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Die Angst badet mit

Vier Menschen sind im Kiessee Leuben verunglückt. Trotzdem kommen viele Dresdner hierher. Die Risiken fürchten sie nicht. Sie haben andere Sorgen.

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© Sven Ellger

Von Annechristin Bonß

Hach, war das erfrischend. Die Frau steigt aus dem Wasser, nackt. Sie schlingt das Handtuch um den Körper, sieht auf das Wasser. Die Sonne glitzert in den kleinen Wellen, die an das Ufer schwappen. Nur eine Badekappe hat die Frau getragen. Das lila Exemplar mit weißen Blumen baumelt jetzt am Zweig einer Weide, während sich die Schwimmerin abtrocknet. „Seit 20 Jahren bade ich hier. Es ist einfach herrlich“, sagt sie. Hier, das ist der Kiessee Leuben. Ihren Namen will sie nicht nennen, nur ihr Alter: 75. Wohl, weil sie weiß, dass hier das Baden verboten ist. Der Arzt habe ihr geraten, schwimmen zu gehen, wegen der Rückenschmerzen. Warum dafür in ein Schwimmbad gehen? Sie wohnt in der Nähe, „und die Wasserqualität ist sehr gut.“ Bis zur Boje und zurück ist sie geschwommen. Das sind immerhin knapp 400 Meter.

Am Mittwochabend sind wieder viele Menschen an den Kiessee Leuben gekommen: Alte und Junge, Mütter mit Kindern, Paare, Teenagercliquen. Sie planschen im flachen Wasser am Ostufer, suchen sich versteckte Plätzchen zwischen den Büschen weiter westlich, genießen den späten Sommer. Techno-Beats dröhnen. Hunde toben am Ufer. Die vielen Schilder, die auf das Badeverbot in dem ehemaligen Abbaugebiet hinweisen, ignorieren die Badenden. Dass es hier vier Tote in zwei Monaten gegeben hat, wohl auch. Doch das Thema ist allgegenwärtig. Die Frau an der Weide unterhält sich mit einem Bekannten, der vorbeikommt. „Wenn ich bei Rot über die Straße gehe und überfahren werde, bin ich auch selbst schuld“, sagt sie. Jeder müsse eben aufpassen, wenn er hier baden geht. Gefährlich sei das nicht.

Von der prallen Sonne ins kühle Nass

Doch so einfach ist es nicht. Experten der Deutschen Lebensrettungsgesellschaft warnen vor solchen Seen. Unter Wasser können Kanten sein, an denen es plötzlich in die Tiefe geht. Dieser Überraschungseffekt könnte selbst für geübte Schwimmer tödlich enden. Zudem gibt es erhebliche Temperaturschwankungen im Wasser. Wer überhitzt in den See geht oder gar springt, für den wird es gefährlich. Auch in Leuben. Schattenplätze gibt es kaum rund um den See. Auch an diesem Tag liegen viele Menschen auf dem kargen Boden in der prallen Sonne. Bis zur nächsten Abkühlung im See. Die Stadt verweist immer wieder auf das Badeverbot. Vergeblich.

Denn vor Ort sieht es anders aus. Rund um den See gibt es viele Wege, die vom Publikumsverkehr zeugen. Von der Pirnaer Landstraße führt ein breiter Trampelpfad einmal quer über die Wiese zum Ostufer. Dort liegen Sven und Angela im Schatten. Der 26-Jährige ist mit seinem Besuch aus Baden-Württemberg nach Leuben gekommen. Sie knabbern Nüsse, erholen sich vom Bad. Gerade erst waren sie im Wasser. Das hat in diesen Tagen über 20 Grad. Von den Badeunfällen wollen sie nichts gehört haben. „Man muss halt auf sich aufpassen“, sagt Sven. Abschreckend wirken die Vorfälle auf die beiden nicht. Schlimmer findet der Laubegaster dagegen etwas anderes. „Man muss hier mit dem vielen Müll leben“, sagt er.

Rund um die Decke stecken viele Zigarettenstummel im Sandboden. Zwischen vertrockneten Grasbüscheln liegen Papier- und Holzkohlereste, Scherben, Sektkorken, Kaffeebecher. Die Gebüsche rund um den See sehen nicht viel besser aus. Ganze Plastikschalen und aufgefetzte Müllbeutel von vergangenen Grillpartys liegen dort. Papierkörbe, die regelmäßig geleert werden, gibt es nirgends. Warum auch? Hier darf ja keiner baden oder grillen. Zudem gehört der Stadt keine der Flächen am See. Deswegen stellt die Verwaltung auch keine Container auf.

Welche Gefahren konkret unter der Wasseroberfläche lauern, weiß niemand. Nachdem die Sächsische Baustoffunion den Kiesabbau beendet hat, wurde sie von der Firma Holcim übernommen. Einen Zugriff oder gar Kontrollpflichten habe die Holcim nicht, sagt Sprecher Jens Marquardt. Die Firma hat alle Flächen in Leuben verkauft. Dokumente dazu gibt es nicht mehr in der Hamburger Firmenzentrale. An den deutschlandweit rund 30 Standorten im Besitz von Holcim sieht das anders aus. „Dort haben wir aktiv Leute kontrolliert und angezeigt, die dort baden“, sagt er. In Dresden wird das nicht passieren. Auch die Stadt lehnt Kontrollen ab.

Kostenlos in die XXL-Badewanne

Die braucht es auch gar nicht. Davon sind die Badegäste überzeugt. Keiner hier will seinen vollen Namen in der Zeitung lesen. Auch nicht Marco. Der 41-Jährige kommt mit dem Rad von Laubegast an den See gefahren. Hier hat er einen Kleingarten in der Sparte Kiesgrube Dobritz. „Als Kind habe ich hier schwimmen gelernt“, sagt er. Für eine halbe Stunde Erfrischung will er keinen Eintritt im Freibad zahlen. Regelmäßig planscht er in der XXL-Badewanne vor der Sparte. „Wer hier badet, weiß, dass es tief ist“, sagt Marco. „Ein Verbot ist Quatsch.“

Die Sorge ist nicht nur bei ihm groß, dass irgendwann ein Zaun die Grundstücke umschließt und das Badeverbot durchsetzt. Viele Badegäste kommen täglich hierher. Man kennt und grüßt sich, bleibt auf einen Schwatz stehen. „Das ist hier doch Natur, ein Stück Gesundheit“, sagt die 75-Jährige. Sie ist in ihr Kleid geschlüpft, packt ihre Sachen. Auch für sie ist ein Ende der Badelust am Kiessee unvorstellbar. „Wenn sich alle hier vernünftig benehmen, passiert auch nichts mehr“, sagt sie. Sonst dürfe hier bald niemand mehr schwimmen. „Das wäre das Allerschlimmste.“