Flucht durchs Osterzgebirge: Sachsens NS-Gauleiter Martin Mutschmann tauchte einst hier unter
Von Matthias Schildbach
Als am 9. März 1879 dem Hirschberger Schuhmachermeister August Louis Mutschmann von seiner Frau Sophie ein Söhnlein namens Martin geboren wurde, ahnte wohl niemand, dass aus dem Buben mit den Jahren eine der berüchtigsten sächsischen Persönlichkeiten des kommenden Jahrhunderts werden würde. Der Junge entwickelte sich prächtig und wurde nach dem Besuch der Handelsschule in Plauen Stickermeister in der Textilindustrie.
Rasch stieg er auf und schaffte es bald zum Geschäftsführer, dann Besitzer eines mittelständischen Unternehmens. Als die Geschäfte ab 1912 wegen der Balkankriege und hoher amerikanischer Zollbeschränkungen nicht mehr liefen, war es Martin Mutschmann, der allen voran die Juden dafür verantwortlich machte und im August 1914 jüdische Geschäftsleute in Plauen attackierte.
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Seine ideologische Heimat fand er nach dem Ersten Weltkrieg in der NSDAP, bereits 1922 wurde er Mitglied. Seine Parteikarriere ist als glänzend zu bezeichnen: Hitler ernannte ihn 1925 zum Gauleiter für Sachsen, nach der Machtergreifung 1933 wurde er Sachsens Reichsstatthalter, Anfang 1935 Ministerpräsident. Damit war er der unangefochtene Stellvertreter Adolf Hitlers in Sachsen. Mutschmann stach heraus durch die von ihm initiierte Verfolgung von politischen Systemgegnern, seinen Judenhass lebte er in seinen Ämtern aus. Er soll egozentrisch und selbstherrlich aufgetreten sein, unter den Sachsen war er unpopulär.
"Es ist alles verloren"
Als das Ende des Krieges nahte, erklärte Gauleiter Mutschmann am 16. April 1945 Dresden zur Festung, rief die Bevölkerung zur bedingungslosen Verteidigung bis zum letzten auf. In diesen Tagen setzte er sich für die hemmungslose Durchsetzung von Todesurteilen gegenüber desertierten deutschen Soldaten, selbst gegen hochrangige Personen im NS-Staat, ein.
Am 5. Mai wurde der Verteidigungsbereich Dresden aufgegeben. An diesem Tag stand die Rote Armee bereits vor Dresden-Klotzsche und vor Wilsdruff. Es galt nun, den Erzgebirgskamm als letzte Verteidigungslinie aufzubauen. In der Gau-Behelfszentrale im Lockwitzgrund, dem Bergkeller der dortigen Kelterei, soll Mutschmann am 7. Mai das erste Mal geäußert haben: "Es ist alles verloren."
In völliger Verblendung der militärischen Lage versuchte er, im Jagdschloss Grillenburg den Regierungs- und Wohnsitz einzurichten, während im Bergkeller im Lockwitzgrund die Gauführung bleiben sollte. Als sich am 7. Mai sowjetische und deutsche Panzer in Wilsdruff und Klipphausen beschossen, die ersten russischen Panzerspitzen den Tharandter Wald westlich umgangen und bereits vor Frauenstein standen und sich die Masse der deutschen Heerestrümmer, vermischt mit unzähligen zivilen Flüchtlingen die Gebirgsstraße hinauf in Richtung Altenberg zwängten, begab sich Gauleiter Mutschmann noch in seinen „Sitz der Gauführung“ im Lockwitzgrund.
Konfrontiert mit der Lage, dass fast ganz Dresden von der Roten Armee eingenommen war, begann Mutschmanns abenteuerliche Flucht am 8. Mai. Zusammen mit seinem Vertrauten Werner Schmiedel, dem Direktor der staatlichen Aktiengesellschaft Sächsische Werke (ASW), floh er in einem PKW. Doch der Motor des Fahrzeugs versagte, in Pirna trieben sie Ersatz auf. Wertvolle Zeit war verloren. Der Weg über Dohna, Weesenstein und Schlottwitz wurde zur Sackgasse, alles war verstopft mit zurückflutendem Militär und Flüchtlingen.
Die Flucht ging zu Fuß weiter
In Glashütte blieben sie stecken und übernachteten dort. Am nächsten Morgen, dem 9. Mai war der Krieg vorbei. Mutschmann und Schmiedel wurden von den einrückenden Russen überrascht, flohen unter Zurücklassung all ihrer Habseligkeiten in die nahen Wälder. Vielleicht war es der nahe Hochwald bei Oberfrauendorf und Schmiedeberg, der ihnen Schutz und Deckung verlieh: Die nächste Nacht verbrachten sie dort und schmiedeten Fluchtpläne. Mutschmann fiel nichts Besseres ein, als zu versuchen, Grillenburg zu erreichen. Der achtstündige Fußmarsch führte sie vorbei an Ulberndorf, Reichstädt, Beerwalde und Klingenberg. Am Abend des 10. Mai erreichten sie Grillenburg und versteckten sich in einem Jägerhäuschen außerhalb des Ortes.
Erst am Morgen des 14. Mai entschlossen sich Mutschmann und Schmiedel, ihre Flucht nach Oberwiesenthal fortzusetzen. Hier glaubten sie die Reste der Gauregierung und Mutschmanns Frau zu finden. Am 15. Mai trafen sie in Oberwiesenthal ein und fanden inkognito Quartier. Hier erfuhr Mutschmann, dass seine Frau Minna wenige Tage zuvor tatsächlich angekommen sei und in die etwa fünf Kilometer westlich gelegene Ortschaft Tellerhäuser verschwunden sei.
Schmiedel und Mutschmann folgten dem Hinweis und begaben sich am 16. Mai dorthin. In einem abgelegenen Haus, 200 Meter vor der tschechischen Grenze, wurden sie schließlich mitten in der Nacht von einem neunköpfigen Kommando widerstandslos verhaftet, nachdem ein anonymer Anruf beim Oberwiesenthaler Bürgermeister eingegangen war.
Auslieferung nach Moskau
Die „Tageszeitung für die deutsche Bevölkerung“ veröffentlichte am 2. Juni 1945 ein Interview mit dem Gefangenen Mutschmann. Hier schilderte er selbst seine Flucht durchs Osterzgebirge: "Nach dem Einrücken der Russen hielt ich mich einen Tag lang in einem Wald bei Glashütte auf. Dann lief ich zu Fuß über Cunnersorf, Grillenburg – meinem letzten Wohnsitz – nach Tellerhäuser. Ich suchte dort meine Frau. Bei mir befand sich der Direktor des Elektrizitätswerkes von Dresden. Wir übernachteten bei einem Bauern. Ich glaubte unerkannt zu sein.
Plötzlich wurden wir während der Nacht geweckt und von Einwohnern festgenommen. Als mich bei der Überführung einige Leute erkannten, gab es sofort einen großen Auflauf. Im Nu hatten sich etwa 500 personen um mich versammelt. Viele riefen ganz laut: Da ist das Schwein Mutschmann! Man spuckte mich an und schlug mich ins Gesicht."
Am 28. Mai 1945 flog man ihn nach Moskau aus. Vom KGB einem Verhör nach dem anderen ausgesetzt, fiel es nicht schwer, belastendes Material gegen Mutschmann zu finden. Zumal andere Gefangene der sächsischen NS-Politprominenz in den Verhören alles dafür taten, ihre Schuld auf den Gauleiter abzuwälzen. Glaubwürdigkeit spielte dabei kaum eine Rolle.
Für die sowjetischen Untersuchungsbehörden kristallisierten sich gegen Mutschmann vier Verbrechenskomplexe heraus: 1. Judenverfolgung, 2. Euthanasieverbrechen, 3. Verfolgung politischer Gegner und 4. Kriegsverbrechen.
Mutschmann nahm sein Urteil widerspruchslos an
Am 30. Januar 1947 fand die geheime, abschließende Gerichtsverhandlung statt. Mutschmann, psychisch wie physisch geschwächt, legte keinerlei Einsprüche oder Einwände gegen das Gericht ein, er nahm alles hin, wie es geschah. Er gab zu, was ihm zweifelsfrei bewiesen werden konnte und lehnte Verantwortung ab, wo er sie auf Vorgesetzte, auf Hitler selbst oder Reichsministerien abschieben konnte.
Er bekannte sich für nicht schuldig. In seiner Abschlusserklärung erklärte er: „Ich bitte, mir zu glauben, dass meine gesamte praktische Tätigkeit ausschließlich administrativer Natur war, und nicht politischer. Mit Festnahmen habe ich mich nie beschäftigt […] Ich hielt es [mit 'es' sind die Judenpogrome gemeint, d.Red.] nicht für ungesetzlich, weil wir gegen die Ausdehnung der jüdischen Herrschaft in Europa waren.“
Drei Tage nach der Urteilsfällung „Tod durch Erschießen“ wurde es vollstreckt. Sein Scharfrichter war der sowjetische Major Vasili Blochin, der Leiter der damaligen Kommandantenabteilung des berüchtigten Moskauer Gefängnisses Lubjanka, dem seit 1926 bis zu 15.000 Erschießungen nachgesagt werden. Eine deutsche Pistole des Fabrikats Walther setzte am 14. Februar 1947 einen Schlusspunkt unter Mutschmanns Leben.
- Buchtipp: Mike Schmeitzner: „Der Fall Mutschmann – Sachsens Gauleiter vor Stalins Tribunal“, erschienen im Sax-Verlag, Preis: 14,80 €