hier mit ihrem Betreuer an der TU Liberec). © dpa/Laurin

Die schwer getroffene Ukraine verliert zurzeit zahlreiche ihrer Spitzenwissenschaftler. Olga Mazurová ist ein Beispiel dafür. Die 32 Jahre alte Physikerin stammt aus der zentralukrainischen Stadt Dnipro. Auch dort schlagen seit dem Angriff Russlands auf das Nachbarland vor gut zwei Jahren Raketen ein, werden Häuser zerstört. Menschen verletzt oder gar getötet.

Doch für Olga Mazurová hat der Krieg schon früher begonnen. Nämlich 2014 – damals annektierte Russland völkerrechtswidrig die ukrainische Halbinsel Krim. Außerdem begann ein Krieg in der Ostukraine. Schon damals begannen junge Ukrainer die östlichen Gebiete und auch das Land insgesamt zu verlassen.

Olga Mazurová ging erst, als die ganze Ukraine zum Ziel wurde. Sie ist aber auch ein Beweis dafür, dass die Wissenschaft geografisch weit entfernte Orte – wie die Ukraine, Tschechien, Deutschland und Japan – miteinander verbinden kann. Seit zwei Jahren lebt sie im tschechischen Liberec (Reichenberg).

Ehemann ist noch in Dnipro

„Olga ist eine der Wissenschaftler, die an der Liberecer Uni einen Platz bekommen haben, um ihre Forschung weiter fortsetzen zu können“, sagte Radek Pirkl, Sprecher der Universität. Seit dem Beginn des Krieges haben hier rund 100 Ukrainer einen Platz gefunden. Sie seien nun die stärkste Ausländergruppe an der Hochschule. An den sieben Fakultäten der Universität Liberec studieren 6.800 junge Menschen, davon etwa zehn Prozent Ausländer.

Olga Mazurová hatte an der Universität Donezk studiert. Sie begann dort mit ihrer Doktorarbeit. Doch seit 2014 wurde die Lage schwierig. „Donezk wurde schließlich von Russland annektiert. Und das Donezker Institut für Physik und Ingenieurwesen der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine verordnete uns einen erzwungenen akademischen Urlaub“, erzählt Wissenschaftlerin Mazurová.

Die Abwanderung junger Akademiker und Studenten habe sich nach der Invasion der Russen vor zwei Jahren verstärkt. „Nur alte Menschen bleiben, wie meine 60-jährige Mutter. Sie kann sich nicht vorstellen, irgendwo anders anzufangen“, sagt Olga.

Auch sie hat sich auf den Weg gemacht. In Liberec habe sie Ruhe, Sicherheit gefunden und die Gelegenheit, ihre wissenschaftlichen Forschungen zur Ferroelektrizität fortzuführen. Das ist ein Bereich der Elektrotechnik; zur Anwendung kommt Ferroelektrizität vor allem bei Keramikkondensatoren. Die Wissenschaftlerin hatte zudem schon in Breslau geforscht und war in Darmstadt tätig. „Ihre Übersiedlung nach Liberec wurde durch ein europäisches Stipendienprogramm für die Ukraine ermöglicht“, sagt Pavel Márton, der Olga an der Fakultät für Mechatronik, Informatik und interdisziplinäre Studien betreut.

Die Universität Liberec ist für die Wissenschaftlerin seit zwei Jahren der Stammarbeitsplatz. Nun wartet auf sie Praktika im deutschen Hessen und in Japan. „Von dort werde ich nach Liberec zurückkehren“, fügt Olga hinzu. Die Physikerin lernt fleißig Tschechisch, liest tschechische Bücher, entdeckt Liberec und seine Umgebung. „Jetzt suchen wir, mein Mann und ich, nach einer Möglichkeit, dass er zu mir kommen kann. Das ist nicht einfach, weil die Ukraine derzeit fast keine Männer aus dem Land lässt. Er arbeitet in Dnipro in der strategisch wichtigen Bergbauindustrie“, so Olga.

Über 22.000 Ukrainer in der Region

Ein weiterer Wissenschaftler, der nun in der Jeschkenstadt seine wissenschaftliche Arbeit fortsetzt, ist Sergei Petrushenko aus dem ukrainischen Charkiw. Die Stadt war vor allem in den ersten Kriegswochen besonders heftig umkämpft. Viele Menschen harrten über Wochen in den Schächten der U-Bahn aus, weil die als relativ sicher bei Angriffen gelten.

Sergei Petrushenko hat nun ebenfalls in Liberec einen Platz gefunden. „Er ist tätig am Institut für Nanomaterialien, fortgeschrittene Technologien und Innovation (CXI) der Universität“, so Pirkl. Auch er erhielt ein Stipendium von der Europäischen Kommission. Die meisten ukrainischen Studenten, etwa ein Drittel von ihnen, gibt es an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften.

Ende 2021 lebten in der Region Liberec an die 8.000 Ukrainer. Ein Jahr später waren es bereits über 26.000 Menschen. Doch manche kehrten in ihre Heimat zurück oder sind weitergereist. Im Dezember 2023 waren es 22.279 – damit 55 Prozent aller in der Region gemeldeten Ausländer. Und viel mehr als im Kreis Görlitz, in dem es reichlich 3.000 sind.

Rund 6.000 von ihnen haben einen Job. „Am häufigsten als Montagearbeiter in der Industrie oder als Bediener von Maschinen im Kunststoff- oder Metallsektor“, so Kateřina Sadílková, Direktorin der regionalen Zweigstelle des Arbeitsamtes in Liberec. Ukrainer helfen auch auf dem Bau und als Reinigungskräfte in Hotels und Firmen. Sie sind im Liberecer Krankenhaus und beim Hersteller von Hygieneprodukten Drylock in Hradek nad Nisou (Grottau) beschäftigt. „Den Weg zu besseren Arbeitsplätzen bremsen sprachliche und kulturelle Barrieren“, ergänzt Sadílková.

Hilfsbereitschaft lässt nach

Mehr als 2.300 Ukrainer sind im Zuge des Krieges im Bezirk Jablonec (Gablonz) gelandet. Das tschechisch-ukrainische Zentrum Krajanka hilft ihnen seit 2022 bei der Integration. „Die größten Probleme, die wir versuchen zu lösen, sind fehlende Verankerung der Jugendlichen“, beschreibt die Mitarbeiterin des Zentrums Veronika Iblová.

Das Zentrum bietet soziale, berufliche und psychologische Beratung, Tschechisch- und Englischunterricht, hat einen Jugendclub und organisiert Freizeitaktivitäten. Unterstützt wird es von der Stadt, der Region Liberec, der Organisation IOM Czechia und vielen Freiwilligen. „Leider ist die ursprüngliche Hilfswelle abgeflaut; auch Freiwillige werden immer weniger“, bedauert Veronika Iblová.

In ganz Tschechien leben wohl rund 360.000 Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine Sie seien inzwischen die größte Minderheit im Land, heißt es. (mit ihg)