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Die Geschichte vom Streit um die Hymne

Oder warum es bei der Eishockey-WM 1961 nicht zum deutsch-deutschen Duell kam.

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Eigentlich sollten sie auf dem Eis stehen, aber die westdeutschen Spieler warten am Bus vor dem Stadion in Genf. Auf politischen Beschluss boykottiert die BRD das Spiel gegen die DDR zum Abschluss der Weltmeisterschaft.
Eigentlich sollten sie auf dem Eis stehen, aber die westdeutschen Spieler warten am Bus vor dem Stadion in Genf. Auf politischen Beschluss boykottiert die BRD das Spiel gegen die DDR zum Abschluss der Weltmeisterschaft. © Ullstein

Die Geschichte beginnt ihm etwas zu spät. Als Jürgen Schmidt aus Nünchritz im November in der SZ den Beitrag über Klaus Hirche und Ernst Trautwein las, hat er sich ein bisschen geärgert. Schließlich hatte er das Treffen der Eishockey-Legenden aus Ost und West initiiert, den Kontakt zwischen den einstigen Rivalen hergestellt. Doch darum geht es dem 76-Jährigen nicht, er stößt sich vielmehr daran, dass er aus seiner Sicht etwas einseitig geraten ist.

So wird geschildert, dass die Spieler der DDR nach dem verlorenen Duell bei der Weltmeisterschaft 1963 in Schweden bei der Siegerehrung „der schwarz-rot-goldenen Fahne den Rücken zugekehrt“ haben. Dagegen blieb die Vorgeschichte dieses Eklats unerwähnt. Zwei Jahre vorher sollten die beiden deutschen Teams zum Abschluss der WM in der Schweiz aufeinandertreffen. Doch diese Partie wurde nie gespielt. Die BRD-Mannschaft trat auf Geheiß ihrer Sportführung nicht an.

„Wir waren zum Aufwärmen auf dem Eis, sahen die Westdeutschen mit ihren Säcken mit der Ausrüstung an der Bande“, erinnert sich der damalige Torwart Hirche, in Weißwasser als „Der Mann mit der schwarzen Maske“ bekannt. „Wir hatten zwar gehört, dass es Theater gibt, dachten aber, das sei ein Trick, sie würden schon noch kommen“, sagt der 80-Jährige. Zur gleichen Zeit erfuhren jedoch die Spieler der BRD, dass die WM für sie vorzeitig vorbei ist. „Wir saßen in der Kabine, Willi Daume (Präsident des Deutschen Sportbundes/d. A.) kam rein und erklärte, das Innenministerium habe entschieden, dieses Spiel dürfe nicht stattfinden“, erzählt der 83-jährige Trautwein.

Ernst Trautwein (links) und Klaus Hirche heute.
Ernst Trautwein (links) und Klaus Hirche heute. © Arno Späth

Hintergrund für den Boykott war die Hallstein-Doktrin. Nach ihr wurde die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur DDR als „unfreundlicher Akt“ gegenüber der Bundesrepublik betrachtet. Es ging nicht um das Spiel an sich, sondern die Zeremonie danach, denn für den Sieger wurde die Hymne gespielt und die Flagge gehisst. Die westdeutschen Spieler hätten also im Falle einer Niederlage den Symbolen der DDR, der „Spalterflagge“ und der „Becher-Hymne“, wie es in Medienberichten hieß, die Ehre erweisen müssen.

In Bonn schaltete sich deshalb Außenminister Heinrich von Brentano ein. Daume sollte die Verantwortlichen beim Eishockey-Weltverband überzeugen, für dieses Duell auf die Zeremonie zu verzichten. Doch dessen Präsident, der Ire Bunny

Ahearne, lehnte das genauso ab wie den vermeintlichen Kompromissvorschlag, die westdeutschen Spieler würden vorher das Eis verlassen. Man werde das Protokoll keinesfalls nationalen Wünschen anpassen, lautete seine klare Ansage.

Nun sollte Daume garantieren, dass es nicht zum Äußersten kommen werde. Allerdings war die DDR gut drauf, hatte gegen die USA gewonnen, Schweden und Kanada einen großen Kampf geliefert. Eine Sieg-Garantie konnte und wollte also keiner im BRD-Team geben. „Das waren doch immer enge Kisten“, meint Trautwein. „Die beiden Mannschaften waren auf Augenhöhe, daran gibt es keinen Zweifel. Der Ausgang hatte oft etwas mit Glück zu tun.“

Eine Rolex-Uhr für jeden Spieler

Der Kapitän und seine Mitspieler mussten sich jedoch dem Beschluss fügen. „Sie nehmen es zur Kenntnis, und damit ist der Fall erledigt“, beschreibt Trautwein die Ohnmacht der Sportler. „Sie haben keine Chance, die Entscheidung zu revidieren. Was hätten wir machen sollen? Aus Protest aufs Eis gehen? Für die Leute, die diese Zeit nicht erlebt haben, mag das unverständlich sein, das ist mir klar. Aber damals gab es diese politische Einflussnahme, als Spieler ist man das schwächste Glied.“

Die 13.000 Zuschauer in der ausverkauften Arena in Genf trauten ihren Ohren nicht, als der Hallensprecher den kampflosen Rückzug der BRD verkündete. Sie hatten bis zu 50 Franken für die Karte bezahlt und reagierten mit Pfiffen. Unter ihrem Beifall stand dann aber der Weißwasseraner Manfred Buder allein zum Bully, der Schiedsrichter warf den Puck ein, er spielte ihn in Richtung des leeren Tores. „Manfred hat zwar nicht getroffen, aber es wurde mit 5:0 für uns gewertet“, sagt Hirche.

Doch die Veranstalter hatten bereits reagiert. Sie ließen Spieler anderer Mannschaften, die sich bereiterklärten, in einem internationalen Team anzutreten, mit Taxis aus den Hotels holen. Es kam eine stattliche Mannschaft zusammen, die DDR gewann mit 5:3 – und wie üblich wurde danach die Hymne des Siegers gespielt und die Fahne aufgezogen. „Davon ist keiner gestorben“, meint Hirche lakonisch. Beim anschließenden Bankett gab es zudem den Fairness-Pokal für die wenigsten Strafminuten: eine Rolex-Uhr für jeden Spieler.

Der westdeutschen Mannschaft drohte dagegen nach dem sportlichen Abstieg in die B- sogar die Versetzung in die C-Gruppe. Doch ein Jahr später gab es den nächsten Eklat: Die USA verweigerten der Delegation der DDR, die sie nicht als souveränen Staat anerkannten, die Visa für die Einreise. Aus Solidarität blieben auch die Teams aus der Sowjetunion und der Tschechoslowakei zu Hause. „Wegen der freien Plätze ist die bundesdeutsche Mannschaft in die A-Gruppe aufgerückt“, erklärt Hirche.

Und so kam es, wie in dem Artikel vom November beschrieben, zur erneuten deutsch-deutschen Begegnung bei der WM 1963 in Stockholm, welche die BRD durch das von Trautwein kurz vor Schluss erzielte Tor mit 4:3 gewann. Inzwischen hatte die Bundesregierung den Kurs nach dem Bau der Mauer insofern modifiziert, dass sportliche Kontakte als eine der letzten Brücken in den anderen Teil Deutschlands anerkannt wurden. Das Hymnen-Flaggen-Problem gab es deshalb nicht mehr.

„Kontakt war nicht verboten“

Doch nun zeigte sich auch die DDR-Mannschaft von einer anderen Seite, und zwar wortwörtlich. Als die bundesdeutsche Fahne aufgezogen wurde, blieben die Spieler geschlossen demonstrativ mit dem Rücken zu ihr stehen. Die Begründung des Mannschaftsleiters: Sie seien nach der anstrengenden Partie „kurzzeitig desorientiert“ gewesen. „Es ist immer problematisch, wenn sich die Politik in den Sport einmischt“, sagt Trautwein: „Das hat es aber leider auf beiden Seiten gegeben.“

Das meint eben auch SZ-Leser und Chronist Jürgen Schmidt. „Diese einseitige Sichtweise auf die Geschichte finde ich nicht gut“, sagt er. „Mich interessiert, was in den deutsch-deutschen Beziehungen damals wirklich gelaufen ist, dazu muss man beide Seiten in Betracht ziehen.“ Er freut sich, dass sich Hirche und Trautwein vorigen Herbst in Füssen getroffen haben und für dieses Jahr ein Besuch in Weißwasser geplant ist. Er hat, wenn man so will, zusammengebracht, wer zusammengehört.

Früher kannten sie sich als Konkurrenten, haben aber kein Wort gewechselt. „Die ostdeutschen Spieler sollten ja keinen Kontakt zu uns haben, da wurde sicher auch Druck ausgeübt“, meint Trautwein. Hirche hat das nie so empfunden, wie er betont. „Es war nicht prinzipiell verboten, aber wir sollten nicht aktiv auf sie zugehen.“

Er pflegt seit seinen aktiven Zeiten eine Freundschaft zum norwegischen Torwart Kare Ostensen. „Er wollte sein Deutsch verbessern und hat mich angesprochen. Ich habe die Leitung informiert und nie Probleme bekommen. Man hat Offenheit erwartet, dafür hatte ich Verständnis“, berichtet Hirche, der seine Erlebnisse auch im Buch „Vom Braunsteich in die Eisarena“ über die Weißwasseraner Eishockey-Geschichte geschildert hat. „Nach der Wende war er der Erste, der mich besucht hat.“