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Ein dunkles Zeitalter: Als noch jedes zweite Kind im Osterzgebirge sterben musste

Viren und Infektionen waren in alten Zeiten tödliche Gefahr. Säuglinge und Kleinkinder fielen ihnen häufig zum Opfer. Wie konnten Familien damit umgehen?

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Um Säuglinge und Kinder bei Krankheit vor dem Tod zu bewahren, 			nutzte man althergebrachte Naturheilkunde. Half die nicht, blieben nur 			die Gebete.
Um Säuglinge und Kinder bei Krankheit vor dem Tod zu bewahren, nutzte man althergebrachte Naturheilkunde. Half die nicht, blieben nur die Gebete. © Matthias Schildbach

Von Matthias Schildbach

Das folgende Szenario ist noch aus der letzten, alljährliche Grippesaison im Winter bestens bekannt: Warteschlangen vor den Kinderarztpraxen, mitunter bis ins Treppenhaus, genervte Arbeitgeber, weil reihenweise Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen wegen „kindkrank“ ausfallen und Eltern, die bei der Pflege der Kinder oft im Strudel von Infektion und Reinfektion gefangen sind. Die Kinder indes bekommen altbewährte Hausmittel und wenn das nicht hilft, richtet es der Fiebersaft oder die medizinische Versorgung.

Doch das war nicht immer so. Noch vor 130 Jahren war vor allem die winterliche Krankheitssaison ein Vabanquespiel mit dem Leben der Kinder, die noch in den ersten fünf Lebensjahren steckten. Sichergestellte Pflege, auf Wissenschaft basierend hergestellte Arzneimittel, der Arzt um die Ecke – all das gab es noch nicht. Und so verwundert es auch nicht, dass die durchschnittliche Kindersterblichkeit in Deutschland um 1890 noch bei etwa 35 Prozent lag, bis 1840 gar bei etwa 45 bis 50 Prozent. Heute liegt sie bei 0,38 Prozent (2006), ein historischer Tiefststand.

Erschütternde Statistiken im Osterzgebirge

Der Tod von Kindern war nicht nur selten, sondern sogar überwiegend, wie diese Grabplatte aus dem Jahr 1674 zeigt.
Der Tod von Kindern war nicht nur selten, sondern sogar überwiegend, wie diese Grabplatte aus dem Jahr 1674 zeigt. © Matthias Schildbach

Ein Blick in die Begräbnisbücher des Dippoldiswalder Kirchenbezirkes offenbart die Ausmaße des Kindersterbens. Das willkürlich aufgeschlagene Jahr 1775 der Stadt Rabenau zeigt, dass von den 13 registrierten Begräbnissen sieben Kleinkinder bzw. Säuglinge waren. Das ist mehr als die Hälfte. Todesursachen waren die Masern, oftmals mit der Staupe gleichgesetzt, „böses Wasser“ (Trinken von verunreinigtem Wasser), „böser Ausschlag“ und „Steckfluß“, gemeint ist damit eine entzündliche Erkrankung der Atemwege. Man nutzte diese Sammelbegriffe für viele Krankheiten, da man sie im Einzelnen noch nicht zu differenzieren wusste. Unter den 51 Begräbnissen 1756 in Döhlen, später Teil von Freital, waren 23 Kinder, sieben davon waren Säuglinge. Hier wurden keine Todesursachen benannt.

Meint man, dass die Sterblichkeit auf dem Land höher gewesen ist als in der Stadt, wo es einen Stadtarzt gab und eine Apotheke ansässig war, so widerlegt die Begräbnisstatistik Dippoldiswaldes für 1794 diese Annahme: Von 87 Begräbnissen entfielen ganze 54, also 62 Prozent, auf die Beisetzung von Kindern. Besonders auffällig ist das Sterben unter Säuglingen im ersten Lebensjahr. Auch in diesem Begräbnisbuch sind keine Todesursachen angegeben.

Der Glaube an das Paradies half den Hinterbliebenen

Der frühe Tod der Kinder wurde als von Gott gegeben akzeptiert. Emotional versuchten sich die Eltern vor dem enormen Leid zu schützen, indem sie gegenüber den ganz kleinen Kindern ihre Gefühle weitgehend verbargen. Eine unvorstellbare Situation aus der heutigen Sichtweise. Der Umgang mit Trauer und Tod hat sich während der letzten Jahrhunderte stark gewandelt. Der Tod war damals viel mehr Teil des Lebens.

Das durchschnittliche Lebensalter lag bedingt durch die hohe Kindersterblichkeit bei nur 35 Jahren. Viel öfter wurden die Menschen mit dem Verlust Angehöriger konfrontiert. Der christliche Glaube versprach den Hinterbliebenen, dass die Verstorbenen in eine bessere, eine paradiesische Welt gegangen waren. Man starb auch nicht allein, die Familie war zugegen. Der Tote blieb im Hause, und zum Friedhof wurde der Sarg von den Angehörigen, Freunden und Nachbarn getragen. Das Erlebnis um den Verlust eines Angehörigen ging also alle etwas an, jeder nahm daran teil. Kinder wurden schon frühzeitig mit diesen Ritualen konfrontiert.

Waren die Kinder aus dem Kleinkindalter herausgewachsen, war das Gröbste überstanden. Nahezu jeder hatte Geschwister, die ihre Kindheit nicht überlebt hatten. Auf diesem Bild aus der Zeit um 1910 sind Geschwister aus Mügeln (heute Heidenau) zu sehen.
Waren die Kinder aus dem Kleinkindalter herausgewachsen, war das Gröbste überstanden. Nahezu jeder hatte Geschwister, die ihre Kindheit nicht überlebt hatten. Auf diesem Bild aus der Zeit um 1910 sind Geschwister aus Mügeln (heute Heidenau) zu sehen. © Matthias Schildbach

Heute findet Sterben im Verborgenen statt, geht nur die allernächsten Angehörigen etwas an, das Pflegepersonal oder der immer einsamer werdende, kaum noch einem Glauben angehörende alte Mensch stirbt allein und im wahrsten Sinne des Wortes – gottverlassen. Beileid reduziert sich auf eine Kondolenzkarte, einen Geldschein, vielleicht auf die Teilnahme an der Beisetzung. Ansonsten will man mit dem Thema möglichst nicht konfrontiert werden.

Der gesellschaftliche Wandel sorgte für das kleiner Werden der Familien, Großfamilien gab es kaum noch. Der Tod wurde zu einem seltenen Vorfall und damit oft als schwerer Schicksalsschlag gewertet. Der Glaube an Gott verlor an Einfluss, man fand keinen Trost mehr in der Religion.

Selbst die Bestattung der Toten auf Kirchhöfen, die oft inmitten der Stadt lagen, also die Bestattungsorte erreichbar waren, „inmitten der Gesellschaft“, wandelte sich: Die Beispiele Pirna und Dippoldiswalde zeigen es überdeutlich. Die um die Kirchen angelegten Friedhöfe wurden aufgelöst, neue weitaus größere Friedhöfe vor den Toren der Stadt angelegt. Manchmal weit weg vom Alltag der Menschen. Sie entzogen sich der Erreichbarkeit oft hochbetagter Hinterbliebener, oder machten sie zumindest schwerer.

Naturheilmittel vs. moderne Pharmazie

Doch nicht immer gewann der Tod den Kampf mit Krankheiten. Bereits im Mittelalter kannten die Menschen in der Region die heilsame Wirkung von Pflanzen, Kräutern, Wärme und Kälte. Und die damals noch viel natürlichere Region zwischen dem Lausitzer Bergland und dem Osterzgebirge gab so manche Heilpflanze her. Das Wissen wurde mündlich weitergegeben, ab dem 18. Jahrhundert dann auch schriftlich in Form von Rezeptbüchlein.

Der Hof-Medikus Oswald Gäbelthaur verfasste im Auftrag seines Landesherrn ein „Nützlich Arzney Büchlein Darinn begriffen und verfasset sind / etliche besondere / bewährte und auserlesene Artzneyen“ zum allgemeinen Gebrauch, so man denn überhaupt des Lesens mächtig war. Es erschien im Jahre 1543. Was beeindruckt, ist das Wissen um die Heilkraft manch einheimischer Pflanze, wobei die Zusammenmischung oft willkürlich erscheint:

So wurde beispielsweise empfohlen für das „Halswehe / das offt umbgehet / daß den Leuten ein gelber oder weisser Schleim herauß wächset / daß inen wirdt / als wollten sie ersticken: Nimm Kerngertenblüt / oder / wann das Kraut dürr ist / so nimm der fördersten Gipffelin eins Fingers lang zwey Lot / Heydrosenknöpff zwey Lot send es in einer Maß fliessendes Wasser in einem newen Hafen / biß es umb ein uberzwerchen Finger eyngesendt / unnd laß es verdeckt an einander erkalten / nimms in Mund / und gurgle mit / das thu alle viertheil Stund / so lang biß es besser wirdt“.

Ein nützlicher Trank für den Husten war folgende Rezeptur: „Nimm Ispen eine Hand voll / Salbeyblätter / Steinwurtzel / Alantwurtzel / Süßholtz / Ents / Fenchel / rote Rosen / jedes eine Hand voll. Sende es in Brunnenwasser vier Finger eyn / Gib dem Krancken Abends unnd Morgens einen guten Trunck warm.“

Man darf bei all diesen Betrachtungen durchaus ein Fazit ziehen: Die Kraft der Naturheilmittel basiert auf jahrhundertealtem Wissen und sollte, natürlich in Abwägung des einzelnen Krankheitsfalles, durchaus neben moderner Pharmazie seinen Platz haben. Über alle Maßen dankbar darf man sein, dass es die enorme Kindersterblichkeit, die in unserer Region noch vor über einem Jahrhundert als unfassbar normal galt, überwunden ist. Mit dem Bewusstsein der Endlichkeit gingen unsere Altvorderen natürlicher um als wir heute. Vielleicht hilft es, sich bewusst zu machen, dass auch der Tod ein ganz natürlicher Bestandteil des Lebens ist. Ab und an daran zu denken, kann zumindest nicht schaden.