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Familienkompass

Sarina und ihre beiden Papas

In Sachsen werden jährlich Hunderte Kinder adoptiert. Die Familie einer kleinen Dresdnerin und ihrer Väter zeigt, dass das keine Tragödie sein muss.

Von Franziska Klemenz
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Lorenz Fellner* und Gabriel Winkelmann* haben Sarina* vor drei Jahren in Dresden adoptiert: „Wir verdanken der Stadt unser Kind. Sie soll wissen, woher sie kommt.“
Lorenz Fellner* und Gabriel Winkelmann* haben Sarina* vor drei Jahren in Dresden adoptiert: „Wir verdanken der Stadt unser Kind. Sie soll wissen, woher sie kommt.“ © kay herschelmann

Überall ist Licht. Die Blumen am Rasenrand leuchten im Sonnenschein noch röter als die Himbeeren auf der Torte, die weiß lackierten Gartenstühle heben sich wie Punkte eines Pilzes von den Nadelzweigen ab. Selbst in die frisch bezogenen Räume dringen Strahlen, werfen ihr Licht auf wolkenweiße Waben von fast leeren Regalen. Gabriel Winkelmann* und Lorenz Fellner* mögen Licht. Im Haus, im Garten, im Leben. Vor einem halben Jahr haben sie ihrer heute dreijährigen Tochter erzählt, dass sie adoptiert ist. „Wir wissen nicht, wie viel Sarina* verstanden hat. Sie hatte keine Fragen, hat aber sehr aufmerksam zugehört“, sagt Lorenz.

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Zum Schutz der Mutter wurden in diesem Artikel alle Namen geändert. „Wir haben großen Respekt vor ihrer Entscheidung und wollen nicht, dass jemand sie anfeindet“, sagt Lorenz. „Außerdem ist es Sarinas Geschichte.“ Immer wieder wollen sie ihr sagen, was ist: „Du warst ein Wunschkind, wir haben uns riesig gefreut, als du kamst. Du hast auch eine Mutter und die wollte das Beste für dich, konnte sich aber nicht so gut um dich kümmern und hat dann uns für dich ausgesucht.“

Das Dresdner Jugendamt, das die Adoption vermittelt hat, rät Eltern zu Offenheit. „So soll der Klassiker vermieden werden, dass irgendeine Tante sich bei Kaffee und Kuchen verquatscht, wenn das Kind 16 ist“, sagt Lorenz. „Da gab es oft traumatische Erlebnisse. Heutzutage will man weg von der jahrzehntelangen Geheimhalterei.“

Adoption war "ethisch die schönste Lösung"

Lorenz lässt ein Messer in den Kuchen sinken und zerteilt die Beeren. Selbst die Schatten schmiegen sich an diesem Julimittag weich in die Kulisse. Vor wenigen Monaten ist die Familie in das Haus am Rande einer deutschen Großstadt gezogen, in dem Lorenz groß geworden ist. Das Paar hat gerne in Stadtzentren gewohnt. Berlin, New York, ohne Garten, mit Bars. Das ist vorbei. „Wir wagen das Experiment Familienhaus mit Garten“, sagt Lorenz, dessen Haare unentschlossen wirken, wohin sie stehen möchten. Gabriel hockt auf einem Holzstuhl unter einem Schirm, dem noch der Sockel fehlt, blinzelt durch runde, schwarz-goldene Brillengläser ins Licht.

Der 44-Jährige, der aus dem Nahen Osten stammt, kennt seinen 39-jährigen Mann aus der Kulturszene, in der sie arbeiten. Seit elf Jahren sind sie zusammen, dass sie Kinder wollen, war früh klar. „Ich wusste mit 17, dass ich ein Kind möchte“, sagt Gabriel, „dachte nur, es wäre für Schwule so schwer zu adoptieren.“ Adoption war beiden am liebsten: „Nicht als Notlösung, sondern auch ethisch die schönste Lösung.“ In Dresden hören sie vom fortschrittlichen Ruf des Jugendamts, das gleichgeschlechtlichen Paaren schon vor der Öffnung der Ehe ermöglicht, Kinder zu adoptieren.

Wenn geltende Gesetze und Standards wie das Mindestalter des Adoptivpaars von 25 und 21 Jahren erfüllt sind, steht die Adoptionsvermittlungsstelle nach eigener Aussage „generell allen Adoptivbewerberinnen und -bewerbern offen gegenüber“. Wichtig sei, dass die Herkunftseltern zustimmen. Die meisten der etwa 20 Kinder, die das Dresdner Jugendamt im Jahr vermittelt, kommen zu heterosexuellen Paaren, die Anzahl der homosexuellen nimmt aber langsam zu. 2019 kamen vier Kinder zu gleichgeschlechtlichen Eltern.

Treffen mit erwachsenen Adoptivkindern

Gabriel und Lorenz stellen 2016 den Antrag, müssen nach einem ersten Gespräch einen 30-seitigen Fragebogen ausfüllen. Sie besuchen Seminare, treffen erwachsene Adoptivkinder, Mitarbeiter des Jugendamts kommen vorbei. Man prüft, ob die Bewerber bereit sind, Elternverantwortung zu übernehmen. Dabei zählen Finanzen, Gesundheit, Wohn- und Lebensbedingungen, ein einwandfreies Führungszeugnis, die Stabilität von Persönlichkeit und Beziehung, die Motivation für die Adoption.

„Es war interessant“, sagt Gabriel. „Auch intensiv und emotional“, führt Lorenz fort. Wie Züge an einem Bahngleis gehen die Sätze der beiden ineinander über, ohne dabei aufeinanderzuprallen. „Wir haben viel nachgedacht und gesprochen“, sagt Gabriel. „Ein adoptiertes Kind soll kein zweites Mal die Verlusterfahrung machen, sondern in ein sicheres Zuhause kommen.“ Auch wenn das Dresdner Jugendamt meist Säuglinge vermittelt, gibt es doch einen Bruch. Die Töne, die Geschmäcker, sie waren andere im Bauch der Mutter. Nach einem guten halben Jahr gelten Gabriel und Lorenz als akzeptierte Bewerber, nach einem weiteren halben Jahr treffen sie eine schwangere Frau, die ihr Kind zur Adoption freigeben möchte. Als es auf der Welt ist, will sie es behalten. „Wir wussten, dass der Moment ein gefährlicher für die Adoptiveltern ist, was ja auch verständlich und gut ist. Wir haben uns für sie gefreut, aber es war natürlich hart.“

Ein halbes Jahr später ist Gabriel für die Arbeit im Ausland, als an einem Montagmorgen Lorenz‘ Handy klingelt. „Da kam der Anruf, das war wie aus dem Bilderbuch: Das Kind ist da.“ Eine Stunde später hält er im Krankenhaus sein Baby auf dem Arm.

Sarina ist eins von 220 Kindern, die in Sachsen 2017 adoptiert worden sind.
Sarina ist eins von 220 Kindern, die in Sachsen 2017 adoptiert worden sind. © kay herschelmann

Gabriel nimmt den nächsten Flieger, die Woche über sind die beiden jeden Tag auf Station. Der Mutter begegnet die neugeborene Sarina nicht mehr, Pflegerinnen bereiten die Väter auf sie vor. „Sie haben alles erklärt, haben uns einen Crashkurs gegeben“, sagt Gabriel. Die beiden lernen, wie man wickelt, die Flasche gibt, Nähe aufbaut. „Es ist komisch, wenn die Schwester sagt: ‚Jetzt T-Shirt aus und leg das Baby auf die Brust.‘ Das macht man aber so. Wir hatten so viel Glück mit Sarina. Sie hatte so viel gute Laune, als hätte sie das Gefühl gehabt, wir sind im Schock. Sie war stark und sie hatte diesen Wunsch zu leben.“

Die Mutter, meinen die beiden, habe während der Schwangerschaft gut auf sich geachtet. „Sarina kam sehr ruhig und gelassen auf die Welt. Sie war besser auf uns vorbereitet als umgekehrt“, sagt Lorenz. Nach fünf Tagen holen sie ihr Kind nach Hause. „Dann war es so klar: Wir sind eine Familie, sie ist unser Kind“, sagt Gabriel, Lorenz fährt fort: „Wir konnten ihr zeigen: Hier, das wird jetzt dein Leben.“

Wenn Lorenz von der Geschichte der Familie erzählt, sagt er alle paar Sätze beiläufig und doch eindrücklich: „Wir hatten natürlich Glück.“ Glück mit den leiblichen Eltern, Glück mit Sarina, Glück ganz generell. „Ich denke, uns ging es genauso wie leiblichen Eltern: Gleichzeitig das Gefühl, man war schon immer verbunden, und der Schock, dass auf einmal dieser Mensch da ist. Ich denke, dass wir Sarina genauso schnell geliebt haben wie leibliche Eltern ihre Kinder lieben“, sagt er, und sein Satz geht in Gabriels Worte über: „Sie war wie jetzt: Sie war offen und sie war fröhlich und sie war selbstbewusst. Ein starkes, junges Mädchen.“ Sarina ist eins von 220 Kindern, die 2017 in Sachsen adoptiert werden. Bundesweitweit sind es knapp 3.900.

Sie sind einfach Papa und Papa

Acht Wochen lang verdrängen die Väter, dass Sarina ihnen wieder genommen werden könnte. So lange dürfen leibliche Eltern sich umentscheiden. Der neue Alltag hilft auszublenden. Kurz nachdem ein Familiengericht die beiden Väter als Eltern bestätigt, öffnet Deutschland die Ehe für alle. Die neue Familie macht eine Zeremonie daraus. „Das war ein schöner Moment“, sagt Lorenz. Auf einem Standesamt lassen sie ihre eingetragene Partnerschaft zur Ehe umschreiben. „Wir waren nur wir drei, Sarina war die einzige Trauzeugin.“

Zwei Drittel des Kuchens sind weg, nur eine schmale Ecke schneidet Gabriel noch ab, „Sarina freut sich, wenn was übrig ist.“ Stiefel im Pink des Comicpanthers reihen sich im Flur neben Riemchen-Schuhe kaum länger als ein Männerfinger. Gabriel hängt eine Bauchtasche um, Lorenz holt Gesichtsmasken. Zeit, Sarina aus der Kita abzuholen.

Sprachen überkreuzen sich im Hof des internationalen Kindergartens, ein Steinweg führt zu einer Kletterspinne. Entlang von Baumstammteilen, Kiefernzapfen, einem roten Plastikauto schlängelt sich ein Gartenschlauch, an dessen Ende jemand Bäume gießt. Ein Kleid mit grünen, blauen, fliederfarbenen Streifen wedelt um das Mädchen mit den Wuschelhaaren. Es ist Sarina. Gabriel geht in die Hocke, strahlt sie an und begrüßt sie in einer anderen Sprache. Auf einer Tafel stehen Kindernamen in den Schriftzeichen seiner Muttersprache, die Sarina mit ihm spricht. Lorenz nennt sie Papa, Gabriel auch, nur eben in dessen Sprache. Sarina watschelt die Treppen rauf und hüpft auf eine Rutsche. Noch eine letzte Banane und ein letzter Schluck aus ihrem gelben Plastikbecher, dann verabschieden die drei sich in die Sommerferien.

Ihren leiblichen Eltern ist sie schon begegnet

Im Februar erst hat die Familie sich aus Dresden verabschiedet. „Wir haben in Sachsen keinerlei negative Erfahrungen gemacht, auch wenn wir uns der Problematik bewusst sind“, sagt Lorenz. Wegen des Gartens, der festen Jobs, der Nähe zu seiner Familie sind sie umgezogen. „Wir wollen, dass Sarina mit Frauen wie meiner Schwester weibliche Bezugspersonen hat. Wenn sie älter ist, gibt es vielleicht Dinge, die sie gern mit Frauen besprechen möchte.“ Nach Dresden wollen sie regelmäßig fahren. „Wir hätten ohne Dresden keine Tochter. Wir verdanken der Stadt unser Kind. Sie soll wissen, woher sie kommt.“

Ihren leiblichen Eltern ist Sarina schon begegnet, die einstige Mutter wollte sehen, dass es ihr gut geht. Mindestens einmal im Jahr tauscht man Briefe aus; zum Geburtstag, zu Weihnachten, Lorenz und Gabriel legen Fotos bei, die leiblichen Eltern Geschenke wie die Puppe in Sarinas Zimmer. Teiloffene Adoption nennt sich der empfohlene, neue Weg. „Beide sind offen für Kontakt“, sagt Lorenz. „Da haben wir Glück. Irgendwann wird Sarina fragen: Warum haben sie mich weggegeben?“ Im Idealfall, sagt Gabriel, könne Sarina „mal in einer sehr großen Familie leben“.

Der Geruch von Hart- und Weichkäse vermischt sich auf dem Wochenmarkt mit Stimmengewirr, Menschen tummeln sich zwischen Altbauten aus Stein und Bäumen, die auf der Welt schon viel gesehen haben müssen. Sarina greift jeden Vater an einer Hand, die Kleinfamilie steuert zum Bücherbus. Sarina sucht in der mobilen Bibliothek ein Buch mit einem Eisbären und eins mit einem Drachen aus. „Ich suche noch nach Geschichten, in der Mädchen nicht nur Prinzessinnen, sondern Helden sind, wie bei Pipi Langstrumpf“, sagt Gabriel. „Es war vom ersten Tag an wichtig für uns, dass Sarina ein selbstbewusstes Mädchen, eine strong woman wird. Sie soll wissen: Du kannst alles machen, alles entscheiden.“

Sorge vor Diskriminierung

Gabriel nimmt Sarina auf den Arm, Lorenz trägt die Bücher. Schatten und Sonne wechseln sich beim Spaziergang über den Gehsteig in ihren Gesichtern ab, Kinderstimmen werden lauter. „Bevor du ein Kind hast, glaubst du, es ist wie Tabula rasa“, sagt Gabriel. „Mit Sarina habe ich total meine Idee verändert. Kinder kommen mit so vielen Meinungen und Werkzeug auf die Welt.“ Sarina stapft über den Spielplatz durch den Sand, zielstrebig, vorbei an Wippe und Schaukel zur Seilbahn. „Letztes Mal hat sie das alleine hingekriegt“, sagt Gabriel. „Wirklich?“ Lorenz trabt Sarina hinterher und reicht ihr den runden Hängehocker. Sie wickelt ihre Beine um das Seil, Lorenz will nicht richtig loslassen, eilt mit, auf den letzten Metern fällt sie in den Sand und weint. Nächster Versuch. „Lass früher los“, ruft Gabriel.

Sarina wird ein Einzelkind bleiben. „Wir hatten so viel Glück, dass andere Eltern jetzt auch Glück haben dürfen“, sagt Lorenz. „Ich habe auch das Gefühl, meine ganze Liebe gehört ihr, ich kann sie nicht teilen“, meint Gabriel kopfschüttelnd, den Blick auf den Boden. Sarina hüpft auf seinen Schoß und will das Drachenbuch durchforsten. Wind und Spiel haben ihren Pony verwuschelt, mit weiten Augen mustert sie die Welt.

„Wir haben schon Sorgen, dass sie diskriminiert wird, stärker sein muss als andere Kinder“, sagt Lorenz. „Aber wir sprechen mit ihr auch deswegen so viel über unsere Familie. Dann kann sie sagen: Ich habe eine Mutter, die kennt meine Papas und die hatte mich auch sehr lieb, aber genau aus dem Grund hat sie meine Papas ausgesucht. Sie wollte das Beste für mich.“

Lorenz bittet Sarina, mitzukommen. Sie will lieber schaukeln. „Wir haben vielleicht mehr mit anderen Adoptivfamilien gemeinsam als mit gleichgeschlechtlichen Eltern, die auf anderen Wegen Kinder kriegen“, sagt er. Oder mit Eltern generell. Zwei Meter weiter erklärt eine Mutter ihren Kindern, warum es Zeit ist zu gehen. Manchmal, wenn Kinder Sarina nach der Mama fragen, erschrecken Lorenz und Gabriel schon, sagen sie. Sarina nicht. Sie klettert auf den Arm des Papas und lässt sich in ihr Zuhause bringen. Die Sonne strahlt allmählich milder durch die Baumkronen und zieht weiter. Das Licht bleibt da.

* Namen von der Redaktion geändert

Familienkompass 2020:

  • Hintergrund: Der Familienkompass ist eine große sachsenweite Umfrage zur Kinder- und Familienfreundlichkeit im Freistaat. Er ist ein gemeinsames Projekt der Sächsischen Zeitung, der Freien Presse und der Leipziger Volkszeitung in Kooperation mit der Evangelischen Hochschule Dresden.

  • Wann? Die Befragung endet zum Start der Sommerferien.

  • Wo? Leser der Sächsischen Zeitung finden den Fragebogen unter www.sächsische.de/familienkompass

  • Warum mitmachen? Mit jedem beantworteten Fragebogen helfen Sie mit, die Familien- und Kinderfreundlichkeit in Ihrer Stadt/Gemeinde zu verbessern. Nach der Auswertung konfrontieren wir Politik und Verwaltung mit den Ergebnissen und berichten in allen Ausgaben detailliert zur Situation in den Kommunen.