SZ + Feuilleton
Merken

Gescheitert und doch gewonnen: Ex-Tennisprofi Petkovic mit ungewöhnlich emotionaler Dresdner Rede

Tennisprofi Andrea Petkovic spricht in ihrer Dresdner Rede über ein Leben, das jahrelang von Angst und Wut bestimmt war. Dann kam die Trauer dazu.

Von Karin Großmann
 8 Min.
Teilen
Folgen
NEU!
Was Leistungssport bedeutet, versteht man nach der Rede, die Ex-Tennisprofi Andrea Petkovic am Sonntag im Dresdner Schauspielhaus hielt, vielleicht etwas besser.
Was Leistungssport bedeutet, versteht man nach der Rede, die Ex-Tennisprofi Andrea Petkovic am Sonntag im Dresdner Schauspielhaus hielt, vielleicht etwas besser. © ronaldbonss.com

Vor anderthalb Jahren beendete Andrea Petkovic ihre Profikarriere auf dem Tennisplatz. Es ist vorbei. Nie mehr würde sie sich quälen müssen an den Grenzen der eigenen Kraft. Aber sie würde auch nie mehr den Rausch des Triumphes spüren. Das ist ihr bewusst. Das übt sie schon eine Weile. In ihrem gerade erschienenen Buch erzählt sie davon: „Zeit, sich aus dem Staub zu machen“.

Doch als sie an diesem Sonntagvormittag im Dresdner Schauspielhaus die neue Freiheit rühmen will, versagt ihr die Stimme. Frei, frei wie ein Vogel … Sie setzt neu an, atmet tief ein, stockt wieder. Es geht nicht. Sie kämpft mit den Tränen. Vielleicht ist sie mit dem Loslassen doch nicht fertig. Man macht sich leicht etwas vor. Das Publikum erlöst sie mit Beifall. Es ist der emotionalste Moment einer ungewöhnlich emotionalen Dresdner Rede. Welcher Sportler, welche Sportlerin, lässt sich so tief in die Seele schauen? Manche Erkenntnis dieses Vormittags geht über das Spielfeld hinaus.

Sieg oder Niederlage. Um nichts anderes ging es in ihrem Leben. Sieg oder Niederlage, das ist auch das Leitmotiv ihrer Rede im gut besuchten Theater. Andrea Petkovic spricht von den Verwandlungen, die sie mehr oder weniger schmerzhaft erfuhr. Die erste erlebte sie unbewusst, durch die Eltern vermittelt. Sie war sechs Monate alt, als die Familie aus Jugoslawien nach Deutschland floh. Sie verließen Heimat, Herkunft, Sprache, Freunde und versuchten sich in der Fremde neu einzurichten.

Die Wörter Aufenthaltsgenehmigung, Arbeitserlaubnis und Duldung seien die ersten deutschen Wörter gewesen, sagt Andrea Petkovic, die sie klar habe unterscheiden können von bosnischen. „Noch bevor ich gehen oder sprechen oder selbstständig essen konnte, hatte sich bereits ein dramatischer Transformationsprozess in meinem Leben abgespielt.“ Traumata können sich von einer Generation zur nächsten vererben. Die Eltern verraten sich noch immer durch ihren Akzent, sagt die Tochter. Sprache schaffe Zugehörigkeit oder Nicht-Zugehörigkeit. Sie könne Türen öffnen oder geschlossen halten.

Die Wörter Aufenthaltsgenehmigung, Arbeitserlaubnis und Duldung seien ihre ersten deutschen Wörter gewesen, sagt Andrea Petkovic in Dresden.
Die Wörter Aufenthaltsgenehmigung, Arbeitserlaubnis und Duldung seien ihre ersten deutschen Wörter gewesen, sagt Andrea Petkovic in Dresden. © ronaldbonss.com

Andrea Petkovic: "Die Häuser von Migranten haben doppelte Böden"

Am Beispiel ihrer Familie erzählt Andrea Petkovic von Erfahrungen, die vielen Migranten gemeinsam ist. „Die Häuser von Migranten haben doppelte Böden“, sagt sie. „Sie haben doppelte Böden, um Sicherheit vorzugaukeln in einer Welt, die keine Sicherheit bieten kann.“ Die Angst vor der nächsten Veränderung sei ständig vorhanden – ebenso wie die Wut auf die Ungerechtigkeit in der Welt. Während jedoch die Angst zum Bleiben und Bewahren neige, dränge die Wut hinaus, wolle Schranken niederreißen und Grenzen. Damit beschreibt Andrea Petkovic einen Widerspruch, der kaum lösbar zu sein scheint. Aus diesem Widerspruch entsteht ein explosives Gemisch. Es bedroht die Gemeinschaft. Der Mikrokosmos der Familie spiegelt sich wider im Makrokosmos der Welt, sagt die 36-Jährige. Die Welt sei im Wandel begriffen. Wut sei irrational.

Das Viereck des Tennisplatzes habe ihr in dieser Lage Halt gegeben und Sicherheit. Als sie dort begann, war sie sechs. Anfangs trainierte sie der Vater. Sie wurde zweimal Deutsche Meisterin und schaffte es einmal unter die ersten zehn der Weltrangliste. Zeitweise spielte sie für Blau-Weiß Dresden-Blasewitz in der ersten Tennisbundesliga der Damen. Wettkämpfe und die Vorbereitung auf Wettkämpfe, das war ihr Leben. Trainingseinheiten, Langstreckenflüge, Hotelfrühstücke und einsame Nächte. Dann das nächste Turnier.

Sommerurlaub war 16 Jahre lang ein Fremdwort für Andrea Petkovic. Von Januar bis Mitte November dauert das, was sie den professionellen Wanderzirkus der Tennisspieler nennt. „Man reist durch die Welt, ohne wirklich irgendetwas von der Welt mitzubekommen.“ Nur der Stadtname wechselt und die Hotelkette, die Marke des Balles, der Belag des Platzes. Die Maße bleiben immer die gleichen: 23,77 Meter Länge und 10,97 Meter Breite. Sieg oder Niederlage. Wer verliert, ist raus. Bis zum nächsten Mal. Aber dann!

Andrea Petkovic im Mai 2022 bei einem Tennisspiel für den Dresdner TC Blau-Weiß Blasewitz.
Andrea Petkovic im Mai 2022 bei einem Tennisspiel für den Dresdner TC Blau-Weiß Blasewitz. © www.loesel-photographie.de

Was Leistungssport bedeutet, versteht man nach dieser Rede vielleicht etwas besser. Die einstige Profispielerin beschreibt eine Parallelwelt, in der die permanente Fortentwicklung zur Norm erhoben wird: schneller, höher, weiter. Transformation ist Pflicht. Stagnation der Untergang. Schon eine Nacht schlechten Schlafes kann am nächsten Tag den Sieg kosten. „Es war eine Hochperformancewelt, die keine Schwäche erlaubte.“ Die Regeln seien überschaubar und klar. In diesem System könne der Mensch nur steigen oder sinken wie eine Aktie. Mitleid sei darin nicht vorgesehen. Andrea Petkovic beschönigt nichts, wenn sie von ihrem eigenen Platz in diesem System spricht. Denn einige Male kommt sie tatsächlich oben an.

Die irrationale Wut, die so viel Energie kreiert und zum Überwinden von Grenzen drängt, hat sie weit gebracht. Sie gehört zu den besten Tennisfrauen der Welt. Doch damit geht die Sicherheit flöten. Die Rivalinnen sind überall. Und manche sind besser. In ihrem neuen Buch beschreibt Andrea Petkovic, wie sie ihre Mitspielerinnen analysiert: Sie sind nicht talentierter, geschickter und willensstärker. Sie haben nicht die besseren Ärzte. Sie trainieren nicht härter. Was macht sie dann zu Siegerinnen? Wie in einem Tunnel fokussieren sie sich nur auf das Spiel. Sie folgen ihrem Instinkt. Das, meint Andrea Petkovic, habe ihr gefehlt. „Niederlagen wegzustecken wurde meine Spezialität.“ Danach habe sie sich jedes Mal ins Hotelzimmer verkrochen. Sie sei der Hamster gewesen im Tennisrad und habe gedacht, sie sei der Panther. „Ich war nie die Nummer eins der Welt gewesen.“

Mit Willenskraft bringt Andrea Petkovic ihre Dresdner Rede nach nur knapp 40 Minuten zu Ende.
Mit Willenskraft bringt Andrea Petkovic ihre Dresdner Rede nach nur knapp 40 Minuten zu Ende. © ronaldbonss.com

"Abnutzungskrieg mit meinem Körper"

Auf der Höhe des Ruhms erlebt sie den nächsten Transformationsprozess. Sie nennt ihn „den vielleicht verheerendsten des Lebens“. Die anderen werden nicht nur besser. Sie werden jünger. „Mit jedem Spiel, das ich spielte, mit jeder Trainingseinheit, die bloß eine weitere Kerbe im Abnutzungskrieg mit meinem Körper war, mehrten sich die 16-, die 17-, die 18- und 19-Jährigen am Horizont, zuckende, schemenhafte Gestalten, die mehr und mehr wurden und nur darauf warteten, mich zu verdrängen.“ Niemand spüre das Altern so sehr und so früh wie eine Sportlerin, sagt Andrea Petkovic. Sie erzählt, wie ihr Körper immer mehr abbaute, wie sie langsamer wurde, wie sich die Verletzungen häuften und die Regenerationsphasen länger dauerten.

Das System, das sie sich aufgebaut hatte, begann zu bröckeln. Sie hatte alle Stufen durchlaufen, die zu einer Sportlerkarriere gehören: Als Teenager war sie „die nächste große Hoffnung“ gewesen. Mit 20 galt sie als „etabliert“. Nun mit Anfang dreißig wurde sie als „Veteranin“ gehandelt. Sie gehörte zum alten Eisen. Aber: „Tennisspielen war nie eine Karriere für mich. Es war mein Leben, meine Identität!“

Andrea Petkovic erzählt, wie plötzlich die Angst wiederkam, jene Angst, die sie schon von ihren oft besorgten Eltern kannte: „Ich hatte Angst alles zu verlieren, was ich mir aufgebaut hatte. Die Sicherheit und die Zugehörigkeit, das Sich-Zu-Hause-Fühlen an einem Ort, der ständig um die Welt reist.“ Sie habe sich dagegen gewehrt, habe gegen das Alter gekämpft und für jede Niederlage eine Ausrede gefunden. Letztlich habe sie sich gefühlt „wie ranziger Joghurt“. Das Verfallsdatum war erreicht.

Nun sei zu Wut und Angst etwas Neues hinzugekommen: die Trauer. Andrea Petkovic beschreibt, wie sie allmählich das Leben in seiner Abfolge der Jahre begreift. Sie versucht, Veränderbarkeit als Konstante zu akzeptieren. Das Leben sei komplexer, da gehe es nicht nur um Sieg oder Niederlage. Diesmal wollte und konnte sie den Zeitpunkt der Veränderung selbst bestimmen, das letzte offizielle Spiel, das letzte Turnier. Bei den US open im August 2022 in New York gab sie das Ende ihrer Karriere bekannt.

"Wir müssen nur lernen loszulassen“

In einem Interview erzählt sie, wie sie sich danach sofort in neue Aufgaben stürzte, moderierte und kommentierte und jeden Auftrag annahm, den sie kriegen konnte. Sie schreibt einen Tennisblog, verfasst Kolumnen für die Zeit, den Spiegel, die Süddeutsche Zeitung, arbeitet als Sportanalystin für einen US-amerikanischen Tennis-Kanal. Jetzt sei sie zwar zu alt für den Sport, aber jung fürs Leben. „Entkommen und angekommen. Versucht, gescheitert und doch gewonnen. Festgehalten, losgelassen und nun befreit.“ Es ist diese Stelle, an der ihr im Theater die Stimme versagt. Mit der Willenskraft, die sie immer auch hatte, bringt sie ihre Rede nach nur knapp vierzig Minuten zu Ende: „Transformationen können fruchtbar sein. Wir können sie fruchtbar machen. Wir müssen nur lernen loszulassen.“

Die Reden-Reihe wird in Kooperation von Sächsischer Zeitung und Staatsschauspiel Dresden veranstaltet.

Der luxemburgische Politiker Jean Asselborn, der kürzlich als dienstältester Außenminister der EU verabschiedet wurde, setzt in diesem Jahr den Schlusspunkt. Die Tickets für nächsten Sonntag sind ausverkauft. Restkarten an der Tageskasse.