Dresden. Autos stoppen, Straßenbahnen und Busse stauen sich, Menschengruppen blockieren die Fahrbahn. Am Uniklinikum treffen am Donnerstagabend sogenannte „Spaziergänger“ aufeinander sowie acht Hundertschaften Polizei. Potenzielle Teilnehmer drängen zu Hunderten zum verabredeten Treffpunkt.
Ein großer Aufmarsch von Gegnern der Corona-Maßnahmen soll dort starten. Die Beamten müssen das verhindern. Die Regeln erlauben zu dem Zeitpunkt nur stationäre Kundgebungen mit maximal zehn Teilnehmern. Dennoch treffen sich rund 1.500 Menschen zum „Spaziergang“. Unter anderem hatte die rechtsextreme Partei „Freie Sachsen“ dazu aufgerufen.
Am Rand stehen noch einmal mehrere Hundert, die gegen die "Spaziergänger" demonstrieren. Darüber ein Polizeihubschrauber und dazwischen Dresdner, die an diesem Abend einfach nur nach Hause wollen.
Der Polizei gelingt es am Ende nicht nur, den Demonstrationszug zu verhindern. Auch im Zentrum und den Nachbarstadtteilen geht sie weitgehend konsequent gegen illegale Demonstrationsversuche in zu großen Gruppen vor. Doch ihr Einsatz hat ein Nachspiel.
Nun hagelt es Kritik am Vorgehen der Polizei – vor allem gegenüber jenen, die Politiker-Aufrufen gefolgt waren, Zivilcourage gegen illegale Demos zu zeigen.
„Wir hatten am Anfang eine sehr stationäre Situation“, beschreibt Dresdens Polizeipräsident Jörg Kubiessa den Abend. „Spaziergänger“ seien am angekündigten Ort, der Kreuzung Blasewitzer-/Fetscherstraße, auf das Großaufgebot der Polizei getroffen.
Zusätzlich demonstrieren am Klinikum Medizinstudenten gegen den Aufmarsch von Corona-Leugnern und Impfgegnern. Der Polizei zufolge geschätzt 500 Menschen. In der Zentrale an der Schießgasse gibt Einsatzleiter Hendrik Schlicke die Anweisung: Die Beamten vor Ort sollten versuchen, die Teilnehmer der illegalen Versammlung „wegzubekommen“. Zunächst per Lautsprecherdurchsage. Das gelingt nicht, es „war sehr, sehr schwierig, es gab kaum Reaktionen“, sagt Schlicke am Tag danach.
Studenten widersprechen Darstellung der Polizei
Deshalb bilden Beamte
aus Berlin und Thüringen eine "robuste Polizeikette", um "einfache körperliche Gewalt" anzuwenden. Potenzielle „Spaziergänger“ sollen weggedrängt werden, Polizisten schieben sie auf der Blasewitzer Straße langsam stadtauswärts.Dabei reichte die Polizeikette über die gesamte Straßenbreite und die Bürgersteige. Auf den Gehwegen stehen Medizinstudenten. Sie tragen Masken, fast alle FFP2-Modelle, und protestieren mit Plakaten gegen die mutmaßlich illegalen Demonstranten.
Beim Abdrängen der „Spaziergänger“ hätten sich alle Personen entfernt, teilt die Polizei später mit. Bis auf 22 junge Frauen und Männer des Gegenprotests, die festgesetzt und deren Personalien überprüft wurden. Die Beamten hätten das dann auch „bewusst zu Ende gebracht“, sagt Einsatzleiter Schlicke, denn aus ihrer Sicht hätten auch diese Studenten gegen die Corona-Schutz-Verordnung verstoßen, die nur ortsfeste Demonstrationen mit maximal zehn Teilnehmern zuließ.
Von Festgesetzten kommt Widerspruch zur Darstellung der Polizei. Die SZ hat mit Betroffenen gesprochen, die übereinstimmend aussagen, dass sie von Polizisten dazu aufgefordert worden seien, zu der Stelle zu gehen, an der sie später in einer wohl auch dadurch vergrößerten Gruppe ihre Personalien wegen Verstoßes gegen Corona-Regeln abgeben mussten.
„Wir waren zu fünft, später nur noch zu zweit und standen auf dem Gehweg“, sagt die Medizinstudentin Maria Müller*. „Wir haben Masken getragen und Abstand gehalten.“ Ein Beamter habe sie angesprochen. „Wir sollten uns dazu stellen, unsere Personalien würden jetzt aufgenommen.“
Leni Schmidt* beschreibt, wie sie mit vier Begleitern, alle mit FFP2-Maske und dreifach geimpft, am Bürgersteig stand, als „Spaziergänger“ kamen und die Studenten angepöbelt hätten. Es sei hektisch geworden.
"Wir dachten, das sei zu unserem Schutz."
„Erst haben uns Polizisten gesagt, wir sollen weggehen, dann wurden wir in diese Kette reingeleitet vor den Eingang eines Hauses, an drei Seiten umgeben von Wänden und davor standen mindestens 15 Polizistinnen und Polizisten.“
Alles sei ruhig gewesen, man habe ja keine Konfrontation mit der Polizei gesucht. „Ich dachte, die holen uns an den Rand, um uns vor den Querdenkern in Sicherheit zu bringen.“
Polizeisprecher Thomas Geithner widerspricht dem Vorwurf, Beamte hätten die größere und damit regelwidrige Gruppe erst herbeigeführt, indem sie die Studenten gezielt in den Kessel trieben. Diese hätten sich im Bereich der „Spaziergänger“ befunden, seien nicht weggegangen und deshalb am Ende erfasst worden.
Matthias Meier* war mit zwei Freunden Richtung Fetscherstraße unterwegs, wo über 100 Studenten protestierten, ohne das die Polizei dagegen einschritt. „Polizisten haben uns gefragt, ob wir uns nicht in der einen Ecke versammeln könnten, wir dachten, das sei zu unserem Schutz. Wir hatten vorher das Gepöbel gehört.“
Sie seien den Anweisungen gefolgt und hätten schnell gemerkt, das es nicht um Schutz ging, als ihre Personalausweise eingesammelt wurden. „Die Polizisten haben direkt unser Vertrauen gewonnen, als sie uns so freundlich gebeten haben und wir sind in die Falle getappt.“ Es sei abstrus, so Meier, „wenn man für das System einsteht und dann von der ausführenden Gewalt in Gestalt der Polizei ein Bußgeld bekommt.“
Studenten: Verhalten der Polizei freundlich und fair
Sven Siegert* erging es ähnlich. Eingekesselt seien sie nach etwa einer halben Stunde in Dreiergruppen aufgerufen worden. „Wir wurden belehrt, dass unter Umständen ein Verfahren gegen uns eingeleitet wird, aber vorher ein Richter entscheiden würde, ob das überhaupt passiert.“
Gegen die „Spaziergänger“ im Bereich Blasewitzer Straße ging die Polizei nicht mit Personalienfeststellungen vor, weil diese sich nach dem Abdrängen entfernt hätten, so Polizeisprecher Geithner.
Die Studenten schildern, dass sie das Verhalten der Beamten trotz der Einkesselung als freundlich und fair empfunden hätten, die Personalienfeststellung aber hinterlasse einen Beigeschmack.
„Der Ministerpräsident hat um Zivilcourage gebeten, wir wollten unseren Standpunkt zeigen und friedlich zum Impfen aufrufen“, sagt Leni Schmidt. „Schade, dass wir von der Polizei mit rangenommen wurden.“ Zumal sich kein Polizist um Querdenker gekümmert hätte, die lautstark vorbeiliefen.
Hannah Werner sagt, es habe sogar den Versuch einer spontanen Versammlungsanmeldung gegenüber der Polizei-Einheit vor Ort gegeben. Man sei im Gespräch gewesen, aber eine andere Polizei-Truppe habe die Studenten eingekesselt.
Polizeisprecher Geithner zufolge haben die infrage kommenden Bereitschaftspolizeieinheiten aus Thüringen und Berlin den Anmeldeversuch nicht bestätigt. Er wolle dies aber auch nicht ausschließen. Es sei schwierig, wenn in einer unübersichtlichen Situation wie am Donnerstagabend eine Demo-Anmeldung komme, vor allem, wenn das Geschehen bereits so dynamisch sei.
OB Hilbert warnt vor Vorverurteilung der Polizei
Hätten die Studenten ihre Kundgebung im Vorfeld bei der Versammlungsbehörde angezeigt, hätten sie vielleicht eine Ausnahmegenehmigung bekommen. Polizeipräsident Kubiessa zufolge wäre es dann womöglich auch gelungen, die potenzielle Teilnehmer des illegalen Aufzugs von denen der genehmigten Gegenkundgebung zu unterscheiden und sie damit auch zu schützen.
Wie die weiteren rund 200 Personen, die laut der Polizei zu den potenziellen "Spaziergängern" gehörten und an diesem Abend ebenfalls Anzeigen bekamen, müssen die Studenten nun mit Bußgeldbescheiden aus dem Rathaus rechnen. Diesen Bescheiden könnten sie dann im Rahmen der dabei üblichen Anhörung widersprechen, so die Polizei.
Kritik am Vorgehen der Polizei gegen die Studenten kommt nach dem Einsatz auch aus der Landespolitik. Sachsens Vize-Ministerpräsident Wolfram Günther (Grüne) schreibt, die Medizinstudenten hätten Zivilcourage gezeigt und sich vor Menschen gestellt, die in der Pandemie härteste Arbeit leisten. „Die Aktion verdient Anerkennung statt Polizeimaßnahmen.“
Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU), der vor Kurzem mehr Engagement auch bei der Auseinandersetzung mit Querdenkern und Corona-Leugnern gefordert hatte, lobt am Tag danach die Aktion der Studenten, geht aber nicht auf den Polizeieinsatz gegen sie ein. Dresdens Oberbürgermeister Dirk Hilbert (FDP) lobt die Medizinstudenten ebenfalls, warnt aber vor einer pauschalen Verurteilung der Polizei.
Freitagnachmittag meldet sich dann auch der oberste Dienstherr von Sachsens Polizei zu Wort. Zivilcourage sei „definitiv das richtige Signal, klare Kante gegen das aktuelle Corona-Protestgeschehen zu zeigen“, sagt Innenminister Roland Wöller (CDU). „Dafür bedanke ich mich ausdrücklich.“
Das Innenministerium müsse prüfen, wie sich die Situation vor Ort genau dargestellt hat, um das Handeln der Beamten bewerten zu können. Unabhängig davon, dass die Studierenden „in der Sache Recht haben mögen, gelten die Regeln der Corona-Notfall-Verordnung für alle.“ Wöller will sich mit den Studenten in Verbindung setzen und ihre Sichtweise erfahren.
"Aufruf Wöllers zu Zivilcourage wirkt wie Hohn"
Albrecht Pallas, innenpolitischer Sprecher der SPD-Landtagsfraktion, sagt, es sei nicht nachvollziehbar, warum ausgerechnet die Studenten einen wohl unverhältnismäßigen Polizei-Einsatz und Anzeigen erdulden mussten.
„Es kann nicht sein, dass immer wieder illegale Ansammlungen toleriert werden, während an den meist regelkonformen, angemeldeten Gegenprotest andere Maßstäbe angelegt werden“, sagt Pallas. „Das stärkt nicht das Vertrauen in Rechtsstaat und Polizei.“
Auch andere Politiker machen der Polizei Vorwürfe. So twittert der Landtagsabgeordnete Valentin Lippmann (Grüne) am Donnerstag: "Während Innenminister und Ministerpräsident nach der Zivilgesellschaft rufen, drangsaliert die Sächsische Polizei mal wieder eben jenen Protest." Mit "schmallippigen Erklärungen" sei es diesmal nicht getan. Lippmann verlangt eine Entschuldigung der Polizei.
Stadtrat Chris Colditz (Linke) sagt, Wöllers jüngste Forderungen zu Zivilcourage gegen Querdenker-Demos wirkten rückblickend wie Hohn. Kaum schaffe es die sonst eher träge Dresdner Zivilgesellschaft, ein klares Zeichen gegen Querdenker zu setzen, werde dies „durch Wöllers Polizei verhindert und mit Repression überzogen.“
Finanzielle Hilfe bei Gerichtsprozessen
Inzwischen gibt es eine
Spendenaktion, mit der die 22 Studenten im Falle von Gerichtskosten und
Bußgeldern unterstützt werden sollen.
Der Protest gegen selbsternannte
„Querdenker“ vom Donnerstagabend ist keine Ausnahme mehr. In Dresden nahmen
etwa am vergangenen Wochenende mehr als 3.000 Menschen an einer Aktion unter
dem Motto „Haltung zeigen“ teil, um ein Zeichen gegen „Querdenker“ und
Rechtsextremismus zu setzen.
Für Polizeipräsident Jörg Kubiessa ist diese Veranstaltung, die zuvor bei der städtischen Versammlungsbehörde angezeigt wurde, ein Beweis dafür, dass Kundgebungen trotz strenger Corona-Regeln möglich sind. (SZ/mit dpa)
*Namen geändert
Mehr über "Haltung zeigen" und wie es mit der Initiative weitergeht, hören Sie in der aktuellen Folge CoronaCast bei Sächsische.