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Der "Banksy von Charkiw" und ein kämpferischer Pazifist

Dirk Großer besuchte seit Sommer 2022 mehrmals Künstler in der Ukraine. Der Film, der am Sonntag auf der 9. Künstlermesse in Dresden Premiere hat, zeigt eine überraschend vitale Szene.

Von Birgit Grimm
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Hamlet, der „Banksy von Charkiw“, bekam von einem Offizier den Befehl zu malen. Hier steht er vor einem seiner Werke in seiner Stadt.
Hamlet, der „Banksy von Charkiw“, bekam von einem Offizier den Befehl zu malen. Hier steht er vor einem seiner Werke in seiner Stadt. © Dirk Großer

Viele ukrainische Künstlerinnen haben seit Kriegsbeginn ihre Heimat verlassen. Viele Künstler sind geblieben. Zum Beispiel der Street-Art-Maler Hamlet Zinkovski. Zur Armee wurde er nicht eingezogen. Er malt auf Befehl. Den Auftrag bekam er während der russischen Belagerung von einem Armeekommandanten, dazu eine kugelsichere Weste. Der „Banksy von Charkiw“, der bis dato in der Welt unterwegs war, zieht nun durch seine Stadt und bringt Kunst auf die Bretter, die Leben schützen sollen. Auf vernagelten Türen und Fenstern hinterlässt er seine Murals. Außerdem gehört er einer Gruppe wagemutiger Zivilisten an, die die Armee unterstützt, wo immer ihre Hilfe gebraucht wird.

Besondere Kunst unter besonderen Bedingungen

Im Ukrainekrieg bewahrheitet sich einmal mehr die These, dass unter besonderen Bedingungen besondere Kunst entsteht. Und dass sie politisch sein muss, das sagen alle, die Dirk Großer in der Ukraine besucht hat seit Sommer 2022. Überrascht hat ihn das nicht, ist er doch selbst ein Mann, der sich immer wieder einmischt mit seiner Kunst. Das Torhaus im beschaulichen Städtchen Wehlen in der Sächsischen Schweiz hat er saniert, um es als „Projektschmiede“ auszubauen. Er etabliert dort eine internationale Künstlerresidenz mit Galerie und jährlich stattfindenden Laboratorien.

Dirk Großer, Dresdner vom Jahrgang 1970, hat an der hiesigen Hochschule für Bildende Künste Malerei studiert. Seitdem ist er in diversen Genres unterwegs, arbeitet auch für den Neuen Sächsischen Kunstverein und als Ausstellungskurator. Ein Abenteurer ist er zudem und in seinem Leben weit gereist – nicht nur dorthin, wo Urlaubern die Sonne auf den Bauch scheint. In Tel Aviv dokumentierte er die Stimmung in Israel im beginnenden Golfkrieg und in der damit wachsenden Terrorgefahr. „Mein Schlüsselerlebnis war die Entschärfung eines Sprengsatzes, die ich von meinem Balkon aus beobachtete“, erzählt er. Er hat diese Erfahrung in dem Leuchtobjekt „Object Found“ interpretiert.

Großer bezeichnet sich als „kämpferischen Pazifisten“ und greift in seinen Arbeiten gesellschaftliche Verwerfungen auf, schiebt damit aktuelle Debatten an. Hat ein „Terminal der Freiheit“ eingerichtet und Freiheitskonferenzen organisiert. Nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine zeigte er in Kiew auf dem Maidan sowie in Charkiw auf dem Platz der Freiheit Performances.

Dirk Großer bei seiner Performance "Cancelled but Reevented" auf dem Maidan in Kiew.
Dirk Großer bei seiner Performance "Cancelled but Reevented" auf dem Maidan in Kiew. © Dirk Großer

Wenn er von seinem Aufbruch nach Kiew erzählt, klingt es nach einem spontanen Entschluss: „Ich habe mich ins Auto gesetzt und bin losgefahren.“ Im Handy einige Kontakte, im Gepäck eine Videokamera und im Kopf Fragen wie: Was kann Kunst im Krieg ausrichten? Kann sie heilen, Hoffnung geben? Verstärkt der Krieg den bei Künstlern ohnehin ausgeprägten Freiheitswillen?

Letztere Frage beantwortet Großer ohne Zögern mit Ja. „So, wie ukrainische Künstler im Exil ihre Arbeit bald wieder aufnahmen, bauen die Daheimgebliebenen ihre zerstörten Häuser sofort wieder auf. Auch eine Brücke, die von Ukrainern zerstört werden musste, um der russischen Armee der Weg abzuschneiden, wurde wieder instandgesetzt, als die Gefahr vorüber war. Der Lebenswille der Menschen ist ungebrochen, die Hoffnung lebt und die künstlerische Kreativität hat einen Energieschub bekommen. In schwierigen Zeiten entsteht oft große Kunst“, sagt Großer. „Alle, die ich fragte, haben gesagt: Kunst ist immer politisch, und jetzt besonders. Mit Kunst kannst du alles sagen, was sonst unausgesprochen bleibt.“ Insofern verstehe er das Schweigen vieler Künstler nicht: „Es gibt so viele Themen, wo Kunst anspringt. Aber warum gibt es so wenige, die sich positionieren?“

In der Aktion "Red Chair" porträtierte Dirk Großer Ukrainerinnen und Ukrainer vor ihren zerstörten Häusern.
In der Aktion "Red Chair" porträtierte Dirk Großer Ukrainerinnen und Ukrainer vor ihren zerstörten Häusern. © Dirk Großer

Ausgeprägter Freiheitswillen

In der Ukraine war die Offenheit enorm. Er traf auf Menschen, die ihm gegenüber nicht skeptisch waren, sondern voller Vertrauen und sehr hilfsbereit: „Sie wollen nach außen senden“, sagt Großer. „Let‘s leave it for better times“ – lass es uns für bessere Zeiten aufheben – ist der Titel seines 80-Minuten-Films. Bei der Dresdner Künstlermesse im Deutschen Hygiene-Museum wird er ihn am Wochenende zum ersten Mal öffentlich zeigen.

Dreimal fuhr der 54-Jährige in den vergangenen zwei Jahren in die Ukraine, besuchte Museen und Galerien in Kiew und Charkiw, Lwiw und Odessa. Er sprach mit Künstlern und Kuratorinnen, manchmal redeten sie auch aneinander vorbei. Großer war sein eigener Kameramann und Rechercheur, Fahrer, Schnittmeister und Tontechniker. „Das war ganz schön viel auf einmal“, bekennt er, und das merkt man dem Film auch an. Ein Filmkunstwerk zu erschaffen, war nicht das Ziel. „Ich will die Freiheitsbewegung skizzieren“, sagt er. Statt Zerstörung zu dokumentieren, zeigt er den Widerstand gegen die Invasion und gegen das Elend. Dabei verzichtete er auf einen Kommentar und ließ Künstler und Kuratorinnen nicht permanent vor zerstörten Häusern oder im Lärm einschlagender Granaten sprechen. Er traf sie im Café und im Atelier. Oder auf dem Land, wo sie in Ruhe arbeiten können und in Ausstellungen, die – wie in Charkiw – auch in Bombenschutzräumen stattfinden.

Er interviewte den Kurator einer Ausstellung im Kiewer Nationalen Historischen Museum, in der Künstler mit Hinterlassenschaften der Soldaten, also mit zerstörtem Kriegsmaterial, arbeiteten. Viele, vor allem Kunstmuseen, haben bei Kriegsbeginn ihre Schätze in Sicherheit gebracht. Aber nicht alle haben ihre Türen für Besucher geschlossen.

Den ukrainischen Künstler Aljoscha (l.), der zwanzig Jahre in Deutschland lebte, traf Dirk Großer (r.) in dessen ukrainischem Geburtsort Losowa.
Den ukrainischen Künstler Aljoscha (l.), der zwanzig Jahre in Deutschland lebte, traf Dirk Großer (r.) in dessen ukrainischem Geburtsort Losowa. © Dirk Großer

Den Bildhauer Aljoscha filmte er bei einer Performance im Krankenhaus Losowa, Aljoschas Geburtsort im Oblast Charkiw. Der Künstler kam 2003 nach Düsseldorf, hat dort studiert, Karriere gemacht. Im Krieg kehrte er in seine Heimat zurück und bringt nun seine biomorphen, farbigen Kunststoffgebilde auch in Krankenhäuser. „Dort zu arbeiten, ist für niemanden ungefährlich“, erzählt Dirk Großer. „Die Russen greifen Krankenhäuser an, von denen sie vermuten, dass darin verletzte ukrainische Soldaten behandelt werden.“

9. Künstlermesse Dresden

  • 130 Malerinnen und Grafiker, Bildhauerinnen und Fotografen sowie Künstlergruppen, Produzentengalerien und Studierende der Hochschule für Bildende Künste Dresden sowie internationale Gäste aus den Partnerstädten Straßburg und Wrocław präsentieren ihre aktuellen Arbeiten auf der 9. Künstlermesse Dresden.
  • Veranstaltet wird sie vom Künstlerbund Dresden.
  • Die Künstlermesse findet am Wochenende im Deutschen Hygiene-Museum Dresden, Lingnerplatz, statt.
  • Öffnungszeiten: Freitag von 15 bis 22 Uhr, Samstag von 11 bis 20 Uhr und Sonntag von 11 bis 18 Uhr.
  • Eintrittspreise: 10 € / ermäßigt 6 €p
  • Filmvorführung „Let‘s leave it for better times“ mit anschließendem Künstlergespräch am Sonntag, 10.30 Uhr im Marta-Fraenkel-Saal des Deutschen Hygiene-Museums.