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Bei Zittau entsteht eine Wohngemeinschaft für "Systemsprenger"

Ein Hörnitzer setzt mit seiner Firma ein deutschlandweit sehr seltenes Wohnprojekt um. Maximal vier auf die schiefe Bahn geratene Jugendliche sollen südlich von Zittau fit für das Leben gemacht werden.

Von Frank-Uwe Michel
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Matthias Ender und Schäferhundmischling Pjero wollen sich in einer Kleinstwohngruppe um jugendliche Systemsprenger kümmern.
Matthias Ender und Schäferhundmischling Pjero wollen sich in einer Kleinstwohngruppe um jugendliche Systemsprenger kümmern. © Rafael Sampedro/foto-sampedro.de

Oft kein Kontakt mehr zur Familie, in der Schule ein Problemfall und auch noch mit dem Gesetz in Konflikt - Jugendliche mit dieser Vita stehen im Mittelpunkt von Matthias Enders beruflichem Engagement. Der 42-jährige Hörnitzer kümmert sich um schwerste Fälle. Um Heranwachsende, die im deutschen Sozialsystem ganz nach hinten rutschen - "Systemsprenger", die auf der Leiter des Lebens auf der untersten Sprosse stehen und in manchen Fällen die noch nicht mal erreichen.

Südlich von Zittau - den genauen Ort möchte er nicht nennen - startet der staatlich anerkannte Erzieher, der auch Ausbildungen zum Sozialkompetenztrainer und Erlebnispädagogen in der Tasche hat, in Kürze ein besonderes Projekt. In einer aktuell aus einer Wohnung bestehenden Kleinstwohngruppe kümmert er sich dann um zwei Jugendliche, eine Erweiterung auf bis zu vier Jugendliche in einer weiteren Wohnung ist bis zum Herbst geplant. Das Ziel: Sie gesellschaftsfähig machen und ihnen Fähigkeiten vermitteln, damit sie im Optimalfall als Erwachsene selbstbestimmt durchs Leben gehen können.

Ender ist gelernter Dachdecker und entsprechend handwerklich begabt. Das kommt ihm jetzt auch als Erzieher zugute. Denn bei den unterschiedlichsten Gelegenheiten anpacken ist in seinem neuen Job ebenso gefragt. "Berufe im Sozialbereich habe ich schon immer spannend gefunden. Dass es nun die Systemsprenger geworden sind, hat sich so entwickelt", blickt er zurück. Schon seit Längerem führt Ender Camps für Mütter, Väter und deren Kinder durch, die sich abseits der üblichen Familienidylle auf einem ganz anderen Level begegnen. Ebenfalls im Angebot: Lagerfeuer-Romantik, Sozialkompetenztrainings, Trekkingtouren - "immer lernen sich die Teilnehmer auf völlig anderen Ebenen kennen. Und pädagogisch kann ich ihnen eine wertvolle Hilfe sein."

Zur intensivpädagogischen Betreuung jugendlicher Systemsprenger gehört auch Hilfe zur Bewältigung des Alltags in den unterschiedlichsten Situationen.
Zur intensivpädagogischen Betreuung jugendlicher Systemsprenger gehört auch Hilfe zur Bewältigung des Alltags in den unterschiedlichsten Situationen. © selbst erleben

Ab 2019 machte das der Hörnitzer im Nebenjob. Anfang 2020 wollte er hauptberuflich durchstarten, doch Corona bremste. Inzwischen aber hat er sich selbstständig gemacht. "Selbst Erleben" nennt sich seine Firma, bietet Krisenintervention in der Kinder- und Jugendhilfe an. Ender hat sich ein deutschlandweites Netzwerk aufgebaut. Die Jugendämter der Landkreise sind oft dankbar, wenn er mit seiner Expertise in kritischen Fällen helfen kann. Sein Credo: "Die jungen Leute müssen nicht nur eine zweite, sondern auch die dritte oder vierte Chance bekommen." Denn das alles überlagernde Element sei Perspektivlosigkeit. "Die zu überwinden ist ein schwieriger, extrem steiler und auch steiniger Weg." So betreut er zum Beispiel ein 16-jähriges Mädchen, gegen das in 18 Deliktfällen verhandelt werden soll. Insgesamt beläuft sich das Altersspektrum der Kinder und Jugendlichen auf sieben bis 15 Jahre. Bis zu 18 Jahren ist die Betreuung gesetzlich möglich.

Was bisher ambulant war, soll ab Mai in einer intensivpädagogischen Kleinstwohngruppe in einer neuen, höheren Qualität fortgeführt werden. "In überschaubarem Umfeld, mit geringem Abstand und auf Du-Basis erreicht man die jungen Leute am besten", hat der Hörnitzer im Laufe seiner Arbeit festgestellt, den Beleidigungen, Schubsereien, nach ihm geworfene Steine, aber auch Schrammen am Auto nicht mehr schrecken. Er will authentisch sein, aber auch konsequent. "Die Chemie zwischen Betreuer und Jugendlichem muss stimmen - auch wenn es zwischenzeitlich manchmal ruckelt."

Matthias Ender erklärt sein Projekt: Seiner Meinung nach sollten problembeladene Jugendliche nicht nur eine zweite, sondern auch die dritte oder vierte Chance bekommen, um ihre Perspektivlosigkeit zu überwinden.
Matthias Ender erklärt sein Projekt: Seiner Meinung nach sollten problembeladene Jugendliche nicht nur eine zweite, sondern auch die dritte oder vierte Chance bekommen, um ihre Perspektivlosigkeit zu überwinden. © Rafael Sampedro/foto-sampedro.de

Ender hat eine Wohnung angemietet, in der er den Systemsprengern eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung anbieten will. Deshalb werden neben den Jugendlichen auch die zugehörigen Pädagogen mit einziehen. Ziel sei ein "familienanaloges Wohnen", wie er erklärt. "Es geht um die Gestaltung des gesamten Tages mit all seinen Facetten und Notwendigkeiten." Kochen genauso wie einkaufen, Beschäftigung, Bus fahren oder mit anderen Menschen kommunizieren.

In den nächsten Wochen, hofft der Hörnitzer, treffen die noch fehlenden Genehmigungen für sein Wohnprojekt ein. Ausschlaggebend ist das Okay des Landesjugendamtes. Schon jetzt aber ist das Interesse an den zu vergebenden Plätzen groß. Immer wieder bekommt Ender Anrufe oder Mails von Behörden, die problembeladene Jugendliche in seine Obhut geben wollen. Für ihn nicht überraschend: "Kleinstwohngruppen mit dieser Ausrichtung sind in Deutschland selten." Wobei wegen des hohen Aufwandes ein auf den jeweiligen Klienten passgenau zugeschnittenes Konzept erarbeitet wird, zusammen mit einem Kostenplan. Erst dann zeichnet sich ab, ob das betreffende Amt den vorgezeichneten Weg mitgehen kann und will.

Sich aufeinander einlassen und Vertrauen aufbauen: Das Verhältnis von Betreuern und Systemsprengern ist ganz wichtig.
Sich aufeinander einlassen und Vertrauen aufbauen: Das Verhältnis von Betreuern und Systemsprengern ist ganz wichtig. © selbst erleben

Noch ist Matthias Ender Alleinunterhalter in seiner Firma. Spätestens wenn die Kleinstwohngruppe in Betrieb geht, müssen weitere Mitarbeiter her. Insgesamt drei ausgebildete Erzieher sucht der Hörnitzer, darüber hinaus greift er auf ein Netzwerk von Honorarkräften zurück. Wobei ihm klar ist, dass der Job nicht einfach ist. "Lob gibt es leider nur selten. Deshalb ist es wichtig, sich Erfolgserlebnisse in der Arbeit mit den Jugendlichen selbst zu schaffen." Für ihn, betont er, sei die Betreuung von Systemsprengern längst "eine Herzensangelegenheit".