SZ + Sachsen
Merken

Warum stach der Dresdner Messermörder zu?

Ein junger Syrer soll einen Touristen in Dresden getötet haben. War Hass auf Homosexuelle das Motiv? Das Verbrechen wirft viele Fragen auf.

Von Karin Schlottmann
 11 Min.
Teilen
Folgen
Dieses Messer fand die Polizei am Tatort.
Dieses Messer fand die Polizei am Tatort. © Roland Halkasch

Die Trauerkränze sind weg. Nach einem Gedenkort sieht es hier beim besten Willen nicht mehr aus. Die kleine Gasse hinter dem Kulturpalast steht voll mit Containern und Baufahrzeugen. Ein Verkäufer in der Bäckerei gegenüber sagt, Bauarbeiter hätten die Blumengestecke und Kerzen beiseite geräumt. In der Schloßstraße an der Ecke zur Rosmaringasse finden Passanten am 4. Oktober gegen halb zehn Uhr abends zwei schwerverletzte Männer. Sie liegen mit Stichverletzungen am Boden. Thomas L., 55 Jahre alt, stirbt kurz darauf im Krankenhaus, sein Freund Oliver L. kommt mit schweren Verletzungen davon.

Bei der Beerdigung am 6. November auf dem Hauptfriedhof in Moers-Hülsdonk haben die Angehörigen ein Foto des Toten aufgestellt. Es zeigt einen Mann, der jünger aussieht, als er tatsächlich war. Entschlossener Blick, Dreitagebart, schwarzes Polo-Hemd. „Ich habe mit Thomas alles gesehen“, sagt Oliver vor den Trauergästen. „Ohne ihn kann ich nichts mehr sehen.“ Gut zwei Wochen nach dem Mord wird der mutmaßliche Täter verhaftet.

Schon 2018 stand Abdullah H. H. wegen Planung eines Anschlags vor Gericht.
Schon 2018 stand Abdullah H. H. wegen Planung eines Anschlags vor Gericht. © Christian Essler/xcitePRESS

Es ist der 20-jährige Syrer Abdullah H. H. Ein islamistischer Fanatiker, der 2017 wegen eines geplanten Terroranschlags in Dresden verurteilt wurde und unter Beobachtung stand. DNA-Spuren am Körper des Opfers bringen die Ermittler auf seine Spur. Das Sondereinsatzkommando muss nicht lange nach ihm suchen. Sein Handy ist in der Gegend einer Einkaufsstraße der Dresdner Innenstadt eingeloggt. Der Syrer, heißt es später, habe keinerlei Widerstand geleistet.

Aufgeklärt ist die brutale Tat damit noch nicht. Hass auf Homosexuelle könnte das Motiv sein, lautet eine Vermutung. Aber was wusste der Syrer wirklich über die beiden Männer, die er an dem Sonntagabend in der Dresdner Altstadt überfiel? Aus Sicherheitskreisen heißt es, es fehle an Anhaltspunkten dafür, dass er die beiden als Paar wahrgenommen haben könnte. „Die Tat war geplant, das war keine Affekthandlung. Das Messer hatte er sich vorher besorgt.

Ich wäre vorsichtig mit Homophobie als Tatmotiv“, sagt auch Thomas Mücke. Er ist Geschäftsführer einer Organisation namens Violence Prevention Network, die sich die Deradikalisierung von Extremisten zur Aufgabe gemacht hat. Der Syrer habe die ganze Zeit gewusst, dass er observiert wird. Tatsächlich taucht er nicht unter. Er flüchtet nicht in die Türkei, sondern bleibt in Dresden. Womöglich, sagt Mücke, war es ihm egal und er ist einem Drehbuch gefolgt, dass er seit Langem im Kopf hatte.

Wer ist der Mann, den die Ermittler verhaftet haben?

Der kaltblütige, tödliche Überfall wirft viele Fragen auf. Wer ist der Mann, den der Generalbundesanwalt für den Täter hält? Was hat ihn angetrieben und wer hätte die Tat verhindern können? Abdullah H. H. kam am 22. Oktober 2015 als Flüchtling nach Deutschland. Er stammt nach eigenen Angaben aus der Nähe von Aleppo. Bis zur Flucht lebt er bei seinen Eltern und den acht Geschwistern. Der Vater ist Landwirt und verdient sein Geld mit dem Verkauf von Benzin und Heizöl. Nachdem die Schule 2006 bei einem Angriff zerstört wurde, bricht er den Schulbesuch ab und hilft seinem Vater. Mit 14 Jahren verlässt er die Heimat. Er lebt in der Türkei zeitweise auf der Straße und finanziert sich mit Gelegenheitsjobs, heißt es in einem Gerichtsurteil. Nach einem Jahr kehrt er nach Syrien zurück.

2015 gelangt er mit Tausenden seiner Landsleute mithilfe von Verwandten über die Türkei, Griechenland, die Balkanroute und Österreich nach Deutschland.Die Gründe, warum er sich auf den langen und gefährlichen Weg nach Deutschland macht, bleiben vage. Ob er als gewaltbereiter Dschihadist einreist, ist ungeklärt.

Zweifellos hat er ein festes, geschlossenes Weltbild und einen starken Überlebenswillen, ohne den er mit 14 Jahren den Trip nach Deutschland nicht geschafft hätte. Das Bundesamt für Migration und Asyl (Bamf) verzichtet im Herbst 2015 auf mündliche Anhörungen. In dem Fragebogen habe er seinen Asylantrag begründet mit der Furcht, in Syrien wegen Rasse, Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe verfolgt zu werden, teilt das Bamf auf Anfrage mit. Er muss auf dem Formular nur ein Kreuz an der entsprechenden Stelle setzen. Einen Pass oder andere Papiere legt er nicht vor.

Kriminaltechniker sichern Spuren am Tatort.
Kriminaltechniker sichern Spuren am Tatort. © Archiv/Roland Halkasch/dpa

Ob der unbegleitete minderjährige Flüchtling einen Amtsvormund erhält, weiß das Bamf nicht. Schon nach einigen Monaten gibt es Ärger. Ein Jugendlicher soll sich herabsetzend geäußert haben, über seine Mutter, die Schwestern und den Propheten Mohammed. Abdullah H. H. schlägt ihm ins Gesicht und droht ihm per Whatsapp in arabischer Sprache. „(...) Du Hurensohn. Ich schlachte dich heute. Du weißt ja gar nicht, mit wem Du spielst. Du hast eine große Klappe und ich werde deine Zunge abschneiden, du Christ. Und wenn ich zu hundert Jahren verurteilt werde, werde ich dir zeigen, wer wir sind.“Abdullah H. H. wird beim Schwarzfahren erwischt und beschädigt auf dem Polizeirevier eine Wand. Im Januar 2016 erhält er Hausverbot in seiner ersten Unterkunft und zieht um.

In der Folgezeit radikalisiert sich Abdullah H. H. zusehends, schreiben seine Richter später. Auf seinen Facebook-Seiten finden die Behörden dschihadistische Inhalte, ein IS-Logo, Flaggen, Parolen und Videos. Er mahnt zur Einhaltung religiöser Regeln in salafistischer Form und sieht sich Aufnahmen von grausamen Hinrichtungen an. In Chats mit IS-Anhängern denkt er über die Möglichkeit einer Ausreise nach Syrien nach, um sich dort dem Islamischen Staat anzuschließen, von dem er sich in seiner Heimat eigentlich bedroht fühlte. Ein Anschlag „für den IS“ auf deutschem Boden hält er ebenfalls für denkbar. „Wir schlachten ausschließlich diejenigen, die vom Glauben abfallen“, schreibt er einem Gesprächspartner. Wie alle Islamisten hält er sich für einen Bewahrer des „wahren Islam“. Bei seinen Gesprächspartnern bemüht er sich um eine Bauanleitung zur Herstellung eines Sprengstoffgürtels sowie um Instruktionen für dessen Einsatz.

Leitfaden für Märtyrer wie im Fall Anis Amri

Abdullah H. H. ist fest entschlossen, für seine Ideologie zu kämpfen. Er weiß nur noch nicht genau, wie. In einer seiner Chatgruppen lernt er im Juli 2017 Fatema A. kennen – wie er syrischer Flüchtling in Sachsen und IS-Anhängerin. Nach Ansicht der Sicherheitsbehörden war es Fatemas Aufgabe, alleinstehende junge Männer für den Terror zu gewinnen. Der Jugendliche ist ein dankbarer Gesprächspartner. Er fühle sich einsam und habe außer der sporadischen Teilnahme an Deutschkursen keine Kontakte zu Menschen, erzählt er im Strafprozess gegen Fatema A. als Zeuge. Die Internet-Chats mit Gleichgesinnten sind sein einziger Kontakt zur Außenwelt. Der Kontakt zu den Eltern ist abgebrochen.

Blumen und Kränze liegen Anfang November zur Erinnerung an den Mord in der Dresdner Schloßstraße.
Blumen und Kränze liegen Anfang November zur Erinnerung an den Mord in der Dresdner Schloßstraße. © Sven Ellger

Die beiden unterhalten sich per Whatsapp, sie schickt ihm Audiodateien und Texte mit IS-Propaganda. In religiösen Dingen kennt er sich nicht gut aus, gesteht er und so erläutert sie ihm die „Doktrin der Loyalität und Lossagung“, die von ihren Anhängern fordert, sich gegenüber wahren Muslimen als loyal und gegenüber nicht Muslimen als feindselig zu zeigen. Es ist ein zentraler Teil der Lehre des Islamischen Staates. Fatema vermittelt ihn zu einem Marokkaner, der dem damals 17-Jährigen ebenfalls per Chat den den Treueschwur auf den inzwischen getöteten IS-Anführer Abu Bakr al Bagdadi näher bringt.

Als mögliche Anschlagsziele sucht er sich das Festgelände an der Yenidze in Dresden und die Filmnächte am Elbufer aus. Im August 2017 lädt er sich die IS-Propagandaschrift „Die rechtsgeleitete frohe Botschaft für diejenigen, die Märtyreroperationen durchführen“ auf sein Handy. Sie diente schon dem Terroristen Anis Amri zur spirituellen Vorbereitung auf das Attentat gegen den Berliner Weihnachtsmarkt mit zwölf Todesopfern. Die Ermittlungsbehörden in Sachsen wollen jetzt nicht länger zuschauen. Sie nehmen Abdullah H. H. fest. Das Oberlandesgericht Dresden verurteilt ihn 2018 wegen Anleitung zur Begehung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren und neun Monaten.

Auch die Zeit in der Jugendstrafanstalt ist nicht frei von Konflikten. Zwar sind handfeste Auseinandersetzungen unter jungen Gefangenen nicht ungewöhnlich, Übergriffe auf Mitarbeiter aber die Ausnahme. Abdullah H. H. geht gleich zwei Mal auf Bedienstete los. Weil er sich beim Gebet gestört fühlte, schlägt er einem Bediensteten mit der Faust ins Gesicht. Mücke sagt, bei solchen Angriffen geht es nicht um Religion oder ums Gebet. Muslime, die beten wollen, lassen sich nicht so leicht von anderen stören. Er hält die Attacke für einen Ausdruck seiner extremistischen Haltung. Ein anderes Mal reagiert Abdullah H. H. ebenfalls mit einem Fausthieb ins Gesicht eines Beamten, der in den Haftraum schicken will. Das Amtsgericht Leipzig erhöht danach die ursprüngliche Jugendstrafe auf insgesamt drei Jahre und einen Monat.

"Es war kein Signal zu erkennen"

Der Verfassungsschutz und die Staatsschutz-Abteilung des Landeskriminalamtes sind schon Monate vor der Entlassung des Mannes aus der Haft nervös. Auch das Gemeinsame Terror- und Abwehrzentrum in Berlin berät über den Gefährder. Sachsens Sicherheitsbehörden halten eine rund-um-die-Uhr-Bewachung eigentlich für nötig, können aber einen intensiven Einsatz über einen längeren Zeitraum nicht aus eigener Kraft stemmen. In brisanten Lagen wie diesen ist es üblich, andere Verfassungsschutzämter um personelle Unterstützung zu bitten, heißt es in Sicherheitskreisen. Das Landesamt greift auf diese Möglichkeit nicht zurück. Die Folge: Das Observationsteam, dass die Verfolgung übernimmt, ist im entscheidenden Moment nicht zur Stelle.

Es gibt Versuche, Abdullah H. H. im Gefängnis zur Abkehr vom Dschihad zu bewegen. Anfangs habe der Syrer Gespräche abgelehnt, sagt Mücke. Als er schließlich doch mitmachen will, verhindert der Corona-Lockdown Besuche in der Anstalt. Im Sommer, als Mückes Mitarbeiter dann doch mit ihm reden können, dreht sich alles um die bevorstehende Haftentlassung. Der Vorschlag der Behörden, er solle freiwillig in die Türkei zurückkehren, lässt sich nicht realisieren. Seinen Flüchtlingsstatus hat die Asylbehörde längst widerrufen. Theoretisch war er mit der Entlassung aus der Haft zur Ausreise verpflichtet.

Anders als im Fall des Weihnachtsmarkt-Attentäters Anis Amri, bei dem die Sicherheitsbehörden die Anzeichen auf den bevorstehenden Anschlag nicht richtig deuten konnten, erkennen Polizei und Nachrichtendienst in Sachsen die drohende Gefahr früh genug. Trotzdem können sie Thomas L. nicht retten. Offenbar fehlen Behörden und Politik Instrumente, um zu allem entschlossene islamistische Gefährder zu stoppen. Vorbeugende Haft für Gefährder sieht das deutsche Recht nicht vor und Abschiebungen nach Syrien wurden bis auf Weiteres ausgesetzt.

Ein Täter, dem alles egal ist?

Wieder in der Freiheit, vergehen nur wenige Tage, bis sich Abdullah H. H. bei Woolworth in Dresden Küchenmesser anschafft. So bizarr es klingt, aber gegen die strengen Auflagen der vom Gericht verhängten Führungsaufsicht, die ihm unter anderem den Umgang mit Stich- und Schusswaffen verbot, verstößt er nicht. Gegenstände, die in einem „durchschnittlichen Haushalt erforderlich sind“, sind vom Verbot ausdrücklich ausgenommen.

Auch sonst hält er sich an die Regeln. Er geht zum Bewährungshelfer, meldet sich drei Mal die Woche bei der Polizei und trifft sich wie vorgeschrieben mit Mitarbeitern von Violence Prevention Network. Das erste Gespräch führen sie am 5. Oktober mit ihm, einen Tag nach dem Mord an Thomas L. Abdullah H. H. kommt gerade von der Polizei, wo er sich weisungsgemäß meldet. Die Dienststelle liegt in der Innenstadt und so sprechen die Sozialarbeiter beim Spaziergang durch die Altstadt mit ihm. Der Weg führt sie auch durch die Schloßstraße, am Tatort vorbei. Abdullah H. H. habe keine Reaktion gezeigt, sagt Mücke. „Wir haben nicht gemerkt, dass wir es mit einer Person zu tun haben, die zuvor einen Mord begangen hat“.

Drei Mal trifft sich der Syrer noch mit dem Deradikalisierungs-Team. Beim letzten Gespräch am 19. Oktober suchen die Sozialarbeiter die Konfrontation mit ihm. Es geht um Religion. Die Sozialarbeiter wollen herausfinden, ob er andere Meinungen aushält, ob er ruhig bleibt und selbstständig denkt. Ein schwieriges Gespräch. Am 20. Oktober wird er festgenommen. War der Mord an Thomas L. ein Terrorakt oder wollte er sich womöglich auf einen noch größeren Anschlag vorbereiten, wie Mücke vermutet? Das größte Problem sind Täter, denen alles egal ist, sagt er. „Nach der Festnahme sind wir jede Sequenz der Gespräche noch einmal durchgegangen. Es war kein Signal zu erkennen.“

Mitarbeit Jonah Lemm, Kölner Stadt-Anzeiger