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Die Ostfrau, das Rollenmodell der Zukunft?

Sie gilt als stark, selbstbewusst und unabhängiger als ihre West-Schwestern: eine Spurensuche hinter dem Klischee.

Von Oliver Reinhard
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Seit Jahrzehnten auf dem Sprung: Ostfrauen, heißt es oft, sind in vielem Vorbilder für ihre Geschlechtsgenossinnen.
Seit Jahrzehnten auf dem Sprung: Ostfrauen, heißt es oft, sind in vielem Vorbilder für ihre Geschlechtsgenossinnen. © Johannes Berndt

Die Ostfrau ist zurück! Zugegeben, sie war natürlich nie weg. Aber hier und heute bringt es die in der DDR oder Ostdeutschland sozialisierte Bundesbürgerin zu einer so noch nie da gewesenen Popularität. Als Lichtgestalt, die alle Ostmänner und Westmänner samt Westfrauen in den Schatten stellt. Als Vorbild, auch als Klischee. Sie taucht wieder auf im Kielwasser jener Debatten über „den Osten“, die 30 Jahre nach dem Mauerfall mit neuer Leidenschaft geführt werden. Was trennt, was eint Ossis und Wessis? Und fallen die Unterschiede stets zuungunsten des Ostens aus?

Geht es um die letzte Frage, dreht es sich zuverlässig auch um sie, die Ostfrau. Die Starke, die Optimistische, die Unabhängige, die Selbstbestimmte, die immer schon Gleichberechtigte und vom angeblich verkopft-kämpferischen Feminismus des Westens nichts Haltende. So die beliebtesten (Selbst-)Zuschreibungen.

Im vergangenen Jahr zeigte der MDR eine dreiteilige Doku über selbstbewusste, zupackende, aber auch viele Windungen und Brüche durchkämpft habende „Ostfrauen“, so der Titel. Nichts dergleichen gibt es über Ostmänner, deren geläufigste Klischees oft das Gegenteil der positiven Zuschreibungen über ihre Freundinnen, Gattinnen, Mütter, Schwestern, Töchter sind: jammerig, schwach, mit wenig Selbstbewusstsein ausgestattet und der festen Überzeugung, dass an allen Problemen immer nur andere schuld sind.

Flexibel und mobil

Was am fast ausschließlich positiven Bild der Ostfrau ist nur Klischee, was mehr als das? Ist sie wirklich ein Erfolgsmodell mit Zukunft? Manches spricht dafür. Manche Dafürsprecherin geht sogar recht weit. Etwa Jana Hensel, Publizistin und Autorin von „Wir Zonenkinder“. In ihren Augen haben Ostfrauen „das wiedervereinigte Land wahrscheinlich mehr als jede andere gesellschaftliche Gruppe verändert“.

Tatsächlich blickt das „Modell Ostfrau“ in vielerlei Hinsicht auf eine greif- und auch belegbare Erfolgsgeschichte zurück. So ergibt sich aus einer Studie des Statistischen Bundesamtes von 2016: Junge Frauen aus Ostdeutschland haben sich seit der Wiedervereinigung zur flexibelsten, mobilsten und am besten ausgebildeten Bevölkerungsgruppe der Republik entwickelt. Diejenigen von ihnen, die für Ausbildung, Studium oder Beruf in den Westen gingen, brachten auch ihre Wertevorstellungen und Lebenserwartungshaltungen mit.

Damit beeinflussten sie die gesamtdeutsche Entwicklung des Frauenbildes, das auch im Westen seit den Achtzigern ins Wanken geraten war. Sie wurden sogar „zum Rollenmodell und Vorbild bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie in Westdeutschland“, wie Anke Domscheit-Berg analysiert, einst Unternehmensberaterin, heute für die Linkspartei im Bundestag. Denn, egal wie man als Einzelne oder Einzelner dazu steht: Die berufstätige Mutter mit gut austarierter Lebens-Arbeits-Balance innerhalb einer gleichberechtigten Partnerschaft, sie gilt als das progressive Frauenbild der Zukunft schlechthin.

Diesem Bild kommen in Ostdeutschland Lebende immer noch näher als Frauen im Westen. Laut Bundesagentur für Arbeit ist zwischen Putbus und Plauen die Zahl derer, die sich in einem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis befinden, durchweg höher als zwischen Flensburg und Füssen. Im „Spitzenreiter-Land“ Sachsen arbeiten fast 65 Prozent der Frauen, im Schlusslicht Nordrhein-Westfalen gut 52 Prozent. In Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen sind sogar etwas mehr Frauen berufstätig als Männer. In den anderen Ländern ist es umgekehrt.

Auch empirisch belegbar: Die Bereitschaft von Frauen, nach der Mutterschaftspause wieder vollzeitig in den Beruf zurückzukehren, ist im Osten ebenso ausgeprägter wie die Bereitschaft von Arbeitgebern, Frauen mit Kindern in Vollzeit einzustellen. Ein Grund dafür liegt in der Nachwuchsbetreuung durch Kitas und Kindergärten für Ein- bis Zweijährige. Da steht der Osten mit einer Bedarfsdeckung von 52 Prozent fast doppelt so gut da wie der Westen mit 28 Prozent.

Gute Bildung, Mobilität, große Bereitschaft zur Arbeit, hoher Fremdbetreuungsgrad; solche Faktoren sind fraglos mitverantwortlich dafür, dass es im Osten mehr weibliche Führungskräfte gibt als im Westen und fast jedes dritte Unternehmen diesseits von Elbe und Werra eine Chefin hat. Doch diese Gegenwart ist ohne ihre Prägung durch die DDR-Vergangenheit kaum zu verstehen. Damals war gesetzlich verankert, dass eine Eheschließung die Frauen nicht an der Ausübung eines Berufes hindern durfte und die Öffnungszeiten von Krippen und Kitas, die früh und in großer Zahl gebaut wurden, sich nach den Arbeitszeiten der Mütter richten mussten. Abtreibungen waren bis zur zwölften Woche ohne Einschränkung erlaubt, Scheidungen ein Kinderspiel, ganz anders als im Westen. Folge: Die in Vollzeit berufstätige Frau war in der DDR Normalität.

Männer entscheiden Gleichberechtigung

Dennoch gelang ihre Gleichberechtigung nur zum Teil, trotz gleicher Rechte und theoretisch gleicher Möglichkeiten. Ob Arbeiterin oder Akademikerin: Karrieren oberhalb mittlerer Führungsebenen machten fast nur Männer. Zudem waren wenige Väter bereit, auch die Familien- und Hausarbeit zu teilen, wie Anna Kaminsky bei ihren Recherchen zum Buch „Frauen in der DDR“ herausfand: „Auch in der DDR, wo die Männer das Sagen hatten und darüber entschieden, wann eine Frau gleichberechtigt ist oder nicht, war man der Meinung: Das bisschen Haushalt kriegen die doch mit links gebacken.“

Ganz überwunden wurde das traditionelle Geschlechterverhältnis auch in der DDR demnach nie. In der alten BRD waren die Zustände indes noch viel unausgeglichener, voll berufstätige Mütter eine Seltenheit und Karrierefrauen so exotisch wie gleichberechtigte Männerhände im Haushalt. Bis Ende der Siebziger konnte ein Gatte den Arbeitsvertrag seiner Gattin kündigen. Er – nicht sie – musste lediglich angeben, dass deren „Haushaltspflichten“ unter der Berufstätigkeit litten.

Trotz Einschränkungen bei der Gleichberechtigung in der DDR: Es gehörte und gehört bis heute zum Selbstverständnis der allermeisten ostdeutschen Frauen, für ihren Lebensunterhalt, auch als Mutter, selbst aufkommen zu können und unabhängig zu sein. Sie tun das mal mehr aus freien Stücken, mal weniger.

Schon die DDR hat berufstätige Frauen nicht nur aus ideellen oder ideologischen Gründen benötigt, sondern auch aus ökonomischen. Und Ostdeutschland braucht sie noch heute. Weil die Löhne und Gehälter hier niedriger sind und selbst Frauen, die gerne halbtags arbeiten würden, sich das mit Blick auf ihr Einkommen – erst recht als Alleinerziehende, aber auch in Partnerschaften – oftmals gar nicht leisten können.

Die finanzielle Unabhängigkeit vieler Ostfrauen machte sie auch freier von ihren Männern. Sie ließen sich nicht sagen, was „Sache“ ist. Sie sagten es selber. Die meisten empfanden das als selbstverständlich. Als so normal, dass sie, seit 1989 konfrontiert mit der westlich geprägten Emanzipationsbewegung und dem Feminismus, herzlich wenig damit anfangen können. Sie sind doch schon immer emanzipiert gewesen! Warum also darüber reden oder gar dafür streiten?

Dass Gleichberechtigung erkämpft werden muss, auch außerhalb des Privaten, in der Gesellschaft, der Politik, und ja: in der Sprache und im konkreten Verhalten zwischen Frauen und Männern – viele Ostfrauen halten das bis heute für überflüssigen Westquatsch. Die im Osten geborene Publizistin Simone Schmollack findet für diese Differenzen salomonische Worte: „Das Gefühl der Frauen aus dem Osten, auf Arroganz und Besserwisserei zu treffen, ist so folgerichtig und berechtigt wie der Ärger der Frauen aus dem Westen über das fehlende feministische Bewusstsein.“

Wenig Lust auf Radikale

So viele Unterschiede im Fühlen und im Denken zwischen Ost- und Westfrauen auch fortbestehen: Vieles spricht dafür, dass sie im Laufe der Jahre weiter abnehmen werden. In etlichen Bereichen haben sich die Lebensverhältnisse nach 30 Jahren angenähert bis hinein in die Geburtenraten. So arbeiten Westmütter heute öfter denn je Vollzeit, bleiben Ostmütter „wegen der Kinder“ schon mal länger zu Hause.

Ebenfalls eint viele jener Ost- und West-Frauen, die sich als „modern“ empfinden: ihr notgedrungen toleranter bis skeptisch ablehnender Blick auf Geschlechtsgenossinnen, die sich für eine „traditionelle“ Frauenrolle entscheiden. Eben für das Daheimbleiben, solange die Kinder noch nicht „aus dem Gröbsten raus“ sind. Wie kann sie nur!, stöhnt die Selbstständigkeit gewohnte Ostfrau im Chor mit der feministischen Westfrau.

Noch etwas Prägnantes verbindet die Bundesbürgerinnen. In enger Verschwisterung von Ost- und Westfraulichkeit zeigen sie in ihrem Wahlverhalten, auch in Sachsen: Sie haben deutlich weniger für Radikale und Extremisten übrig als Männer. Und je jünger sie sind, desto pluralistischer und liberaler sind ihre politischen und damit gesellschaftlichen Vorstellungen. Dass diese Eigenschaften vorbildlich und zukunftsträchtig sind, wird kaum noch bestritten. Außer natürlich von Männern.


Die Serie "30 Jahre Mauerfall - 30 Jahre Wir" von sächsische.de erinnert mit mehr als 100 Porträts, Essays, Reportagen und Videos an die Friedliche Revolution 1989. Alle Beiträge finden Sie hier in der Themenwelt auf sächsische.de. 

Wie haben Sie die letzten 30 Jahre erlebt? Erzählen Sie es uns. Wir laden Sie am 30. Oktober um 20 Uhr dazu ins Dresdner Haus der Presse ein. Interessierte schicken zuvor bitte eine Mail mit dem Betreff „Erzählsalon“ an [email protected].

Am 9. November feiern wir eine Ost-West-Party im Dresdner Parkhotel mit Musik, Mode und Kulinarik aus den 80ern samt Mauerfall. Infos: www.ostwestparty.de

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