SZ + Feuilleton
Merken

Was Corona unter Mädchen und Jungen anrichtet

Die Pandemie versetzt unsere Jugend in einen permanenten Ausnahmezustand. Warum und wie man gegensteuern muss - ein Gastbeitrag.

 6 Min.
Teilen
Folgen
NEU!
Ein Kinderspiel, aber derzeit nicht zum Lachen.
Ein Kinderspiel, aber derzeit nicht zum Lachen. © 123rf

Von Carolin und Christoph Butterwegge

Über anderthalb Jahre lang hat die Covid-19-Pandemie das Leben der Minderjährigen hierzulande beherrscht, und zwar von morgens bis abends ebenso wie nachts, weil viele Kinder und Jugendliche nicht (gut) ein- oder durchschlafen konnten. Zu den Existenzsorgen armutsgefährdeter Familien gesellte sich bei ihnen nun die für sensible Zeitgenossen und -genossinnen besonders unangenehme Infektionsangst. Vornehmlich für kleine Kinder, die nichts über Virusinfektionen und Infektionskrankheiten wissen konnten, war das neuartige Coronavirus ein ebenso rätselhaftes wie unheimliches Phänomen, welches sie in Angst und Schrecken versetzte. Außerdem beeinträchtigten Arbeitsplatzverluste, Phasen der Kurzarbeit sowie Quarantäne- und Isolationsmaßnahmen das Familienklima.

Noch härter traf es Kinder mit Behinderungen, Einschränkungen und Assistenzbedarf, weil sie etwa in der Förderschule nun häufig ganz auf sich allein gestellt waren. Kinder- und Jugendärzte sowie Psychotherapeuten schlugen Alarm, weil die Verhaltensauffälligkeiten bei Minderjährigen signifikant zunahmen.

Vermehrt beobachtet wurden Daumenlutschen, Nägelkauen, Essstörungen, extreme Stimmungsschwankungen, depressive Verstimmungen, unkontrollierte Gefühlsausbrüche, Konzentrationsstörungen, Entwicklungsverzögerungen und Aggressionen verschiedener Art.

Vermehrt beobachtet wurden bei Kindern seit Ausbruch der Pandemie harmlose Verhaltensauffälligkeiten wie Daumenlutschen und Nägelkauen, aber auch Essstörungen und Aggressionen verschiedener Art.
Vermehrt beobachtet wurden bei Kindern seit Ausbruch der Pandemie harmlose Verhaltensauffälligkeiten wie Daumenlutschen und Nägelkauen, aber auch Essstörungen und Aggressionen verschiedener Art. © 123 RF

Jungen und Mädchen ging die geregelte Alltagsstruktur in der pandemischen Ausnahmesituation noch viel eher verloren als Erwachsenen, die sich aufgrund ihrer größeren Lebenserfahrung und Anpassungsfähigkeit leichter an einen total veränderten Tagesablauf gewöhnen konnten. Teilweise wurde durch die rigiden Schutzvorschriften und vielfältigen Beschränkungen des Privatlebens während der Pandemie geradezu verunmöglicht, was Juvenilität heute ausmacht, und die Jugend in ein Verhaltenskorsett gezwängt, das sie wie vorzeitig gealterte Erwachsene agieren ließ.

Die Lebensqualität von Kindern hat sich arg verschlechtert

Verglichen mit der Zeit vor der Covid-19-Pandemie hat sich die Lebensqualität von Kindern und Jugendlichen deutlich verschlechtert. Während der Pandemie wurden bei fast jedem dritten Kind psychische Auffälligkeiten festgestellt; vorher war nur etwa jedes fünfte Kind betroffen gewesen. Besonders belastet waren Minderjährige, deren Eltern einen niedrigen Bildungsabschluss aufwiesen, die einen Migrationshintergrund hatten und/oder die auf beengtem Raum lebten (Wohnfläche geringer als 20 Quadratmeter pro Person).

Einsamkeit und Isolation machen gerade den Jüngsten vielfach schwer zu schaffen.
Einsamkeit und Isolation machen gerade den Jüngsten vielfach schwer zu schaffen. © dpa

Unter dem wiederholten Lockdown litt die Quantität, aber auch die Qualität der zwischenmenschlichen Beziehungen. Trotz vermehrter Nachbarschaftshilfe breiteten sich Kontaktarmut, Einsamkeit und soziale Isolation aus, weil die Netzwerke von Freundinnen, Bekannten und Kolleginnen rissen.

Minderjährige, die wegen der Kontaktbeschränkungen ihre Freunde, Freundinnen und Klassenkameraden nicht mehr treffen konnten, sich aber wegen der im ersten Lockdown aus Hygienegründen gesperrten Spielplätze und Sportanlagen selbst dort nicht mehr aufhalten konnten, klagten besonders dann unter größerer Vereinsamung, wenn sie Einzelkinder waren oder keine ungefähr gleichaltrigen Geschwister hatten.

Oft entlud sich die Stimmung in häuslicher Gewalt

Während des zweiten, länger andauernden Lockdowns hatten diese Minderjährigen stark unter Erlebnisarmut und Langeweile zu leiden. Für die Kinder aus sozial benachteiligten oder armutsgefährdeten Familien, denen man ohnehin wenig Aufmerksamkeit schenkt, war die im Lockdown verhängte Kontaktsperre gegenüber Erzieherinnen und Lehrern, ihren nach oder neben den Eltern wichtigsten erwachsenen Bezugspersonen, ein traumatisches Erlebnis, das in Einzelfällen panikartige Reaktionen auslöste.

Oftmals fiel solchen Kindern die Decke auf den Kopf, gab es im häuslichen Bereich doch noch seltener als sonst Anregungen und Abwechslungen. Mancherorts entlud sich die gereizte Stimmung der anderen Familienmitglieder, die zu Hause „eingesperrt“ waren, auch in Partnerschaftskonflikten und häuslicher Gewalt.

Die angespannte Situation führte in vielen Haushalten zu Streitigkeiten. Es blieb nicht ausschließlich bei verbaler Gewalt, auch gegen Kinder.
Die angespannte Situation führte in vielen Haushalten zu Streitigkeiten. Es blieb nicht ausschließlich bei verbaler Gewalt, auch gegen Kinder. © 123

Kinder fühlten sich der Pandemie hilflos ausgeliefert, ohnmächtig und handlungsunfähig. Hatten sie schon vorher unter familiären Problemen gelitten, plagten sie nun vermehrt Zukunftssorgen. Viele gerieten völlig aus dem seelischen Gleichgewicht. Auch die Angebote der Kinder- und Jugendhilfe wie etwa Hilfen zur Erziehung in den Familien wurden vielfach eingestellt oder reduziert.

Nur sporadisch oder gar nicht mehr erreichbar waren seit Pandemiebeginn die Angebote der offenen Jugendarbeit und der Jugendsozialarbeit. Mit den (armen) Kindern und Jugendlichen wurde auch die Kinder- und Jugendhilfe als wichtige Anlaufstation von der Pandemie geschwächt und vieler Handlungsmöglichkeiten im Hinblick auf Beratung, Behandlung und Begleitung ihrer Adressatinnen und Adressaten beraubt.

Kinder und Jugendliche am stärksten betroffen

Den öffentlichen Diskurs, der noch kurz zuvor maßgeblich durch die fantasievollen Aktionen der „Fridays for Future“-Bewegung, ihr Engagement für einen wirksamen Klimaschutz und ihre politischen Forderungen geprägt worden war, vermochten junge Menschen während der Pandemie nicht zuletzt deshalb kaum noch zu beeinflussen, weil ihnen die persönlichen Treffen mit Gleichgesinnten fehlten.

Beschlüsse wie die Entscheidung der Bundeskanzlerin sowie der Ministerpräsidentinnen und -präsidenten, große Bereiche des gesellschaftlichen Lebens für längere Zeit stillzulegen, wurden ohne vorherige Anhörung von Kindern und Jugendlichen gefasst. Dass diese mit am stärksten von den Schließungen und Kontaktbeschränkungen betroffen sein würden, wussten alle politisch Verantwortlichen vorher.

Die Pandemiebedingten Schließungen betrafen nicht minder Beratungsstellen für Kinder und Jugendliche - gerade in familiär angespannten zeiten.
Die Pandemiebedingten Schließungen betrafen nicht minder Beratungsstellen für Kinder und Jugendliche - gerade in familiär angespannten zeiten. © dpa

Alle gesundheits-, wirtschafts- und sozialpolitischen Maßnahmen, die Parlament und Regierung während der Covid-19-Pandemie ergriffen, wurden über die Köpfe von Kindern und Jugendlichen hinweg beschlossen. Obwohl sich die Bundesrepublik durch ihre Ratifizierung der UN-Kinderrechtskonvention verpflichtet hat, Kinder in allen sie betreffenden Fragen anzuhören, wurden sie in die Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse zunächst nicht einbezogen.

Erster Dialog zum Thema erst ein Jahr nach dem Ausbruch

Erst als Jugendverbände und erwachsene Kritiker/innen öffentlich monierten, dass man die jungen Menschen weder konsultiert noch rechtzeitig darüber informiert hatte, was geschehen sollte, eröffnete die damalige Bundesfamilienministerin Franziska Giffey am 2. Februar 2021 einen digitalen Dialog mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Anschließend lud Giffey zu einem „Jugend-Hearing“ am 11. März 2021 ein, bei dem sie mit Betroffenen und deren Interessenvertretungen, Fachorganisationen der Jugendhilfe und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler über das Thema „Corona, Jugend und die Folgen“ diskutierte.

Inzwischen werden auch Kinder ab 12 geimpft. Der Freistaat Sachsen setzt dabei wie viele andere Länder auf "kreative Aktionen" und sensible Begleitung.
Inzwischen werden auch Kinder ab 12 geimpft. Der Freistaat Sachsen setzt dabei wie viele andere Länder auf "kreative Aktionen" und sensible Begleitung. © dpa

Kinderrechte und Kinderschutz wurden in der Pandemie entweder vernachlässigt oder sogar ausgehebelt. Was in dieser Ausnahmesituation für Erwachsene vielleicht ein akuter Geld- und Zeitmangel war, erlebten Kinder in einer zu kleinen Wohnung hauptsächlich als Bewegungsmangel.

Wenn die Familie auf engstem Raum zusammenlebte, stieg während des wiederholten Lockdowns oder einer Quarantäne- oder Isolationsmaßnahme das Risiko für Kinder und Jugendliche, Opfer gewaltsamer Übergriffe und sexuellen Missbrauchs durch ihre (Stief-) Väter zu werden. Da die Betreuungseinrichtungen, Kontaktstellen und Beratungsbüros vielfach geschlossen waren, blieben solche Delikte eher unentdeckt, weshalb von einer höheren Dunkelziffer auszugehen ist.

Auch den Kindern droht eine trübe Zukunft

Die in vielerlei Hinsicht zerrissene junge Generation hat ebenso wenig eine rosige Zukunft wie die auseinanderdriftende Gesellschaft, in der sie lebt. Nur wenn es gelingt, die den Familien, Kindern und Jugendlichen von der tiefen Pandemiekrise geschlagenen Wunden zu heilen und vereint mehr sozioökonomische Gleichheit zu schaffen, kann das Land hoffen, seine enorme Wirtschaftskraft und das Wohlstandsniveau der Bevölkerung auf Dauer zu sichern.

Nicht bloß die Bildungs-, sondern auch die Kinder- und Jugendpolitik ist gefordert, die Krisenfolgen stärker abzufedern und besonders vulnerablen Gruppen wie den Kindern und Jugendlichen sowie ihren Familien (trotz geleerter öffentlicher Kassen und massiver Verteilungskämpfe) mehr unterstützende und ausgleichende Angebote zu machen.

Dr. Carolin Butterwegge ist Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Universität zu Köln; Prof. Dr. Christoph Butterwegge hat dort von 1998 bis 2016 Politikwissenschaft gelehrt.

Soeben ist ihr Buch „Kinder der Ungleichheit“ bei Campus erschienen (303 S., 22,95 €).